Heute würde Oma Tilly 100 Jahre alt. Sie war nicht nur meine Großmutter väterlicherseits, sondern auch meine Patentante, was dazu führte, dass sie sich während Kindheit und Jugend gleich doppelt rührend um mich kümmerte. Ihr Haus lag nur einen Steinwurf von unserem entfernt. Dauernd steckte sie mir Fünf-Mark-Stücke zu, was damals einem Vermögen gleichkam. Oma Tilly war ein Fixstern, und das bei weitem nicht nur in pekuniärer Hinsicht. Sie war schlicht, aber offen, ein bisschen ängstlich, aber stets freundlich zu jedem, gerne auch zu Drückern oder Zeugen Jehovas. Außerdem kochte sie die besten Kniedeln diesseits des Rio Pecos. Das Geheimnis der Zubereitung nahm sie 1984 mit in die bessere Welt hinter dieser. Opa Pitter überlebte sie um vierzehn Jahre. Sie war der Inbegriff der Oma vom Land. Korpulent, rotwangig, mit dicker Brille, herzensgut, katholisch, auch schon mal ein bisschen störrisch. Wenn der letzte im Haushalt verbliebene Sohnemann nach der Arbeit nach Hause kam und die Bildzeitung mitbrachte, übermalte sie den Nacktmodellen auf Seite eins erst die Hupen mit Kugelschreiber, dann las sie das Blatt. Oft sehe ich sie noch um ihr Haus schlurfen oder nachmittags in der Sonne sitzen. Herrje, wie die Zeit vergeht und sich zu Bildern aus einem romantisch-faulen Sommernachmittagstraum verklärt, als sei man in eine Eichendorff-Novelle gebeamt worden.
An kalten Wintertagen und sonstwie bei schlechter Witterung hingegen konnte man mit Oma Tilly irrsinnig gut Fernsehen schauen, denn sie interessierte sich für Geschichten, reale wie fiktive. Sie interessierte sich überhaupt sehr für die Welt jenseits des Horizonts. Ich setze mich demnächst mal wieder ein bisschen zu ihr hinters Haus und erzähle ihr, was es so Neues gibt.