Die allerälteste Erinnerung: Ich befinde mich im Wohnzimmer von Tante Nini und Onkel Klaus. Jemand trägt mich auf dem Arm, einer von den beiden oder einer meiner Eltern, die ebenfalls anwesend sind. Sie alle deuten aufgeregt durch das große Fenster im ersten Stock auf den Bahndamm etwa siebzig Meter entfernt, wo just in diesem Moment eine gewaltige schwarze Dampflokomotive angeschnaubt kommt, auf Schritttempo verlangsamt und in den kleinen Bahnhof einfährt.
Die Strecke wurde 1969 stillgelegt, es muss also vorher gewesen sein. So romantisch waren die Zeiten damals schon nicht mehr, und auf der Strecke fuhren hauptsächlich die dunkelroten Schienenbusse, die man damals noch „Triebwagen“ nannte. Güterzüge, die vornehmlich Holz transportierten, wurden meistens schon von Dieselloks gezogen. Eventuell absolvierte diese mächtige Dampflok eine feierliche Abschlussfahrt, bevor die Strecke dichtgemacht wurde, was auch erklären würde, warum die Erwachsenen so aufgeregt waren. So ein Ding sahen sie auch nicht mehr alle Tage. Ich wäre da etwa zweieinhalb Jahre alt gewesen.
Die zweite Erinnerung: Ein riesengroßes gelbes Ungeheuer scheint schräg über dem Bauernhof meines Opas Metall aus dem Boden zu reißen und macht dabei ziemlichen Lärm. Ich habe Angst davor und werde von einer meiner Cousinen beruhigt. Von einem Mädchen, herrje! Es war ein Schienenkran der Streckendemontierer, der losgeschraubte Schienen anhob und auf seine Ladefläche hievte. Die Strecke verlief direkt neben dem Bauernhof, mittels Erdreich und Mauerung etwa auf Höhe des ersten Stocks angehoben, und sofort darauf folgte die Brücke, mittels derer die Züge die Dorfstraße überquerten. Zwischen der Seitenwand des Hauses und der Bahnmauer war gerade mal ein mannbreiter, dunkler Durchgang zu Silo, Ställen und Wiesen, in dem es irre STILL war.
Dieser Bahndamm stand noch lange und wuchs zu, eigentlich bis heute, nur im Dorfkern wurde er abgetragen, über die Länge des Bauernhofs. Die nutzlose Brücke mit ihren rostigen Eisengeländern, Spielplatz für eine Generation unvorsichtiger Dorfkinder, wurde schließlich im Rahmen einer Dorferneuerung gesprengt. Wir mussten damals alle hinter dickes Mauerwerk und die Köpfe einziehen. Weiter hinten, auf Höhe des Sportplatzes, nahmen wir die Hecken in Besitz, bauten Höhlen und machten Liebe bis zur Besinnungslosigkeit. Nein, machten wir nicht. Wir hockten auf jungen Bäumen, unternahmen Experimente mit geklauten Filterzigaretten, imitierten im Gedenken an die Bahnstrecke Lokomotivgeräusche und tauschten Panini-Bildchen von Günter Netzer und Wolfgang Overath aus. Es war vermutlich gerade 1974.