Sonntag, 7. August 2011

Tull

Noch so ein altes Schätzchen, an dem es sich abzuarbeiten gilt. Tatsächlich war Jethro Tull die erste Band, die den 14jährigen Vollidioten damals davon abbrachte, ELOs Discovery oder Alan Parsons Tales of Mystery and Imagination für die besten „Rock“-Alben aller Zeiten zu halten.
Das ist eine Leistung, die Maßstäbe setzte, dennoch bewerte ich Jethro Tull heute ein bisschen ambivalent. Angeführt wurde die Band von einem selbstverliebten Autokraten, der auf der Bühne die Rocksau ebenso verkörperte, wie er Spontaneität vorgab. Einer, der je nach Bedarf den Rocker, den Bauersmann, den Komödianten, den Bildungsbürger, den Poeten oder den irren Rattenfänger herauskehrte und durch die Jahre halbherzig alle möglichen Stile aufgriff und verhunzte.
Das wäre die eine Sichtweise. Tatsächlich aber hatte Ian Anderson genialische Züge, ließ sich von niemandem reinreden und erschuf neben prätentiösen Monstren auch runde, atmosphärisch unglaublich dichte Alben. Seine Mitspieler waren allererste Sahne und durften ihre Talente auch ausleben, solange sie sich den Konzepten des Maestros unterordneten. Saufen, huren und bunte Pillen schlucken durften sie angeblich nicht, zumindest nicht auf Tourneen (die viele Musiker ja am liebsten genau deswegen unternahmen). Nein, solche Exzesse hätten die Perfektion der nächsten Show gefährdet.
Die ersten drei Alben schienen mir damals, als ich Tull-Platten zu kaufen begann, 1982, bereits zu sehr gealtert in ihrem Bluesrock-Bestreben. In Aqualung (1971) hingegen bin ich monatelang spazieren gegangen. Auch Thick as a Brick mochte ich ungemein, während mir A Passion Play größtenteils verschlossen blieb. War Child empfand ich als eine Art skurrilen Comic, viel eher noch als das gezielt im Comic-Design gestaltete, etwas langweilige Too Old to Rock’n’ Roll: Too Young to Die. Dazwischen gab es noch Minstrel in the Gallery, das ich bis auf den heavy Titelsong auch etwas behäbig fand.
Ich war ein Riesenfan des „Folkrock“-Albums Songs from the Wood (1977), zumindest so lange, bis ich mal richtigen Folkrock hörte. Ian Andersons Kokettieren mit der Musik der Bauersleut war wenig mehr als das: Kokettieren nämlich. Das Cover ist symptomatisch. Anderson an einem Lagerfeuer mitten im Wald, in Landburschentracht, mit erlegten Fasanen nahebei. Wenn man genauer hinschaut, ist das alles Kulisse. Das Unterholz hinter ihm ist auf eine Glasscheibe gemalt, weder Feuer noch Holz noch Fasane sind echt. Die Aufnahme entstand vermutlich in irgendeinem Fotostudio in London. Was auf Songs from the Wood nach Folkrock klingt, ist genau dasselbe: eine Simulation. Es gibt nicht viele akustische Instrumente, erst recht keine authentischen, vieles wird mit E-Gitarre, Keyboards, Synths und mithilfe aufwendiger Arrangements und Studiomätzchen gemacht. Und die Botschaften passen in ihrer landmännischen Simplizität auch ganz gut zu diesem Innenarchitekten-Folk: „songs from the wood make you feel much better“ oder auch, rührenderweise: „it’ll make of you an honest man“. Echte Folker haben das Simulationsunternehmen Jethro Tull deswegen gehasst. Jedoch ist Anderson seit jeher ein Ironiker gewesen, der so etwas absichtlich macht. Das witzige Backcover, auf dem ein Baumstumpf zum Plattenteller wird, bespielt von einem mordsteuren Designer-Tonarm, macht sich über die Platte und ihre Botschaft lustig. Und über den Hang der Stadtmenschen, sich aus Smog und Verkehrslärm in die geordnete pastorale Schönheit früherer Epochen wegzudenken. Die dickensianische, urbane Blues-Hardrock-Robustheit der früheren Band war nach einigen ProgRock-Monstrositäten nun dem Charme eines britischen Freilichtmuseums gewichen. Oder dem einer Fototapete. Oder dem eines Mittelalter-Festivals, bevor es Mittelalter-Festivals gab. Auf Heavy Horses wurde das fortgesetzt und geriet in seinem Drang zur pastoralen Harmlosigkeit fast ein bisschen zu schmerzfrei.
Andererseits: Wenn ich heute irgendwo diesen pseudo-historisierenden Gothic-Folk-Metal und seine simulierten Simulationssimulationen zu hören kriege, bin ich verdammt froh, den sofort abwürgen und zu Tull-Platten greifen zu können.
Seit geraumer Zeit bevorzuge ich Stormwatch, den düsteren Nachzügler der Folk-Phase und Tull-Spätheimkehrer. Dieses Album ist wieder mächtig elektrifiziert und veredelt die Folkrock-Restbestände durch ihre Verwendung im Hardrock-Kontext. Die Lyrik ist phänomenal dunkel, die elegischen Teile sind allem Anschein nach tief empfunden und völlig ernst gemeint. Die kritische, nahezu apokalyptische Botschaft ist kein bisschen hysterisch oder alarmistisch, sondern eine mythische Verdichtung britisch grünen Gedankenguts, exemplifiziert an den harschen Landschaften und magisch-realistischen Stimmungen nordbritischer Küstenstreifen.
Danach wurde Tull dann modern. Die beiden Alben A und The Broadsword and the Beast übertünchen die Abriebsverluste mit Elektronik, A macht das ziemlich gut. Under Wraps wagt sich noch viel weiter auf dieses Terrain vor, danach wird Tull zu etwas hardrockiger angedachten Dire Straits, wobei Roots to Branches noch mal den erfreulichen Ausflug auf ein spannenderes World-Music-Areal versucht.