Samstag, 3. August 2013

Aqualung

Ein Album, das damals einschlug wie eine Bombe und in der Retrospektive vielleicht sogar noch besser kommt. Ich bin wirklich dankbar, mit so etwas sozialisiert worden zu sein. 
Heute weiß man natürlich, dass Ian Anderson nach 1971 ein paar Schlucke aus dem Progressive-Rock-Pokal zu viel nahm und Jethro Tull ziemlich verkünstelte. Aqualung hingegen hat noch die perfekte Balance zwischen wildem, elektrifiziertem (Blues-) Hardrock, anrührender Folk-Miniaturballade und kunstfertigem, kontrolliertem Songwriting, das nicht in erster Linie dazu dient, die Großartigkeit seines eigenen Schöpfers zu belegen. 
„Aqualung“ ist der Spitzname des Obdachlosen aus dem Titelstück: Sein notorisches Schnaufen und Röcheln hört sich an, als trüge er eine Unterwasser-Atemmaske. Die Platte kümmert sich um die Randexistenzen, um Tippelbrüder und Bordsteinschwalben wie die Schielende Mary und wirft – vor allem auf der B-Seite des Albums – ein paar unangenehme Fragen auf hinsichtlich Nächstenliebe und organisierter Religion. Da wird es mitunter richtig zornig und politisch inkorrekt, und Sänger Anderson schlüpft in die skurrilen, exzentrischen Figuren seiner Texte hinein. Man hat den schäbigen Kerl namens Aqualung förmlich vor Augen, natürlich auch dank der kongenialen Covergestaltung. Wobei die Flöte mehr denn je als Verlängerung des Gesangs fungiert. Das Bühnenoutfit der Band ist das von Pennern und schrägen Vögeln, und der historisierende Charakter des Ganzen scheint einen Bogen zu schlagen aus der Gegenwart des Albums bis in die Dickensianische Epoche, geht aber im Prinzip noch viel weiter zurück, denn im Inneren des Klappcovers ist die Band in historischen Kostümen gemalt worden. 
Trotz seiner aktuellen sozialen Botschaften belegt Aqualung nämlich, dass Jethro Tull sich in der Tradition der Barden und Bänkelsänger sehen, als eine Art zeitverschobenes Renaissance-Ensemble, das sich in der gegenwärtigen Epoche umschaut und sie sich zu eigen macht. Und das war damals neu. Der kreative Output einer an Ausbrüchen reichen Epoche, und doch etwas ganz Besonderes. Ein wunderschönes, knallhartes, ungemein authentisches Kunstrockalbum mit Schmackes und einigen echten Tränendrückern.