Amerikanische Independent-Musik hatte ich lange Zeit mehr oder weniger ignoriert. Mitten in der Mannwerdungsphase war ich zudem fast anderthalb Jahre beim Barras und definitiv nicht in der Lage, mich um die Erkundung neuen musikalischen Terrains zu kümmern.
Dann aber fuhren wir, damals Freunde britischen Postpunks und Postwaves, zu einem dieser Festivals. Es war entweder eine WDR-Rocknacht oder ein frühes Bizarre Festival. Die gab es zwar damals schon, aber Independent versprach noch nicht so viel Zulauf, dass man daraus ein mehrtägiges Riesen-Event machen konnte. Wenn ich es mir recht überlege, gab es auch das Wort „Event“ noch nicht. Nein, diese Festivals waren klein, fanden statt in der Bonner Biskuithalle und erstreckten sich bloß über einen Abend.
Ich fuhr mit meinem neuerworbenen C-Kadett, Kamerad S. und die beiden Brüder L. über die knallroten Pseudo-Wildledersitz verteilt. Wir fuhren hin wegen des Headliners Killing Joke – und erfuhren kurz nach Betreten der Halle, dass Killing Joke kurzfristig abgesagt hatten. Unsere Gesichter wurden lang. Ja, was wollten wir dann überhaupt hier? Und schlimmer noch, die anderen Bands kannten wir gar nicht, bis auf eine. Und diese eine war Laibach, EBM-Torfnasen aus, jawohl, Slowenien, die einem gesamtkünstlerischen Konzept huldigten, das wir kleinen Nachwuchs-Linken damals zwar sehr wohl als bloßes Spiel mit totalitärer Ästhetik durchschauten, das wir aber trotzdem nicht mochten. Der eine der beiden Brüder L. hasste es zutiefst. „Nazis!“, fauchte er. Und dieser Verein war nach der Absage von Killing Joke soeben zum Headliner eines Festivals aufgestiegen, auf dem wir uns plötzlich nicht mehr heimisch fühlten.
Es erwies sich, dass mit The Klinik aus Belgien noch eine weitere EBM-Band den Abend mitbestritt und uns komplett abnervte. Während des Auftritts wurde das Bier in unseren Bechern ganz von selbst schal.
Dann jedoch ereignete sich zur allgemeinen Verblüffung etwas Wunderbares. Nach dem Auftritt einer säuselnden, heute längst vergessenen britischen Gothic-Gitarrenrock-Truppe überließ man die Bühne einem amerikanischen Trio, von dem wir damals noch nichts gehört hatten, das aber außerhalb unseres engen Provinzler-Kosmos sehr wohl auch schon deutschem Fachpublikum bekannt war. Den Sänger/Gitarristen von Dinosaur Jr sah man den ganzen Gig über nicht, weil ihm seine Haare ständig ins Gesicht hingen - und sich auch schonmal kreischend in den Gitarrensaiten und im Mikro verfingen. Der vierte Mann auf der Bühne hatte nur den Auftrag, im Schneidersitz vor dem Drum-Podest zu sitzen, innerhalb eines Kreises aus Bierdosen den Oberkörper vor und zurück zu bewegen wie ein absurder Fakir und sich ab und an einen Schluck aus einer der Dosen zu genehmigen. Das war hübsch arrangiert, aber es war natürlich die Musik, die für mich zu einer Initialzündung wurde. So laut! So verzehrend! So melodisch! So absolut herumhängerisch und cool! Die Amerikaner hatten einen anderen, erhellenderen Zugang zur Melodie als die Briten und pfiffen auf die notorische Motorik und die pumpenden Bässe der Gothics, aber auch auf die mädchengleiche Süßlichkeit der Smiths. Sie waren Songwriter aus einem Land der Weite und Horizontlosigkeit, wurde mir plötzlich klar, während die Europäer damals bloß Show-Acts aufboten und von etwas zehrten, das schon lange erkaltet war, oder von neuen Tendenzen, die uns definitiv nicht gefielen. Siehe Laibach und Klinik. Oder am anderen Ende des Spektrums die Schmidts. Aber hier war jetzt mal etwas, das es punktgenau traf. Erzählerisch und doch robust. Etwas, das die Gegenwart beschrieb und zugleich in die unergründlichen Weiten der Zukunft blickte. Warum hatte ich das bislang nicht gekannt? Das Scheißfestival war plötzlich ein voller Erfolg, und wir verließen die Halle Richtung Parkplatz, als in der Umbaupause die Bühne mit den Totalitarismus-Bannern verhängt wurde, mit denen Laibach gerne ihre Auftritte schmückten. Der eine der Brüder L. und Kamerad S. bekamen sich fast in die Haare, weil L. nur „Scheißfaschos!“ schimpfte und S. doch gerne gesehen hätte, was diese Jugoslawen marschtechnisch so zu bieten hatten. Aber ich war der Fahrer, und ich entschied, noch unter dem mystischen Einfluss von Dinosaur Jr, dass wir jetzt fuhren.
Am nächsten Tag kaufte ich die aktuelle LP der Amerikaner und erkundigte mich des weiteren, wer denn auf der US-Szene so die Platzhirsche waren. Natürlich stieß ich auf Hüsker Dü. Deren letztes Album Warehouse: Songs and Stories wurde zum Soundtrack der folgenden Jahre, amerikanischer Pop-Punk und Post-Hardcore wurde zur philosophischen Alltagsbewältigungsunterstützung. Es sprach direkt zu uns und griff in die eigene Gegenwart ein. Es war so unverschämt weise, und die Typen, die es ausformulierten, waren gar nicht so viel älter als wir selbst.
Well, you get up every morning/And you see it's still the same/All the floors and all the walls/And all the rest remains/Nothing changes fast enough/The hurry worry days/It makes you want to give it up/And drift into a haze (...) Yearbooks with their autographs/From friends you might have had/These are your important years/You'd better make them last/Falling in and out of love just like .../These are your important years, your life.
Es war die Phase, in der bereits die zweite und dritte Generation amerikanischer Gitarrenrocker debütierten, aus heutiger Sicht die unmittelbare Prä-Grunge-Ära. Man konnte sich aus einem Riesenfundus bedienen, und es fand einfach kein Ende. Platten oder Tapes der sanfteren oder bunteren Vertreter konnte man zudem auch den Mädchen von der Uni auf ihren Geburtstagspartys schenken, ohne dass man Gefahr lief, in die Smiths-Ecke gestellt zu werden. Eine gute, nicht zu geschwätzige Methode, sich selbst darzustellen. Lass Bob Mould, Greg Sage oder Curt Kirkwood es sagen. Man kaufte billige No-Style-Klamotten oder kombinierte unsägliche Accesoires (Nietengürtel und Flanellhemden!), einfach weil man so drauf war und niemand einen warnte. Oder man nicht auf Warnungen hörte. Man besprühte unifarbene T-Shirts mit Autolackfarbe, pappte sich coole Aufkleber aufs Auto. Man kopierte linkisch die Posen und die existentialistische Scheißegal-Einstellung, exzerpierte Kalendersprüche aus Songtexten und erklärte den Song „These Important Years“ zum Programm jener Tage. Und man las Spex, kam sich dabei philosophisch und klug vor und glaubte, sich endlich und auf ewig gefunden zu haben. Ach je …
Ich verlor mich dann allerdings wieder und hörte auf, die neuesten amerikanischen Scheiben zu kaufen, als ich zum ersten Mal erlebte, wie derartige Musik zur Untermalung eines Jeans-Werbespots benutzt wurde. Die Band hieß Ugly Kid Soundso und übernahm für mich persönlich die Rolle des Totengräbers. Ich sprang früh genug ab, denn während des unmittelbar darauffolgenden Grunge-Hypes wurde es echt gruselig und infantil. Die jüngere Generation sah sich plötzlich in dieser Musik vertreten, aber die jüngere Generation hatte echt keine Ahnung. Sie hatte doch gar nicht das mitgemacht, was wir und die 80er mitgemacht hatten. Aber der Kalte Krieg war inzwischen beendet, unser System zum Sieger erklärt, Reagan längst zum Helden der Freiheit stilisiert. Es ging plötzlich um Jeans, Turnschuhe und hingeschwurbelte Suizidpoesie inmitten jenes selbstmitleidigen Dramas, hineingeboren zu sein in dieses Spannungsverhältnis zwischen grassierender Komplettkommerzialisierung und stylisher Weltverweigerung schon mit vierzehn. Es fokussierte sich plötzlich alles auf den hübschen Kurt, dessen Poster und T-Shirts und Frisurkopien reißenden Absatz fanden. Ein erstes Aufflackern von Emo und aufgebretzelten Blödigkeits-Chics. Grässlich. Ganz, ganz grässlich. Das war das Ende der eigenen Jugend, das Ende der Important Years.
Einige der alten Recken sind mir jedoch geblieben. Sie konnten ja nichts dafür. Sie firmieren heute unter „Old Rock“, wobei ich nicht recht weiß, ob ich das gutheißen kann oder skandalös finden soll. Wenn ich dann auf aktuellen Fotos Bob Moulds grauen Vollbart und seine Eulenbrille sehe und die eigenen Bartstoppeln nach der Rasur im Waschbecken, tja, dann muss ich gestehen, dass diese Etikettierklugscheißer wohl doch recht haben.
Dann aber fuhren wir, damals Freunde britischen Postpunks und Postwaves, zu einem dieser Festivals. Es war entweder eine WDR-Rocknacht oder ein frühes Bizarre Festival. Die gab es zwar damals schon, aber Independent versprach noch nicht so viel Zulauf, dass man daraus ein mehrtägiges Riesen-Event machen konnte. Wenn ich es mir recht überlege, gab es auch das Wort „Event“ noch nicht. Nein, diese Festivals waren klein, fanden statt in der Bonner Biskuithalle und erstreckten sich bloß über einen Abend.
Ich fuhr mit meinem neuerworbenen C-Kadett, Kamerad S. und die beiden Brüder L. über die knallroten Pseudo-Wildledersitz verteilt. Wir fuhren hin wegen des Headliners Killing Joke – und erfuhren kurz nach Betreten der Halle, dass Killing Joke kurzfristig abgesagt hatten. Unsere Gesichter wurden lang. Ja, was wollten wir dann überhaupt hier? Und schlimmer noch, die anderen Bands kannten wir gar nicht, bis auf eine. Und diese eine war Laibach, EBM-Torfnasen aus, jawohl, Slowenien, die einem gesamtkünstlerischen Konzept huldigten, das wir kleinen Nachwuchs-Linken damals zwar sehr wohl als bloßes Spiel mit totalitärer Ästhetik durchschauten, das wir aber trotzdem nicht mochten. Der eine der beiden Brüder L. hasste es zutiefst. „Nazis!“, fauchte er. Und dieser Verein war nach der Absage von Killing Joke soeben zum Headliner eines Festivals aufgestiegen, auf dem wir uns plötzlich nicht mehr heimisch fühlten.
Es erwies sich, dass mit The Klinik aus Belgien noch eine weitere EBM-Band den Abend mitbestritt und uns komplett abnervte. Während des Auftritts wurde das Bier in unseren Bechern ganz von selbst schal.
Dann jedoch ereignete sich zur allgemeinen Verblüffung etwas Wunderbares. Nach dem Auftritt einer säuselnden, heute längst vergessenen britischen Gothic-Gitarrenrock-Truppe überließ man die Bühne einem amerikanischen Trio, von dem wir damals noch nichts gehört hatten, das aber außerhalb unseres engen Provinzler-Kosmos sehr wohl auch schon deutschem Fachpublikum bekannt war. Den Sänger/Gitarristen von Dinosaur Jr sah man den ganzen Gig über nicht, weil ihm seine Haare ständig ins Gesicht hingen - und sich auch schonmal kreischend in den Gitarrensaiten und im Mikro verfingen. Der vierte Mann auf der Bühne hatte nur den Auftrag, im Schneidersitz vor dem Drum-Podest zu sitzen, innerhalb eines Kreises aus Bierdosen den Oberkörper vor und zurück zu bewegen wie ein absurder Fakir und sich ab und an einen Schluck aus einer der Dosen zu genehmigen. Das war hübsch arrangiert, aber es war natürlich die Musik, die für mich zu einer Initialzündung wurde. So laut! So verzehrend! So melodisch! So absolut herumhängerisch und cool! Die Amerikaner hatten einen anderen, erhellenderen Zugang zur Melodie als die Briten und pfiffen auf die notorische Motorik und die pumpenden Bässe der Gothics, aber auch auf die mädchengleiche Süßlichkeit der Smiths. Sie waren Songwriter aus einem Land der Weite und Horizontlosigkeit, wurde mir plötzlich klar, während die Europäer damals bloß Show-Acts aufboten und von etwas zehrten, das schon lange erkaltet war, oder von neuen Tendenzen, die uns definitiv nicht gefielen. Siehe Laibach und Klinik. Oder am anderen Ende des Spektrums die Schmidts. Aber hier war jetzt mal etwas, das es punktgenau traf. Erzählerisch und doch robust. Etwas, das die Gegenwart beschrieb und zugleich in die unergründlichen Weiten der Zukunft blickte. Warum hatte ich das bislang nicht gekannt? Das Scheißfestival war plötzlich ein voller Erfolg, und wir verließen die Halle Richtung Parkplatz, als in der Umbaupause die Bühne mit den Totalitarismus-Bannern verhängt wurde, mit denen Laibach gerne ihre Auftritte schmückten. Der eine der Brüder L. und Kamerad S. bekamen sich fast in die Haare, weil L. nur „Scheißfaschos!“ schimpfte und S. doch gerne gesehen hätte, was diese Jugoslawen marschtechnisch so zu bieten hatten. Aber ich war der Fahrer, und ich entschied, noch unter dem mystischen Einfluss von Dinosaur Jr, dass wir jetzt fuhren.
Am nächsten Tag kaufte ich die aktuelle LP der Amerikaner und erkundigte mich des weiteren, wer denn auf der US-Szene so die Platzhirsche waren. Natürlich stieß ich auf Hüsker Dü. Deren letztes Album Warehouse: Songs and Stories wurde zum Soundtrack der folgenden Jahre, amerikanischer Pop-Punk und Post-Hardcore wurde zur philosophischen Alltagsbewältigungsunterstützung. Es sprach direkt zu uns und griff in die eigene Gegenwart ein. Es war so unverschämt weise, und die Typen, die es ausformulierten, waren gar nicht so viel älter als wir selbst.
Well, you get up every morning/And you see it's still the same/All the floors and all the walls/And all the rest remains/Nothing changes fast enough/The hurry worry days/It makes you want to give it up/And drift into a haze (...) Yearbooks with their autographs/From friends you might have had/These are your important years/You'd better make them last/Falling in and out of love just like .../These are your important years, your life.
Es war die Phase, in der bereits die zweite und dritte Generation amerikanischer Gitarrenrocker debütierten, aus heutiger Sicht die unmittelbare Prä-Grunge-Ära. Man konnte sich aus einem Riesenfundus bedienen, und es fand einfach kein Ende. Platten oder Tapes der sanfteren oder bunteren Vertreter konnte man zudem auch den Mädchen von der Uni auf ihren Geburtstagspartys schenken, ohne dass man Gefahr lief, in die Smiths-Ecke gestellt zu werden. Eine gute, nicht zu geschwätzige Methode, sich selbst darzustellen. Lass Bob Mould, Greg Sage oder Curt Kirkwood es sagen. Man kaufte billige No-Style-Klamotten oder kombinierte unsägliche Accesoires (Nietengürtel und Flanellhemden!), einfach weil man so drauf war und niemand einen warnte. Oder man nicht auf Warnungen hörte. Man besprühte unifarbene T-Shirts mit Autolackfarbe, pappte sich coole Aufkleber aufs Auto. Man kopierte linkisch die Posen und die existentialistische Scheißegal-Einstellung, exzerpierte Kalendersprüche aus Songtexten und erklärte den Song „These Important Years“ zum Programm jener Tage. Und man las Spex, kam sich dabei philosophisch und klug vor und glaubte, sich endlich und auf ewig gefunden zu haben. Ach je …
Ich verlor mich dann allerdings wieder und hörte auf, die neuesten amerikanischen Scheiben zu kaufen, als ich zum ersten Mal erlebte, wie derartige Musik zur Untermalung eines Jeans-Werbespots benutzt wurde. Die Band hieß Ugly Kid Soundso und übernahm für mich persönlich die Rolle des Totengräbers. Ich sprang früh genug ab, denn während des unmittelbar darauffolgenden Grunge-Hypes wurde es echt gruselig und infantil. Die jüngere Generation sah sich plötzlich in dieser Musik vertreten, aber die jüngere Generation hatte echt keine Ahnung. Sie hatte doch gar nicht das mitgemacht, was wir und die 80er mitgemacht hatten. Aber der Kalte Krieg war inzwischen beendet, unser System zum Sieger erklärt, Reagan längst zum Helden der Freiheit stilisiert. Es ging plötzlich um Jeans, Turnschuhe und hingeschwurbelte Suizidpoesie inmitten jenes selbstmitleidigen Dramas, hineingeboren zu sein in dieses Spannungsverhältnis zwischen grassierender Komplettkommerzialisierung und stylisher Weltverweigerung schon mit vierzehn. Es fokussierte sich plötzlich alles auf den hübschen Kurt, dessen Poster und T-Shirts und Frisurkopien reißenden Absatz fanden. Ein erstes Aufflackern von Emo und aufgebretzelten Blödigkeits-Chics. Grässlich. Ganz, ganz grässlich. Das war das Ende der eigenen Jugend, das Ende der Important Years.
Einige der alten Recken sind mir jedoch geblieben. Sie konnten ja nichts dafür. Sie firmieren heute unter „Old Rock“, wobei ich nicht recht weiß, ob ich das gutheißen kann oder skandalös finden soll. Wenn ich dann auf aktuellen Fotos Bob Moulds grauen Vollbart und seine Eulenbrille sehe und die eigenen Bartstoppeln nach der Rasur im Waschbecken, tja, dann muss ich gestehen, dass diese Etikettierklugscheißer wohl doch recht haben.
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