Sonntag, 1. Juni 2008

Presse-Karriere

Als freier Mitarbeiter bei der Tageszeitung hetzte man von Höhepunkt zu Höhepunkt. Meine persönlichen Highlights waren das Abfotografieren eines Ackers, ein Hochwasser kurz vor Weihnachten, ein Pressefrühstück mit John Watts, die Einsegnung einer Feuerwehrspritze sowie die Einweihung eines Jugendraums im Gemeindehaus. Ach ja, und die Vorstellung einer Dorfchronik. Ja, und natürlich das Feature über den Star-Trek-Fanclub.
Auf dem Acker sollte ein Steinbruch entstehen. Die Zeitung benötigte ein Foto. Ich fuhr zum Ortsvorsteher, ließ mir von ihm den fraglichen Acker zeigen und fotografierte ihn. Beim Wenden blieb ich mit dem Auto in einer Schlammkuhle stecken. Am nächsten Tag war es in der Zeitung: das Foto eines Ackers. Eine Autoreinigung kostete damals circa fünf Mark, da war ein Viertel meines Honorars also schon wieder weg.
Während des Hochwassers fuhr ich ein bisschen herum, befragte den Bürgermeister, machte Fotos und musste den Film dann gleich ins Verlagshaus bringen. Leider war nicht nur unser Nebenflüsschen angeschwollen, sondern auch alle anderen Flüsse, so dass mitten im Vorweihnachtstrubel einige Einfallstraßen in die Stadt gesperrt waren. Deswegen gab es einen Riesenstau, in dem sich nichts mehr bewegte. Ich ließ den Karren am Stadtrand stehen, marschierte zu Fuß im dichten Regen zur Zeitung und gab den Film ab. Eines meiner Fotos schaffte es in die Katastrophen-Sonderberichterstattung, ich erhielt 20 Mark Honorar und verbrachte Weihnachten mit Grippe im Bett.
Zum Pressefrühstück mit John Watts (Fischer Z) waren alle Presseorgane der Region geladen. Ich war der offizielle Vertreter des Presse-Obermotzes. Die anderen Wichte von den Wichtel-Blättchen und vom qualitätsbewussten Privatradio tauchten mit hochprofessionellem Equipment auf - Diktaphon, gewaltige Kamerataschen, Spiegelreflex mit tausend phallischen Objektiven - ich hatte einen Ringblock und eine Pocket dabei. Die anderen laberten viel herum mit John Watts, stellten ziemlich blöde Fragen in ziemlich schlechtem Englisch, fraßen und soffen den Pressefrühstückstisch ratzekahl leer und vernaschten die alternden Groupies, ich schrieb bloß mit, schoss draußen ein Foto des verblassenden Stars und klopfte einen halbwegs akzeptablen Text in die Tasten. Zu seinem Konzert ging ich später auch noch, weil ich Freikarten hatte. Hm, ja, Freikarten, die bekam man nachgeschmissen als „Presse“.
Die Einsegnung der Feuerwehrspritze, auf die ich mich echt gefreut hatte, fiel aus, was ich aber erst erfuhr, nachdem ich anderthalb Stunden dumm in dem Kaff herumgelungert hatte. Der Pastor hatte Durchfall oder die Spritze stand im Stau, möglicherweise auch umgekehrt. Bei der Einweihung des Jugendraums passte ich mit der Pocket den perfekten Moment der symbolischen Schlüsselübergabe ab, es wurde das schönste Foto meiner journalistischen Karriere.
Bei der Vorstellung der Dorfchronik hingegen hatte ich den Film falsch eingelegt, und die Fotos wurden nix. Dafür fand die Veranstaltung in unserer Nachbargemeinde statt, der Bürgermeister identifizierte mich sofort als a) Presse und b) Einheimischen, was ihn in seiner Rede zu irgendwelchen Peinlichkeiten trieb, als er sich bei der Presse für die Anwesenheit bedankte und zugleich darauf hinwies, dass ein „Kind unserer Gemeinde“ inzwischen bei der Presse arbeite und heute Abend hier sei, um „den feierlichen Moment zu verewigen“ und als Mitglied der schreibenden Zunft in die Fußstapfen des Autors der Chronik trete, womit für die nächste Generation hochintellektuell fabulierender Gemeindemitglieder gesorgt sei. Es hätte nur noch gefehlt, dass er gefordert hätte: „Mach meiner hässlichen Tochter ein Kind.“ Der Saal war gerammelt voll, alle starrten mich an, ich wurde eventuell rot, die Kollegin vom Gratis-Wochenblättchen lachte mich professionell aus. Und das obwohl sie hier die graue Maus war.
Streng genommen wollte ich ja gar nicht bei der Presse arbeiten, streng genommen war ich nur anwesend, weil ich zu dieser fatalen Phase meines Daseins nicht wusste, was ich sonst mit mir anfangen sollte. Es war eine Art Selbstläufer, Determinismus geradezu, ich geriet schon in eine Journalistenrolle, noch bevor ich das Wort überhaupt buchstabieren konnte. Hauptsächlich deswegen, weil mein Vater „bei der Zeitung“ arbeitete, allerdings bei den Anzeigen, und der Sohn natürlich ganz eindeutig auch in diese Richtung tendierte. Das meinte schon meine Oma.
Ziemlicher Kack. Dauernd rumrennen und –fahren für Groschenhonorare, biedere Texte fürs Publikum schreiben, die Redakteure einem dann noch flacher umschreiben oder auf Format kürzen oder irgendwelche Trolle in der Herstellung einem durch Korrekturen verhunzen. Einer machte aus den Rasta-Locken des Bassisten der Levellers mal „Raster-Locken“. Na ja, Provinz eben.
Mit dem Star-Trek-Fanclub habe in der zweiten offiziellen Club-Sitzung eine Foto-Session gemacht und einen Artikel über ihn geschrieben, der dann auch wieder zurechtgestutzt wurde. Bestenfalls die Hälfte war noch von mir. Der Quatsch mit den Trekkie-Uniformen war damals in, und diese Freaks galten in bürgerlichen Kreisen eine Zeitlang als exotisch. Es war mein letzter Artikel für die Lokalredaktion. Den Auftrag, den ersten offiziellen Guildo-Horn-Fanclub zu porträtieren, ließ ich so lange liegen, bis sie jemand anders dorthin schickten, jemand, der zuverlässig war und mit Leib und Seele Journalist werden wollte.

Echte Leidenschaft hingegen herrschte in dem festen freien Job bei der Zeitung: Sportaufnahme. Ich habe zu einem früheren Zeitpunkt schon mal kurz darauf hingewiesen. Siebzehn Jahre lang, fester Tarif, fester Mitarbeiterstamm und ein unerschöpfliches Reservoir grotesker Begebenheiten. Wir schrieben Sonntagabends Lokalfußballberichte vom Band ab, später wurde es moderner, und wir saßen an Computern und in der Mitte eines hyperschicken Netzwerks, auf das alle mächtig stolz waren, vor allem die Medienyuppies. Zuvor gab es nur: Telefon, Aufnahmegerät, Schreibmaschine. Sowie jede Menge Schreibtische und Zeug zum Herumstöbern, genervte, grummelnde Redakteursleichname, mit denen wir den Raum teilen mussten und die uns schon mal das Aufnahmekabel durchschnitten, weil sie uns und unser Getippe hassten. Scharfe Redakteurinnen, mit denen wir den Raum teilen durften und denen wir schöne Augen machten, wenn sie anwesend waren, und obszöne Gesten, wenn sie den Raum verließen. Ich kenne heute noch jedes einzelne Dorf der Großregion mit Namen sowie seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Spielgemeinschaft. Ich war nie in diesen Orten, aber die SGs kann ich immer noch runterbeten wie ein Mantra. Unter uns befand sich damals ein aufgehender Stern am Journalistenhimmel, wir wussten es nur noch nicht. Aus ihm wurde später genau jener Südamerika-TV-Korrespondent, der vor zwei Jahren für nationale Erheiterung sorgte, als brasilianische Fans nach dem WM-Achtelfinale ihn im Überschwang live aus dem Bild katapultierten und plattzutrampeln schienen. Wenn ich ihn heute auf dem Schirm sehe, nenne ich ihn immer noch den "Mann, der sein Handwerk bei mir gelernt hat."
Was hatten wir noch? Besoffene Mitarbeiter am Telefon, gesungene Sprechchöre im Hintergrund und klirrende Gläser, komplette drei leere Zeitungsseiten, anfangs sogar vier, die wir mit Text zu füllen hatten, komme, was da wolle. Myriaden unidentifizierbarer Torschützennamen, nicht aktualisierte Vereinslokallisten, deren Telefonnummern uns in die Irre führten. Es kam u.a. ständig zu folgendem Dialog, wenn ich das Vereinslokal Igelmund in Unterhempelsbach anrief:
Rappatter-rapatter (Wählgeräusch, zwölf Mal Klingeln)
Circa 98jähriges Mütterchen: „Igelmund?“
Ich: „Guten Abend, Sportaufnahme hier. Ich würde gern die Ergebnisse vom heutigen Spieltag erfragen.“
„Igelmund?“
„Hallo? Ja? Sportaufnahme. Könnten Sie mir die Spielergebnisse von heute geben? D-Liga?“
„Igelmund?“
„Sportaufnahahahme. Fußballergebnisse. Deeee-Liga. Eifelkreis. Von heute.“
„Igelmund?“
„O je.“ (beende Gespräch).
Zudem saßen wir nahe am Getränkeautomaten, durften die Bude vollqualmen, uns scheußliche Frisuren wachsen lassen und Finger- und Zehennägel schneiden, in fremder Leute Schreibtische kramen, Pressematerial mitgehen lassen, Büroklammern in Laufwerkschächte stecken, hatten Blick in eine gegenüberliegende Frauenarztpraxis, in der aber Sonntagabends natürlich nie jemand war außer der Putzfrau, die an gynäkologischen Gerätschaften herumwienerte. Wenn die Putzfrau fertig war und gegenüber das Licht ausschaltete, zerrissen wir vor Gram Manuskriptpapier in kleine Stücke, schrieben erotische Fortsetzungsromane oder klauten scharfe Pressefotos von Sheryl Crow. Nebenan schiss irgendein cholerischer Redaktionsleiter gerade einen Volontär zusammen und ließ das Großraumbüro erzittern. Na, da waren wir doch verdammt froh, dass wir hier ohnehin keine Zukunft hatten, weil wir nur als Aushilfstrottel gebucht waren, als Tippvieh.
Presse? Meiner Meinung nach wird die gewaltig überschätzt.