Tull-Spätwerke wie Crest Of A Knave (1987) oder Catfish Rising (1991) hatten keinen Anlass zu allzu überschäumendem Zukunftsoptimismus geboten, aber mit Roots to Branches von 1995 kam wieder Leben in die Bude. Ich war damals musikhörertechnisch völlig anders drauf, dennoch ließ die Platte mich aufhorchen, so dynamisch geriet sie.
Ian Anderson und seine Mitmusikanten waren absolut gewillt, nicht zur eigenen Tribute-Band zu werden, sondern den Tull-Spirit am Köcheln zu halten. Natürlich besitzt diese Platte nicht mehr den schrulligen, wirbelnden Charakter und die Kühnheit der klassischen Alben, aber auf ihre gesetzte Art bietet sie Rockmusik, die in Fragen von Komposition, Arrangement und Spielfreude an die Grandeur früherer Tage heranreicht und alles andere als schläfrig wirkt.
Sie kündet von Altersweisheit und Duldsamkeit, gepaart mit einem Hunger nach Melodie, Harmonie und komplexer Lockerheit. Und von Ian Andersons warmherzigem Humanismus. Und es ist – vielleicht im Sinne einer Summa Scientia – das Zueinanderfinden der verschiedenen Phasen und Strömungen. Erstaunlicherweise berücksichtigt Roots to Branches dabei aber die keltische Folklore der alten Tull am wenigsten, zugunsten von World Music, Heavy Rock, Blues, Americana-Klängen und Jazz. Und doch kann dies keine andere Band sein als Jethro Tull. Im Grunde weisen die Kompositionen immer noch die Komplexität von J.S. Bach oder Renaissance-Kammermusik auf, nur eben globalisierter. Neu und so noch nicht vorgekommen sind die Weltmusik-Anteile, diese arabischen Arabesken und fernöstlichen Atmosphären, aufgelockert durch glasklare Jazz-Momente. Erstaunlich auch die wiedergefundene, soundtechnisch aktualisierte Härte und Rocksau-Attitüde, die vor allem von Martin Barres Gitarre und Doane Perrys Drums ausgeht und zu wahren Hardrock-Kanonaden führt. Und die Querflöte schneidet mit ihrer schieren Präsenz, den ultraschnellen Läufen, dem Flattern und Prusten und den extremen Höhen oft wieder so schmerzhaft ins Ohr wie früher.
Aber auch diese poetische Platte mit Globalisierungs-Thema und Verwurzelungs- und Entwurzelungs-Lyrik hat ihre Fehler und gebärdet sich vor allem nach hinten raus zu gelassen und entschleunigt. Da ist mindestens ein balladesker Langstrecken-Song zu viel, eher zwei.
Dafür zeigt die rumpelnde erste Hälfte die Mittneunziger-Tull in unerwartet großer Form, und Stücke wie „Roots to Branches“ und „Rare and Precious Chain“ beschleunigen die Pumpe nicht unerheblich. Vor allem „This Free Will“ ist ein regelrechtes Epos, das nicht etwa durch prätentiöse Länge auffällt, sondern durch die ungeheuer knackige Vier-Minuten-Kombination von Klangfarben, Timing und Power. „Dangerous Veils“ bietet völlig unberechenbaren Altherren-Rock mit einer Fülle von Texturen und Stilen. Ein Fall fürs Jazz-Festival. Und im entzückend hochkomplexen „Beside Myself“ werden die diversen Tendenzen des Albums zusammengeführt und auf einen Punkt konzentriert. Eines der schönsten Tull-Stücke überhaupt – und die ganze Platte ist ein mehr als respektables Spätwerk. Über weite Strecken sogar richtig wow!