Grenzgebiet. Der Fluss macht hier einen ziemlich deutlichen Knick, und mitten durch den Fluss verläuft die Grenze zu Luxemburg. Also macht die Grenze den Knick mit, und wenn mal jemand aus dem Tal der Ahnungslosen, also aus Köln zum Beispiel, fragt: „Mein Gott, wo ist das denn?“, dann kann ich im Fall einer zufällig gerade vorliegenden Deutschlandkarte genau auf den Knick zeigen und sagen: „Da!“.
Ich stehe neben dem Bier- oder Bratwurst-Stand auf dem Pfarrfest und wärme mit dem einen oder anderen alten Bekannten Kindheitsgeschichten auf. Einer stellt mich seiner Tochter vor und fragt sie, ob sie denn wisse, wer ich bin. Das Mädchen verneint. Also erzählt er die Kurzfassung unserer gemeinsamen Jugend, und das Mädchen wird ungeduldig, unterbricht und bittet darum, wieder zu seinen Freundinnen zurückzudürfen. Wunsch gewährt, wir sind ohnehin mordslangweilige Typen. Von uns kannst du nichts mehr lernen, Mädel.
Unsere Generation damals hat das Wegbrechen der traditionellen Land- und Forstwirtschafts- und den Schwenk zur Dienstleistungsgesellschaft erlebt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Damals war man noch zu sehr damit beschäftigt, die Kindheit auf dem Bauernhof möglichst für selbstverständlich zu nehmen. Wir wussten es nicht besser. Wir hatten ja keine Ahnung, wie armselig die Kinder in der Stadt so großwerden mussten. Kein Kuhumtrieb, keine Turnereien auf dem Heuboden, keine aufregenden landwirtschaftlichen Geräte, kein Traktorfahren, keine Fahrradakrobatik auf völlig autofreien Straßen, kein Studium an Kadavern überfahrener Kleintiere, keine Geheimverstecke auf dem stillgelegten Bahndamm oder in gesprengten Westwall-Bunkern und keine Bindung an die Natur und ihre Abläufe. Urlaub? Hatten wir nicht nötig, denn wir hatten genug unentdecktes Land um uns herum zu erforschen. Jahrelang. Es gibt bis heute Gegenden in der unmittelbaren Umgebung, die ich noch nie betreten habe. Aber wie es so geht: Die Bauern hatten letztendlich keine Erben und gaben die kleinen Betriebe nach und nach auf. Acker- und Weideland ging durch Pacht oder Verkauf in die Hände luxemburgischer Großbetriebe über. Andere Schollen wurden zu Neubaugebieten deklariert und von Banken aus dem Bitburger Raum erschlossen. Die Nebenerwerbslandwirte gaben als erste auf oder starben einfach weg.
Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich die Jugend wahr, die hier beim Pfarrfest mitmacht und herumsteht und trinkt und palavert. Von einigen der jungen Leute weiß ich, zu wem sie gehören, von anderen nicht, aber zu keinem von ihnen habe ich jemals nennenswerten Kontakt gehabt.
Ich war auch mal so alt wie die heute, fällt mir ein, war auch mal Einwohner dieses Dorfs, zu Zeiten der Heubodenromantik, Mitglied der Gemeinde, Vorleser in der Kirche, habe bei der sakramentalen Wandlung gekniet und innige Zwiesprache gehalten mit dem, von dem alle behaupteten, dass es da vorne göttlich herumwabere. Mitglied dieses einen Musikvereins war ich, dessen legere Uniform die jungen Leute heute tragen. Alle sind sie sehr selbstbewusst, alles ist ihnen selbstverständlich, sie sind stattliche, moderne Erscheinungen. Sogar ein paar Piercings sind zu bewundern, eventuell hat dieser oder jener von ihnen ein schickes Tattoo, und dieses eine Girlie da sieht mir ganz danach aus, als trüge es ein Arschgeweih. Es ist jedoch zu kalt, es offen zu zeigen und meine Vermutung zu bestätigen.
Sie alle reden über die Dinge des Lebens und die Angelegenheiten des Dorfs, als seien sie ein Teil von ihm, als hätten sie jetzt schon oder zumindest bald hier was zu sagen. Tja, und das trifft ja wohl auch zu, irgendwie. Einige von ihnen sprechen den Dialekt nicht mehr, sondern Hochdeutsch. Sie sind hier ganz selbstverständlich aufgewachsen, kuschelig behütete Kinder der Dienstleistungsgesellschaft, allzeit mobil und in einem Elternhaus, das in einem Neubaugebiet steht, das damals Wiese war. Eine Wiese, auf der wir zu unserer Zeit Schlitten gefahren sind oder Kühe gehütet haben. Auf der wir brandgefährliche, verrostete WK-II-Munition gefunden haben, die jemand von uns – ich weiß noch, wer – einfach mal abfackeln wollte, um zu schauen, was wohl passiert.
Sie kannten nicht den Grundschulleiter Herrn Schleimer, keinen autoritären Pastor mit Habichtnase, sondern sind nur vertraut mit diesen teigigen, modernen Priestern in ihrer verständnisvollen Weichheit. Die spricht man nicht mehr mit einem ergebenen „Herr“ an; bestenfalls tun das noch die rosenkranzratternden Bet-Omas, aber auch die sterben langsam aus. Heute fungieren Mädchen als Messdiener, die Töchter jener übrigens, die zu meiner Zeit selbst Messdiener waren und die bloße Idee von Mädchen vor dem Altar für lächerlich hielten. Die Messdienerei damals war das autoritärste Milieu, dem ich bis heute begegnet bin; selbst die Bundeswehr war humaner, aber das war wohl eine Frage des jeweiligen Alters und des eigenen Umgangs mit dem Milieu. Wir Messdiener wurden von einem Pfarrer alter Schule gebrieft und getrietzt und auch schon mal angeschrien und zur Sau gemacht, und untereinander gab es eine ziemliche Hackordnung. Nach der Erstkommunion war man dieser erzwungenen Ordnung ausgeliefert, die Vorstellung, sich dem zu verweigern, überstieg den damaligen Horizont. Und wenn man, im Gegensatz zu allen anderen Buben, in die große Stadt aufs Gymnasium ging, glaubten die, man hielte sich nun für etwas Besseres – auch wenn man sich gar nicht so verhielt – und müsse zurechtgewiesen und untergebuttert werden. Sie waren natürlich nicht mal ansatzweise in der Lage zu begreifen, dass sie selbst es waren, die sich da gerade für was Besseres hielten. Es sei ihnen verziehen. Heute sind sie dafür alle dick.
Die jungen Leute, die jetzt im Musikverein spielen und sich engagieren, kennen Herrn Fürst vermutlich nur noch vom Hörensagen. Über lange Jahrzehnte war er Herz und Seele dieses Vereins. Generationen von Dorfmusikanten verdanken ihm ihre Ausbildung. Mag sein, dass die älteren der Jungen ihm noch begegnet sind, aber erlebt haben sie ihn gewiss nicht mehr. Für Herrn Fürst war ich damals ein Hoffnungsträger, der in diesem Verein etwas werden sollte. Alle beteiligten Instrumente sollte ich lernen, alles spielen können. Er erkannte in mir ein Talent, das ich vielleicht sogar irgendwo tief drinnen tatsächlich mal besaß. Herr Fürst hatte da ein Auge für und wollte mich zu einer Stütze seines Vereins machen. Jahr um Jahr kam ich freitagabends früher zur Probe, weil ich ihm half, all die Instrumente zu stimmen; es waren sicher dreißig Stück oder mehr. Jahr um Jahr arbeiteten Herr Fürst und ich allein im halbdunklen Saal vor: Saiteninstrumente stimmen und über tausend unwichtige Dinge quatschen. Der alte Mann und der hoffnungsvolle Zögling. Ich klinkte mich jedoch letztlich aus, weil ich zu faul war, aber hauptsächlich wohl deswegen, weil ich zu pubertären Zeiten erkannt hatte, dass es doch nicht meine Welt war, dieses Vereinsleben. Ich war inzwischen offenbar doch zu sehr Gymnasiast geworden und hatte mich von der Dorfgesellschaft entfernt. Ich habe dem alten Herrn den Gefallen getan, so lange aktives Mitglied im Verein zu bleiben, wie er am Ruder stand. Danach betraten andere die Brücke und ich verkrümelte mich. Die Jungmusiker von heute wissen bestimmt kaum noch etwas von Herrn Fürst, seiner Leidenschaft, seinem Aufbrausen, seiner Engelsgeduld, seinem Hinkebein und den Schmerzen, seiner Dickköpfigkeit, seinen Ehrennadeln und seinem hohen Ansehen, seinen gefürchteten Autofahrkünsten und den Blutschweißundtränen, die wir Mitfahrer oft ausstanden, wenn wir mit ihm in seinem Mercedes zu Konzerten düsten und schleuderten. Ihm wird ein ehrendes Andenken bewahrt, da bin ich völlig sicher, aber das ändert nichts daran, dass er für die jungen Musikanten heute nichts weiter mehr ist als ein schemenhafter Umriss. Und die jungen Vereinsmusiker kennen mich, den Ex-Hoffnungsträger, nicht mal mehr und taxieren mich merkwürdig. Wer weiß, was ihre Eltern, meine Altersgenossen, ihnen über mich erzählt haben. "Seltsamer Kauz", "Eigenbrötler". Sofern sie überhaupt etwas erzählt haben. Das macht jedoch nichts, denn ich habe es so gewollt.
Die Jugend hat auch die alten Originale nicht mehr parat. Meinen Großvater zum Beispiel, verstorben 1995 und in den Jahren zuvor nur noch ein Schatten seines alten Selbst, den die Jugend bestenfalls noch vage als „den Neckel“ in Erinnerung hat. Er neigte nicht zum Hochdeutschen und sprach mit meiner Freundin, damals in den frühen Jahren unserer Beziehung, natürlich Dialekt. Die Großstadtpflanze verstand kein Wort, mochte diesen gutaussehenden, kantigen alten Mann mit den völlig unpassenden, aber bequemen Turnschuhen nichtsdestotrotz spontan. Wenn jemand wie er lächelte, dann meinte er es auch so. Er war ein vitaler Teil der alten Bauerngesellschaft, er hatte den größten Hof im Dorf, und jahrzehntelang war er CDU-Bürgermeister der Gemeinde gewesen und hatte demzufolge häufig Kommunikation mit höheren kommunalen Ebenen pflegen müssen. Er besaß auch die Ehrennadel des Landes Rheinland-Pfalz. Soll heißen: Er sprach zwar irgendwie nie richtig Hochdeutsch und roch sehr angenehm nach Stall, war aber durch seine offizielle Position vergleichsweise weltläufig. Und kaum einer erinnert sich daran, dass bei seiner Beerdigung Unerhörtes geschah: Der Pastor, ja, der alte schwarze Habichtnasen-Diktator, fing in der Predigt, in der er die Lebensleistung des Verstorbenen beschrieb, mit dem Heulen an. Er fasste sich schnell wieder, aber das hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten: dass dieser Mann zu solchen Gefühlsregungen fähig war! Er hatte Jahrzehnte mit meinem Opa in der Gemeinde zusammengearbeitet und gestritten, wie Don Camillo und Peppone, mit dem Unterschied jedoch, dass mein Opa kein Kommunist war, sondern wahrscheinlich noch schwärzer als der Herr Pfarrer.
Nun stelle man sich andere alte Männer vor, zehn Jahre mehr auf dem Buckel als mein 1908 geborener Opa, die in meiner Kindheit schon uralt und niemals aus diesem Dorf herausgekommen waren – und es auch nie wollten. Sie saßen auf Bänken vor ihren alten Bauernhäusern, hielten Hochdeutsch, Filterzigarettenraucher und Frauen ohne Kittelschürze für eine Verirrung der modernen Welt und wollten stets gegrüßt werden, wenn man an ihnen vorbeikam. Wenn man es nicht tat, wurde man zurückgepfiffen und musste es nachholen und kam sich vor wie auf dem Kasernenhof. Leute wie der alte Biesdorf, der, so hieß es, enorme Angst vorm Sterben hatte (und es dann doch irgendwann tat), Leute wie der alte Ziwes oder Markus’ Opa, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Für mich sind sie heute schattenhafte Gestalten, alte Bäume mit runzliger Rinde, die da irgendwo im Nebel stehen und vor denen man immer noch ein bisschen Angst hat. Wenn ich auf Besuch bin und die Dorfstraße bis zum Fluss runtergehe, erwarte ich manchmal, den alten Biesdorf mit seinem Zigarrenstummel unterm Schnurrbart da auf der Bank sitzen zu sehen, und bereite mich darauf vor, ihn zu grüßen. Die Bank ist noch da, der alte Biesdorf indes fehlt.
Die Jugend von heute kennt ihn und seinesgleichen nicht mehr. Auch nicht die alte Frau Schatten und ihren stillen, weißhaarigen Herrn Gemahl. Frau Schatten gab Kindern für kleine Handlangerdienste stets ein Fünf-Pfennig-Stück und befahl: "Kauf dir ein Eis!" Dabei schaute sie so grimmig drein, dass man sich nicht getraute zu stammeln: "Aber ein ... ein Eis kostet zehnmal so ... viel, Frau Schatten!" Als es in den Siebzigern zu einer spektakulären Sonnenfinsternis kam, lud uns Frau Schatten - nomen es omen - auf ihren hochgelegenen Balkon ein und schwärzte uns über einer Kerzenflamme eigenhändig Glasscherben an, durch die wir das Ereignis beobachten konnten. Heute natürlich undenkbar. Die Kuschelpädagogen würden den Balkon stürmen und Frau Schatten von selbigem werfen und etwas von "irreparablen Netzhautschäden!" brüllen. Eine Menge derjenigen Kinder, die damals auf diesem Balkon standen, tragen übrigens bis heute keine Brille.
Die Dorfjugend verbindet auch nichts mehr mit dem Mädchen namens Stephanie, das mit dem behinderten Arm, das nach einem Unfall mit dem selbstgebastelten Skateboard starb. Oder mit der netten flachsblonden Christa, die in der Probe und bei Konzerten immer vor mir saß – und die mit 27 dem Krebs erlag. Sie wissen auch nichts mehr von meinem Grundschulfreund aus dem Nachbardorf, den eine amerikanische Soldatin mit dem Motorrad plattfuhr, von dem Mädchen aus dem anderen Nachbardorf, das sich an einer Schaukel erhängte. Oder dem kleinen Mädchen vom Bauernhof gleich an der Bundesstraße, das dort totgefahren wurde. Oder dem dicken, dicken Blutfleck, den ein verunglückter Mofafahrer Jahre zuvor eben dort hinterließ und der noch Monate danach zu sehen war. Wissen nichts mehr von den richtig großen Dorffesten in den richtig großen Festzelten auf der Wiese unten an der Bundesstraße und dem abgesperrten Bar-Bereich, in dem die Dorfmänner die harten Alkoholika zu sich nahmen, während sie glasigen Blicks Fotos von nackten Frauen musterten, die jemand aus der „Neuen Revue“ ausgeschnitten und dort angepinnt hatte. Vielleicht kam es, davon inspiriert, nach dem Festabend zu Hause sogar zu irgendwelchen Sauereien zwischen Eheleuten. Es waren schließlich die Siebziger.
Die Jugend kennt nicht mehr die total bekloppte Weiberfastnacht, während der die properen, katholischen Landfrauen derart austickten, dass wir Kinder Angst vor unseren eigenen Müttern bekamen, diesen durchgeknallten Seventies-Chicks. Sie verbindet natürlich auch nichts mehr mit meinem triumphalen Sieg beim Kindermaskenball - als Ölscheich. Mann, habe ich unter dieser fiesen Maske geschwitzt! Man konnte den ersten Preis auswählen: eine RiesenschachtelMon Cherie oder das Kinderbuch „Bommy will nach Indien“, die Geschichte eines im Zoo geborenen Tigerkinds, das in die Heimat seiner Eltern ausbüchst. Ich nahm Bommy und galt spätestens ab da im Dorf als Intellektueller.
Die jungen Leute haben keine Ahnung mehr von dem kleinen Postbüro in der Dorfmitte. Manche erinnern sich womöglich nicht mal mehr an den Tante-Emma-Laden gleich daneben, geschweige denn an den früheren Laden weiter oben im Dorf. Und von der alten, unwirschen, irgendwie tragischen Frau Zimmer und ihrer heruntergekommenen Kneipe haben sie auch keine Vorstellung mehr. Und dass sich durchs Unterdorf einst eine Eisenbahnbrücke spannte und wir Bengel und Bengelinnen noch lange nach der Bahnstillegung darauf herumgeturnt haben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass man auf zwei Seiten sieben Meter tief fallen und sich auf dem Kopfsteinpflaster unten die Birne oder das Kreuz zerdeppern konnte. Undenkbar heute im Zeitalter der Kinderpsychenfrüherkennung und der Gefahrenabwehr.
Wie viele von den Jungdörflern haben zudem wohl Bodos monumentale Dorfchronik aus dem Jahr 1988 studiert und die Routen abgewandert, die der Autor beschrieben hat? Keine rechte Idee haben sie auch mehr von Mätti, dem Stalingrad-Überlebenden, einer Seele von Mensch und ganz sanft und höflich, aber berüchtigt dafür, unter Alkoholeinfluss so richtig vom Leder zu ziehen und die Geschichte seines persönlichen "Soweit die Füße tragen" zum Besten zu geben. Oder der asoziale Fuzzy, der im stillgelegten Bahnhof hauste mit seiner inzestuösen Kelly-Family-Sippe und den dreckigen Killerkötern ... Ach je.
Dann jedoch, während ich so gedanklich vor mich hin klage über das unverschämte Selbstbewusstsein und die gleichzeitige Unwissenheit der Jugend, werde ich von schräg hinten links Zeuge der Gespräche zwischen ein paar älteren Mitbürgern, die sich zusammengerottet haben, solche, die zur Generation meiner Eltern gehören oder sogar noch älter sind. Das, was sie sich erzählen und aufwärmen, sind für mich böhmische Dörfer. Ich bin fassungslos. Ich kenne kaum einen der Namen, die fallen, nicht mal die Örtlichkeiten. Ich versuche zuzuhören, aber ich verliere schnell den roten Faden. Mir kommt ein schlimmer Verdacht: Könnte es tatsächlich sein, dass mein eigener Grad der Unwissenheit mindestens genauso hoch ist wie der der Jugend?
Tante Ilse und ihre Cousine Rosemarie sind also damals mit zwei Ochsen über die Wiesen gezogen, hatten eine Heidenangst vor den Riesenviechern und waren doch todtraurig, als die Tiere vom Schlachter abgeholt wurden und der eine von der Pritsche herab noch einmal wissend mit den Augen rollte? Herrje, woher sollte ich solch traurige Geschichten kennen? Tante Ilse wohnt seit Ewigkeiten in Trier, Rosemarie bei Hamburg. Meine Mutter wurde einmal beim Kühehüten durch die Explosion einer Mine vom Zaun gefegt? O weh, das war mir neu. Eine ihrer Kühe war auf die alte Westwall-Mine getreten. Und wer ist wohl dieser mysteriöse Mann namens Hans, von dem manche noch reden und der mit meinem Vater auf den alten Fotos um die Wette posiert, an jedem Arm mindestens ein Fifties- oder Sixties-Girl, und der später nach Miami auswanderte? Ist der heute womöglich immer noch so cool? Hat er sich so gut gehalten wie sein offenkundiges Vorbild Peter Kraus? Und überhaupt: Wer sind denn diese immer neuen Mädels am Arm meines noch so jungen Vaters, meine Mutter jedenfalls ist nicht darunter! Und kann es wirklich sein, dass der nette Onkel Alfons, der heute stets von seinem tollen Smart, dem Live-Fußball auf Premiere und seinem Hochgeschwindigkeitsinternet berichtet, damals so ein heißer Feger war, dass kaum ein Fifties- oder Sixties-Girl sich seiner erwehren …? Und waren Tante Mathilde und Rosemarie tatsächlich mal kickelnde Hippies in einem blumenbeklebten VW Käfer? Und wie war das mit diesem schicken Cousin meiner Mutter, zugleich bester Freund meines Vaters, der bei diesem Scheißunfall zur Wehrdienstzeit umkam, kurz nach seinem Vater, einem Straßenarbeiter, der einer Sprengung zum Opfer fiel …
Die Geschichten werden immer spektakulärer und unglaublicher ...
Das Klagen hilft nichts, bemerke ich bei einem Blick in mein fast leeres Bier, und verdränge all die verwirrenden Details, die sich tummeln. Es sind die Zeitläufte, die elendigen. Die Generationen geben sich nun mal die Klinke in die Hand, und dabei bleibt jedes Mal ein bisschen was Banales, Unwichtiges zurück draußen im Nebel. Und das bisschen formiert sich irgendwann zu dem, was Vergangenheit ist, im besten Fall auch Erinnerung. Und dann stirbt es irgendwann weg mit jenen, die mal Teil davon waren. Es ist wahrscheinlich der Alkohol, der jetzt in meinem Kopf eine Stimme sprechen lässt, die sich verdächtig nach Rutger Hauer anhört und die so gar nicht in diese Pfarrfest-Kulisse zu passen scheint: "All diese Momente werden verloren sein in der Zeit." Ja, danke, Rutger, alter Replikant, dass du dich einmischst, aber werd nicht gleich pathetisch. Da kann man einfach nix gegen machen. Zeitläufte eben.
Ich trinke jetzt noch mein Bierchen aus, verabschiede mich mit einem Nicken in die Runde und gehe die alten Pfade bis zu unserem Haus hinunter. Der Weinberg, durch dessen Reihen man eine bequeme Abkürzung hätte nehmen können, ist längst nicht mehr da. Heute ist alles Wiese und eingezäunt, und es stehen schlafende Ponys drauf. Also ganz hintenrum, wo schon der Nebel aus dem Tal aufsteigt und die Käuze schreien.