Furchtbares Geständnis: Ich habe diese Platte damals nicht gekauft. Hatte keine Lust. Hielt die Band für veraltet. Obwohl doch Roots to Branches vier Jahre zuvor allerhand zu bieten hatte. Nun, der fällige Kauf wurde jetzt, vierzehn Jahre später, nachgeholt.
J-Tull dot com von 1999 wird die Ehre zuteil, die letzte Platte von Tull zu sein. Alles, was danach kam, war Aufgewärmtes, Tribute-mäßiges oder Seitenprojektiges, ein komplett durchorganisiertes Studioalbum gab es seitdem keines mehr, und Jethro Tull verblasste so langsam und wurde zur eigenen Tribute-Band. Schade eigentlich.
Der Baphomet auf dem Cover (hinten drauf spielt er natürlich Flöte) signalisiert etwas Rätselhaftes, womöglich Esoterisches. Tatsächlich beinhaltet das Album ein paar Songs, die eine okkulte Art an sich haben und in Bereiche der Schauergeschichte oder des exotischen Grusels vorzudringen scheinen: „Wicked Windows“, „Black Mamba“, auch „El Nino“ operiert mit magischen Inhalten, und „Bends Like A Willow“ verströmt eine dunkle Aura. Ohne dass die Band deswegen gleich in Richtung Gothic schielen müsste, gewiss nicht. Mit der Internet-Thematik, die der Titel suggerieren könnte, hat die Platte hingegen kaum etwas zu tun.
Nein, Jethro Tull scheinen sich hier als moderne Rockband des Jahrtausendwechsels positionieren zu wollen, als Altrocker im Vollbesitz der geistigen und körperlichen Kräfte, die mit Gelassenheit, aber noch einigem Druck im Kessel das in die Welt hinaustragen, was sie seit jeher auszeichnet: komplexe, songfixierte Kompositionen ohne allzu viel Eitelkeiten, aber mit allerhand Geschnörkel; verblüffende, mal anheimelnde, mal irritierende Arrangements; das engagiertestmögliche Zusammenspiel und die typische Skurrilität. Die modernen Produktionsmethoden tarieren die Einzelaspekte aus und bauen und sie zu einem Ganzen zusammen. J-Tull dot com ist ein Bandalbum ohne Wenn und Aber. Hellwach und enorm gut gespielt.
Die Flöte ist wieder so prominent, schnell und laut wie auf Roots To Branches, Jazz- und Weltmusik-Anteile rücken etwas aus dem Bild, dafür wird es wieder folkloristischer. „El Nino“ verrennt sich ein bisschen in zu starker Dynamik, „Hot Mango Flush / Mango Surprise“ sind Gag-Stücke, wie nur ein Ian Anderson sie loslassen kann. Mit „Spiral“, „Wicked Windows“, „Black Mamba“, dem Katzen-Rocker „Hunt By Numbers“, „Far Alaska“ und dem überragenden „Bends Like A Willow“ sind die Highlights schnell identifiziert, allerdings sollte man keinesfalls nach hinten raus die beiden Folkrocker „The Dog-Ear Years“ und „A Gift of Roses“ vergessen, die man seinerzeit auch auf Heavy Horses hätte finden können. Martin Barre spielt eine großartige Gitarre, Doane Perry trommelt inzwischen wie dereinst der große Barriemore Barlow, Keyboarder Andrew Giddings ist ein Tastengott und in Sachen Vielseitigkeit und Klangfarben ungeheuer begabt. Und die Synthie-Streicher haut er stets an den richtigen Stellen ins Geschehen.
Ein leicht mysteriöses und annähernd magisches Album. So hätte das ruhig weitergehen können, herrje.