„Saal“ ist der etwas euphemistische Ausdruck für den Veranstaltungsraum im ersten Stock des Gasthauses Fürst. Hier wurden seit jeher Tanzveranstaltungen abgehalten, und der Raum ist der Stützpunkt des Mandolinenorchesters, das hier seine Instrumente lagert und probt. Es gibt eine vollausgestattete Theke zum Getränkeausschank, eine schmale Bühne mit Klavier und Platz für einen Alleinunterhalter mit Quetschkommode oder eine sehr kleine, rein funktionale Band, die keinen Wert auf Bühnenshow legt. Davor ist eine Tanzfläche mit Parkettboden. Weiter durch, unter der tiefen Decke, stehen Tischreihen und Bänke. Geheizt wird mit einem Ofen. Hier in diesem höhlenartigen Raum haben unsere Väter einst ihre neuen Pomadefrisuren und Lederjacken zur Schau getragen und haben unsere Mütter in den Armen der Ted-Herold-Klone ihre Petticoats kreisen lassen.
Hier findet auch traditionell der Kindermaskenball statt, immer am Faschingsdienstag. Es ist voll, es ist laut, es ist bunt, es wird hemmungslos gequalmt und Bier getrunken, weniger von den Kindern, sondern von verantwortungslosen Eltern und Tanten und Onkeln. Aber was heute als verantwortungslos gilt, war in den 70ern noch normal. Alles ist karnevalistisch geschmückt, Luftschlangen noch und nöcher, bunte Lichter, ein bisschen Heimdisco-Atmosphäre. Die Herren der Schöpfung verkrümeln sich zwischendurch schonmal auf die Kegelbahn unten im Keller, um ab und an die zunehmend rotere Nase durch die Tür des Saals zu stecken und aus glasigen Augen nach ihren Sprösslingen zu schauen. Jemand spielt auf der kleinen Bühne Karnevalsliedgut, Onkel Karel, Dirigent des Mandolinenvereins und Ausrichter der Veranstaltung, bedient anfangs noch das Klavier und trägt eine offizielle Narrenkappe wie die Hornbrillen-Gestalten aus „Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht“. Später während der Veranstaltung kommt die Musik meistens vom Band. Der Saal ist zu voll, um auch noch extra Musiker unterzubringen.
Die Kinder tragen Kostüme und treten zum Wettstreit an. Gewählt wird demokratisch. Jedes Kind hat eine Nummer angepappt und bekommt ausreichend Gelegenheit, sich durch den ganzen Saal und das Publikum zu bewegen, damit Kostüm und Nummer auch wahrgenommen werden. Die Kinder werden wie Models auf dem Laufsteg auf die Tour geschickt oder zu einer Polonäse zusammengestellt, um zwischen den Tischreihen zu paradieren. Danach werden ans Publikum Zettel ausgegeben, auf die die Nummer des besten Kostüms zu schreiben ist. Etwa eine halbe Stunde nach dem Einsammeln der Votings erfolgt schließlich die Siegerehrung.
Ich bin ein Ölscheich. Auf unserem Speicher wurden Wochen zuvor zwei alte Masken aufgefunden, die vermutlich aus den 60ern stammen und die irgendwer aus der älteren Generation früher schonmal benutzt hat. Das ist jedoch lange her, und niemand aus dem heute zu erwartenden Publikum erinnert sich mehr daran. Beides sind wabbelige Latexmasken für Erwachsene, die drei Viertel des Kopfs umschließen. Eine stellt eine Putzfrau dar, feist und rotwangig, könnte auch Witwe Bolte sein. Die andere ist ein Scheich, furchterregend karikiert, fast wie aus dem antisemitischen Horrorkabinett des „Stürmer“, Hakennase mit Warze drauf, hervorstehende Zähne, ungesund dunkler Teint, Gabelbart, aber doch eindeutig kein „Jude“, sondern ein Scheich mit angedeutetem Latex-Turban. Wenn die Maske nicht schon älter wäre, könnte man vermuten, sie gehe zurück auf die Ölkrise und die Angst vor den Scheichs. Aber wir stecken zu diesem Zeitpunkt ja noch mitten drin in der Ölkrise. Bleibt die Erkenntnis, dass die Araber schon in den 60ern offenbar nicht den besten Ruf genossen, wenn damals solch gruselige Masken möglich waren. Ich entscheide mich natürlich für den Scheich, nicht für die Putzfrau. Meine Mutter wickelt mich kunstvoll in ein Bettlaken, ich kriege stilecht Sandalen an die Füße (im Februar!) und nähere mich vollkostümiert, allein und zu Fuß dem Veranstaltungsort aus einer unerwarteten Richtung, aus der eigentlich keiner kommen kann, weil dort niemand wohnt: vom verwaisten Campingplatz und der kleinen Kapelle her. Schon bevor ich den Saal betrete, drehen sich die Köpfe der Eintreffenden in meine Richtung. Ein kleineres Kind starrt mich an und beginnt zu heulen. Sein Vater lacht lauthals auf. Im Saal haben sich schon eine Menge Kostüme und Zuschauer versammelt, es ist heiß hier drin, durch die zu kleinen Augenschlitze der Maske sehe ich nur unzureichend. Ich schwitze sofort wie ein Jungschwein. Vor meinen Augen blinkt es psychedelisch, und wenn ich sie schließe, erscheinen auf der Innenseite der Lider griechische Buchstaben. Vergleichbar ist das nur mit dem erst viel später erlebten Genuss des ABC-Vollschutzes beim Bund. Das Mundloch der Maske ist zu klein für den Strohhalm der Sinalco. Ich dehydriere. Einige tänzeln neugierig um mich herum, die meisten weichen erschreckt zurück. Eine alte Oma schlägt ein Kreuzzeichen. Ein weiteres kleines Kind weint. Die Leute haben Angst vor mir, und das ist ein verdammt erhebendes Gefühl. Kein Mensch weiß, wer ich bin. Niemand hat den leisesten Anhaltspunkt. Ich werde dauernd angesprochen, antworte aber nicht, sondern wende den Fragenden nur mein furchteinflößendes Gesicht mit dem Grinsemaul zu. Ich reihe mich schließlich ein in die zu prämierenden Kostüme und mache die Ochsentour mit, polonäsetechnisch eingezwängt irgendwo zwischen Hexe und Cowboy. Rumtata … Ruuuckizucki … das ist der neuste Tanz … Rumtata … Am Aaaarrrschermittwoch ist alles … Rumtata …
Und am Ende gewinne ich die Wahl zum besten Kostüm.
Das ist deshalb sehr erstaunlich, weil diese spezielle demokratische Wahl stets unter ihrer Manipulierbarkeit litt. Auch in diesem Jahr hatten Konkurrenten des Scheichs ihre komplette Großfamilie im Publikum platziert, damit diese geschlossen für den eigenen Sprössling stimmen sollte – und sei das Kostüm auch noch so langweilig und sein Träger auch noch so offensichtlich. Meistens gewannen also die mit der größten Familie. Diesmal gewann der Scheich, von dem nur zwei Leute wussten, wer sich unter der Maske gerade einen wegschwitzte, meine Mutter und mein Vater. Vermutlich war es die nackte Angst vor den Scheichs, die die Menschen zu dieser Wahl trieb, die instinktive Befürchtung, bald noch mehr als 70 Pfennig für den Liter Sprit zahlen zu müssen, wenn sie hier und jetzt nicht diesem kleinen, aber offensichtlich machtvollen Araber ihre Gunst bezeugten.
Als die Maske gelüftet wurde, gab es ein großes Oh! und Ah! und Wäre ich nie drauf gekommen! Irgendein Kind weinte. Ich durfte mir den ersten Preis aussuchen: eine Riesenschachtel Mon Cherie (Hochprozentiges als Preis beim Kindermaskenball, das waren die 70er!) oder das Buch Bommie will nach Indien, die Geschichte eines Tigerjungen aus dem Zoo, der ausbüchst, um das Land seiner Vorfahren kennenzulernen. Irgendeiner der Zweitplatzierten neben mir brummte so etwas wie: „Wusste ich doch, dass der Nerd das Buch nimmt!“
Sogar tags darauf, als wir uns in der Messe gewissenhaft das Aschenkreuz auf die Stirn malen ließen, bekam ich Komplimente. Der schöne Spruch des Priesters, „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist“, holte mich allerdings erfolgreich auf den Boden der Tatsachen zurück.
Hier findet auch traditionell der Kindermaskenball statt, immer am Faschingsdienstag. Es ist voll, es ist laut, es ist bunt, es wird hemmungslos gequalmt und Bier getrunken, weniger von den Kindern, sondern von verantwortungslosen Eltern und Tanten und Onkeln. Aber was heute als verantwortungslos gilt, war in den 70ern noch normal. Alles ist karnevalistisch geschmückt, Luftschlangen noch und nöcher, bunte Lichter, ein bisschen Heimdisco-Atmosphäre. Die Herren der Schöpfung verkrümeln sich zwischendurch schonmal auf die Kegelbahn unten im Keller, um ab und an die zunehmend rotere Nase durch die Tür des Saals zu stecken und aus glasigen Augen nach ihren Sprösslingen zu schauen. Jemand spielt auf der kleinen Bühne Karnevalsliedgut, Onkel Karel, Dirigent des Mandolinenvereins und Ausrichter der Veranstaltung, bedient anfangs noch das Klavier und trägt eine offizielle Narrenkappe wie die Hornbrillen-Gestalten aus „Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht“. Später während der Veranstaltung kommt die Musik meistens vom Band. Der Saal ist zu voll, um auch noch extra Musiker unterzubringen.
Die Kinder tragen Kostüme und treten zum Wettstreit an. Gewählt wird demokratisch. Jedes Kind hat eine Nummer angepappt und bekommt ausreichend Gelegenheit, sich durch den ganzen Saal und das Publikum zu bewegen, damit Kostüm und Nummer auch wahrgenommen werden. Die Kinder werden wie Models auf dem Laufsteg auf die Tour geschickt oder zu einer Polonäse zusammengestellt, um zwischen den Tischreihen zu paradieren. Danach werden ans Publikum Zettel ausgegeben, auf die die Nummer des besten Kostüms zu schreiben ist. Etwa eine halbe Stunde nach dem Einsammeln der Votings erfolgt schließlich die Siegerehrung.
Ich bin ein Ölscheich. Auf unserem Speicher wurden Wochen zuvor zwei alte Masken aufgefunden, die vermutlich aus den 60ern stammen und die irgendwer aus der älteren Generation früher schonmal benutzt hat. Das ist jedoch lange her, und niemand aus dem heute zu erwartenden Publikum erinnert sich mehr daran. Beides sind wabbelige Latexmasken für Erwachsene, die drei Viertel des Kopfs umschließen. Eine stellt eine Putzfrau dar, feist und rotwangig, könnte auch Witwe Bolte sein. Die andere ist ein Scheich, furchterregend karikiert, fast wie aus dem antisemitischen Horrorkabinett des „Stürmer“, Hakennase mit Warze drauf, hervorstehende Zähne, ungesund dunkler Teint, Gabelbart, aber doch eindeutig kein „Jude“, sondern ein Scheich mit angedeutetem Latex-Turban. Wenn die Maske nicht schon älter wäre, könnte man vermuten, sie gehe zurück auf die Ölkrise und die Angst vor den Scheichs. Aber wir stecken zu diesem Zeitpunkt ja noch mitten drin in der Ölkrise. Bleibt die Erkenntnis, dass die Araber schon in den 60ern offenbar nicht den besten Ruf genossen, wenn damals solch gruselige Masken möglich waren. Ich entscheide mich natürlich für den Scheich, nicht für die Putzfrau. Meine Mutter wickelt mich kunstvoll in ein Bettlaken, ich kriege stilecht Sandalen an die Füße (im Februar!) und nähere mich vollkostümiert, allein und zu Fuß dem Veranstaltungsort aus einer unerwarteten Richtung, aus der eigentlich keiner kommen kann, weil dort niemand wohnt: vom verwaisten Campingplatz und der kleinen Kapelle her. Schon bevor ich den Saal betrete, drehen sich die Köpfe der Eintreffenden in meine Richtung. Ein kleineres Kind starrt mich an und beginnt zu heulen. Sein Vater lacht lauthals auf. Im Saal haben sich schon eine Menge Kostüme und Zuschauer versammelt, es ist heiß hier drin, durch die zu kleinen Augenschlitze der Maske sehe ich nur unzureichend. Ich schwitze sofort wie ein Jungschwein. Vor meinen Augen blinkt es psychedelisch, und wenn ich sie schließe, erscheinen auf der Innenseite der Lider griechische Buchstaben. Vergleichbar ist das nur mit dem erst viel später erlebten Genuss des ABC-Vollschutzes beim Bund. Das Mundloch der Maske ist zu klein für den Strohhalm der Sinalco. Ich dehydriere. Einige tänzeln neugierig um mich herum, die meisten weichen erschreckt zurück. Eine alte Oma schlägt ein Kreuzzeichen. Ein weiteres kleines Kind weint. Die Leute haben Angst vor mir, und das ist ein verdammt erhebendes Gefühl. Kein Mensch weiß, wer ich bin. Niemand hat den leisesten Anhaltspunkt. Ich werde dauernd angesprochen, antworte aber nicht, sondern wende den Fragenden nur mein furchteinflößendes Gesicht mit dem Grinsemaul zu. Ich reihe mich schließlich ein in die zu prämierenden Kostüme und mache die Ochsentour mit, polonäsetechnisch eingezwängt irgendwo zwischen Hexe und Cowboy. Rumtata … Ruuuckizucki … das ist der neuste Tanz … Rumtata … Am Aaaarrrschermittwoch ist alles … Rumtata …
Und am Ende gewinne ich die Wahl zum besten Kostüm.
Das ist deshalb sehr erstaunlich, weil diese spezielle demokratische Wahl stets unter ihrer Manipulierbarkeit litt. Auch in diesem Jahr hatten Konkurrenten des Scheichs ihre komplette Großfamilie im Publikum platziert, damit diese geschlossen für den eigenen Sprössling stimmen sollte – und sei das Kostüm auch noch so langweilig und sein Träger auch noch so offensichtlich. Meistens gewannen also die mit der größten Familie. Diesmal gewann der Scheich, von dem nur zwei Leute wussten, wer sich unter der Maske gerade einen wegschwitzte, meine Mutter und mein Vater. Vermutlich war es die nackte Angst vor den Scheichs, die die Menschen zu dieser Wahl trieb, die instinktive Befürchtung, bald noch mehr als 70 Pfennig für den Liter Sprit zahlen zu müssen, wenn sie hier und jetzt nicht diesem kleinen, aber offensichtlich machtvollen Araber ihre Gunst bezeugten.
Als die Maske gelüftet wurde, gab es ein großes Oh! und Ah! und Wäre ich nie drauf gekommen! Irgendein Kind weinte. Ich durfte mir den ersten Preis aussuchen: eine Riesenschachtel Mon Cherie (Hochprozentiges als Preis beim Kindermaskenball, das waren die 70er!) oder das Buch Bommie will nach Indien, die Geschichte eines Tigerjungen aus dem Zoo, der ausbüchst, um das Land seiner Vorfahren kennenzulernen. Irgendeiner der Zweitplatzierten neben mir brummte so etwas wie: „Wusste ich doch, dass der Nerd das Buch nimmt!“
Sogar tags darauf, als wir uns in der Messe gewissenhaft das Aschenkreuz auf die Stirn malen ließen, bekam ich Komplimente. Der schöne Spruch des Priesters, „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist“, holte mich allerdings erfolgreich auf den Boden der Tatsachen zurück.
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