Mittwoch, 7. November 2007

Faded away

Hmm, tja, wenn man’s wüsste …
Amazon.de erzählt mir gerade, die CD „Electric Medicine“ von Greg Sage sei am 10.10.2007 erschienen, und will sie einem als (teuren) Import besorgen. In vier bis sechs Wochen. Es ist das erste Mal, dass es von diesem Album in Deutschland überhaupt ein Lebenszeichen gibt. Nett gemeint, Amazon, aber ich bleibe weiter skeptisch.
Auf diese Platte wartet die Welt nämlich seit langem vergeblich. Es wird allenthalben in den Katalogen behauptet, sie sei 2002 erschienen, aber offenbar ist sie nie irgendwo aufgetaucht außer in eben diesen Katalogen. Beim Endverbraucher kam sie jedenfalls nicht an, Greg Sages Website weiß nichts von ihr. Der gute Greg hatte mal fallenlassen, dass er an dem Projekt, seiner dritten Solo-Platte, arbeite, und das muss so im Jahr 2000 gewesen sein, kurz nachdem er seine letzte Wipers-Platte „The Power in One“ fertiggestellt hatte.
Danach setzte er sich offenbar mit seinen Hündchen auf die Veranda, blickte jahrelang in Nachbars Kirschbaum und schaukelte und schaukelte, während seine Gitarre drinnen im Haus verstaubte und verstimmte und schließlich ganz verstummte.
Mann, das ist verdammt schade, Greg. Der Vordenker und Gitarrenmaestro der legendären Wipers ist wohl einfach irgendwie verblasst und hat das Interesse vollständig verloren. Na gut, es passt wohl auch zu ihm: anti-kommerziell bis ins Mark, ein Punkrocker der etwas anderen Sorte, der 1977 in Segeltuchschuhen, Flanellhemd und Jeansjacke antrat, als „Punk“ gleichbedeutend war mit Stachelfrisur und Sicherheitsnadel in der Backe. Damals hat man ihn deswegen nicht recht ernst genommen, etwas später waren diese Art von Punks ein Synonym für Haste-mal-ne-Mark-Penner, während der Wipers-Look sich durchsetzte und die Band zum herausragenden Vertreter der Strömung aufstieg. Aber Greg Sage scherte sich natürlich nicht um irgendeinen Look, er kommunizierte ausschließlich über die E-Gitarre mit der Gesellschaft und erwies sich dabei als anrührender Autist. Ein irgendwie kreativ Gestörter, der statt eines Soundchecks vor Konzerten die Gitarre anstöpselte, sie voll aufdrehte und gleich neben die Box stellte, um dann minutenlang hockend oder im Schneidersitz den Rückkoppelungen zu lauschen, die aus dem Equipment pfiffen. Welche Erkenntnisse er daraus bezog, erfuhr man nicht, aber man konnte darauf hoffen, irgendwas davon auf dem nächsten Studioalbum zu hören. Dabei konnte man noch froh sein, ihn überhaupt mal live zu sehen, denn die Wipers waren ursprünglich vorgesehen als reines Studio-Projekt. Ein Angebot von Kurt Cobain, die extrem erfolgreichen Nirvana auf einer US-Tour zu begleiten, lehnte Sage dankend ab. Er wäre dadurch möglicherweise doch noch zum Star geworden. Nee, kein Interesse, Kurt. Übernimm du diesen Part mal.
Schlicht und einfach: Die Wipers waren die beste und verzehrendste Punkband, die es jemals gab. Sage transformierte und ziselierte sein Trio über die Jahre hinweg von der zornigen Druck- und Dresch-Kombo zur dunkel swingenden, traurigen, urbanen Bluesband, die den Punkrock zu existentialistischen Hall-Geräuschen mystifizierte. SPEX meinte gegen Ende der 80er treffenderweise mal, die Songs seien "große, schlingernde Kähne". Die zweite 80er-Hälfte der Wipers war wie ein heraufziehendes Gewitter, das auf seine Entladung wartete, die 90er eine mystisch wispernde Riff-Dekade mit lediglich drei Alben und einer einzelnen schwebenden Solo-Platte von vollendeter Schönheit. Dunkel-schlammiger Urgrund, aus dem heraus klirrend kalte Melodiebögen gen Himmel abgeschossen wurden. Wunderwerke für gestählte Gehörgänge, denn selbst Greg Sages traurigste Ballade war laut, laut, laut, und selbst die strukturell poppigsten Songs waren mit einem ungeheuren Soundbrett verstärkt. So entstanden unverschämte Kontraste: hochsensible Songs mit bunkerdicken Wänden. Sage paraphrasierte stets den Zusammenhang und Widerspruch zwischen Welt und Universum und Individuum, nach außen gedröhnte Verinnerlichungsstrategie. Seine Alben sind die größten Schätze, die die Plattensammlung eines Mystikers beherbergen kann.
Und dann sollte „Electric Medicine“ kommen, aber es kam nie.
Irgendwie ist Greg Sage offenbar selbst zu einem Echo in seinem Hall-Universum geworden. Wir werden seiner gedenken und seine Platten weiter rauf und runter hören. Und, tja, wer weiß? Vielleicht ist diese angebliche Publikation von „Electric Medicine“ ja doch keine Ente. Es wäre jedenfalls zu schön, um wahr zu sein. Diese Sache muss dringend recherchiert werden, also einfach mal bestellen, das Ding, und gucken, was passiert.

Samstag, 3. November 2007

Michel verbieten!

Da zappe ich gestern am Kinderkanal vorbei und bleibe hängen. Es war Michel aus Lönneberga, einer der episodischen 90-Minüter. Lange nicht mehr gesehen. Und ich war von dem, was ich da zu sehen bekam, ehrlich entsetzt. Man müsste diese Filme eigentlich verbieten.
Es ist Sommer, Michel ist schon im Schlafrock und spielt mal wieder einen Streich. Der Vater jagt ihn in den Schuppen. Der Junge macht nun Folgendes: Erst spannt er einen Holzklotz in eine Klemme, sägt mit einer riesigen Säge ein passendes Stück davon ab, greift sich sein mordsmäßig scharfes Schnitzmesser und beginnt damit, ein Männchen zu schnitzen. Erst im Stehen, danach setzt er sich hin, schiebt seinen Schlafrock etwas hoch und klemmt sich den Klotz zwischen die nackten Beine. Und schnitzt mit einigem Kraftaufwand fröhlich weiter, dass die Späne fliegen, das lebensgefährliche Messer immer nur Zentimeter von Fingern oder Beinen entfernt. Und sauber ist dieses Messer erst recht nicht. Was da Keime drankleben müssen!
Es ist mir damals als jugendlicher Zuschauer wohl nicht so aufgefallen, aber heute weiß ich: Es ist skandalös. Womöglich macht noch ein Kind das nach. Setzt sich in seinem Zimmer unbeobachtet halbnackisch hin, greift sich ein gefährliches, womöglich sogar dreckiges Messer aus Papas Kellerkiste und schnitzt an irgendeinem Klotz herum, den es zuvor aus seiner Kinderzimmerschrankwand gesägt hat. Wenn seine Mami ins Zimmer kommt, platzt ihr vor Schreck eine Herzkammer.
Es gibt viele weitere solcher Szenen in dem Film. Brisante Schlittenfahrten ohne Fahrradhelm. Sprünge aus zwei oder mehr Metern Höhe ins Heu. (Kann da nicht mal jemand nachsehen, ob eventuell noch die Heugabel da drunter liegt, Menschenskind?) Hautenger Kontakt mit einer Vielzahl unsauberer Tiere. Ungesunde Speisen mit viel zu viel Fett. Dazu essen mit den Fingern, ohne vorheriges Händewaschen. Überhaupt ist die Körperhygiene nicht optimal. Es gibt nur dieses leichtfertige Schwimmen in einem tiefen Gewässer, und das bei einbrechender Dunkelheit. Ungesicherte Turnereien auf einem 1,50 Meter hohen beweglichen Gatter. Als der Junge seinen Kopf in der Suppenschüssel stecken hat, haut die Mutter mit dem Schürhaken drauf. Mit dem Schürhaken! Als nach einer Schlittenfahrt der Knecht das schwere Gefährt die Steigung hochzieht, schiebt der Junge angestrengt von hinten. Würde der Knecht auf dem glatten Grund ausrutschen, dann würde der Schlitten nach hinten wegflitzen und den Knaben mit den Kufen überfahren. Mit den Kufen!
Dazu verschwindet der Junge regelmäßig stundenlang im Wald, ohne Handy und alles.
Mann, Mann, Mann. Ich weiß wirklich nicht, ob man diese Filme heute noch zeigen sollte. Hohes Gefahrenpotenzial. In den USA wäre der Kinderkanal nach der Ausstrahlung sofort verklagt worden. Eventuell ginge es mit einer Dauereinblendung: „Dies zu Hause bitte nicht nachmachen!“