Es ist wieder so weit. Vater Reitersmann weilt an der Ostsee, und Sohn Reitersmann übernimmt für einige Tage das Kommando über das herrschaftliche Anwesen, den Waldbesitz, die Obstplantagen, die Ställe und das Fernsehprogramm.
Die Kutschfahrt verläuft über die übliche Strecke, die inzwischen fast ausschließlich aus Baustellen besteht. Ich werde mich wohl doch mal an die Nobilität wenden und eine Beschleunigung der baulichen Maßnahmen fordern müssen. Schließlich stellt unsere Familie einen der sieben Kurfürsten. Der direkte Vergleich der belebten Bonner Straße in Köln, Startpunkt der Kutschreise, mit dem letzten Stück bis zum Freisassen-Dorf bringt mich immer wieder zum Staunen über den Kontrastreichtum der Welt. Ich werde hin- und hergeworfen in meiner Kutsche, es holpert recht ordentlich. Ich werde Baumaßnahmen verlangen müssen.
Sofort nach Ankunft in der süßen pastoralen Einsamkeit zwischen Hecken und Streuobstwiesen und gegenüber dem schier endlosen Waldhang wird der Kutscher entlassen und eilt zu Frau und Kindern. Ich schlüpfe aus den allzu städtischen Turnschuhen und in die Pantoletten, um langsam und dem Ort angemessen durch dunkle Räume und Gänge zu schlurfen. Dunkel? Ach so, ja, die Fensterläden müssen aufgeklappt werden. Das dauert etwa vier Stunden. Dann die Pflanzen gießen, Zeitungen reinholen, die Senseo-Maschine zum Funktionieren bringen, die Lage in Kühlschrank und Weinkeller vergegenwärtigen, draußen Streunerkatzen füttern. Die Schwarze maunzt schon.
Dann ein kleiner Marsch übers Anwesen. Alles in bester Plaisir. Einmal die Birke umarmt („Hallo, Birke!“), danach kurz im Komposthaufen gewälzt, um Geruch anzunehmen. Sofort zeigt sich, dass es sich gelohnt hat, denn der Eichelhäher setzt sich spontan auf meine Schulter. Braves Tier. Vor dem Nachbarhaus, dessen Bewohnerin unlängst verstarb, wie man hört, steht verrottender Sperrmüll und liegen gärende Äpfel von den Bäumen weiter oben am Hang. Es riecht streng. Aus den Ritzen der Einfahrt sprießt das Kraut, das Dach ist völlig vermoost. Sollte mal jemand in Ordnung bringen. Ich werde eine Verordnung erlassen.
Dann noch eine Senseo und einige Ausgaben der Lokalzeitung lesen. Dauert exakt 3,5 Sekunden. Entspricht nicht meiner Interessenlage, dieses hiesige Druckerzeugnis, aber die Untertanen müssen nun mal (in Maßen) informiert und unterhalten werden.
Kleiner Spaziergang durch die Ortschaft, dazu von den Pantoletten wieder in die Turnschuhe wechseln. Den Gehrock gerade zupfen. Die Freisassen und Leibeigenen grüßen freundlich und bewundern den Städter angemessen. Braves Volk. Huldvolles Winken. Einige Kinder sind ganz fasziniert von meinem Gehstock und dem Messingknauf in Gestalt eines chinesischen Drachen. Auf dem Spielplatz ist allerdings schon wieder kein einziges Kind. Ich muss mal eine Verordnung erlassen, denn die Anlage hat mich eine Stange Taler gekostet. An der Kirche begegne ich dem Herrn Pastor und werde von ihm in ein Gespräch verwickelt über „Das Wort zum Sonntag“. Offenbar spricht am kommenden Wochenende unser teutscher Papst selbst im Fernsehen. Außerdem kündigt auf Plakaten der Kirchenchor fürs Wochenende ein Fest an. Überlege, ob ich sie mit einer Anwesenheit beehren soll, entscheide mich aber dagegen, weil die braven Freisassen mir bei solchen Gelegenheiten ständig einen ausgeben und ich wohl nicht unter 3,5 Promille dort wegkommen werde und zudem den Papst im Fernsehen verpassen könnte. Außerdem würde ich auf dem Heimweg vermutlich irgendwo ins Gebüsch reihern. Das geziemt sich nicht.
Nach Einbruch der Dunkelheit und dem Entzünden der Laternen eben noch auf der Kiesauffahrt eine besinnliche türkische Zigarre im Nachtrock. Igel, Fledermaus und eine rote Katze gesellen sich hinzu. Danach im Schlafgemach noch einige edle Tropfen in Nuss und dem Knarzen der Deckenbalken lauschen, bis der Schlaf einen schließlich überkömmt.