Montag, 20. August 2012

Oliver


Wir nennen ihn so wegen „Oliver Twist“. Er ist vermutlich unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen. Andernfalls wäre er wertgeschätzt worden und nicht bei uns neben dem Haus im Dreck gelandet, auf der Seite liegend, die Flosse traurig gen Himmel gereckt. Ich sah ihn da ein paar Tage liegen, ohne ihn mir zunächst genauer anzuschauen. Könnte ja sein, dass jemand ihn vermisst und suchen kommt. War aber nicht der Fall. Also nahm ich ihn mal in Augenschein und stellte fest, dass er eine ausgesprochene Schönheit ist. Ein bisschen dreckig vom tagelangen Herumliegen, ja, aber gut gewachsen, ziemlich jung, völlig heil, sehr flauschig und rührend hilfsbedürftig. Vermutlich hat ein randalierendes Quengelkind ihn vor dem Haus aus seinem Designer-Buggy geworfen, und die Frau Mama (oder der Herr Papa) hat es nicht für wert befunden, ihn zurückzuholen. Wahrscheinlich hat sie (oder er) im Internet gleich einen neuen bestellt, als das Kind zu Hause des Verlusts gewahr wurde und herumkrähte. Dann haben ihn ein paar betrunkene Jugendliche auf dem nächtlichen Rückweg aus dem Park erblickt, mit ihm auf dem Bürgersteig Fußball gespielt, ihn neben die Hauseinfahrt gekickt und das Interesse verloren. Oliver ist ein Opfer von falscher Erziehung, Desinteresse, Überflussgesellschaft, E-Commerce und Jugendgewalt. 
Jetzt sitzt er hier fröhlich auf dem Parkett, ordentlich gebürstet, und kriegt demnächst noch eine Dusche. Die Katze scheint Angst vor ihm zu haben, aber das legt sich.