Es gibt diese überlieferte Geschichte von einem Wipers-Konzert in Deutschland. Der Gig hatte noch nicht begonnen, das Publikum war aber größtenteils schon anwesend. Als ein langer blonder Schlacks mit Gitarre die Bühne betrat, jubelten die ersten, aber der Kerl stöpselte lediglich sein Instrument ins System, stellte es neben einen Lautsprecher und drehte das Volumen voll auf. Dann setzte er sich mit dem Rücken zum Publikum im Schneidersitz auf die Planken und lauschte in sich versunken mehr als fünf Minuten den Rückkoppelungen. Die, die sich nicht auskannten, dachten, er sei ein etwas ausgeklinkter Roadie, aber als das Konzert schließlich begann, erwies sich der Typ von vorhin als der Chef selbst, und dies war sein Soundcheck gewesen.
Die Platten, die etwa zu dieser Zeit entstanden, bilden die zweite Wipers-Trilogie. Sozusagen Der Herr der Ringe des Gitarrenrocks. Der Punkrock-Sound der ersten Trilogie, der an sich schon mächtig dicht war, wird noch weiter verdichtet, andererseits aber auch aufgebrochen. Er erhält klare Blues- und Rock’n’Roll-Phrasierungen, mit denen dann höchst merkwürdig umgegangen wird. Ich stieß seinerzeit auf dem Höhepunkt der eigenen Pop-Punk-Phase auf diese zweite Trilogie und dachte beim Reinhören verwirrt: „Herrje, ist das jetzt Blues, oder was? Seit wann hör ich denn Blues?“ Ich lauschte genauer, versenkte mich fatalerweise darin und fand nicht wieder heraus aus diesen faszinierenden Schwingungen. Pop-Punk war mir danach egal, weil weltanschaulich zu simpel gestrickt, zu collegebürschchenmäßig. Wir wollten ja auch irgendwann mal erwachsen werden, und wir sind, wie wir ja alle wissen, nicht nur hier, um Spaß zu haben. Die zweite Trilogie ist durchdrungen von einer elektrifizierten Wehmut angesichts all der Unabänderlichkeiten der Welt, von einer geisterhaften Anmut, eingebettet in eine swingende, hallende Syntax des Zorns.
„Just A Dream Away“, Eröffnungstrack dieser Phase, ist prototypisch. Ich identifiziere darin drei Gitarren. Die stoische Rhythmusgitarre, mit der der Midtempo-Song beginnt und die zusammen mit der disziplinierten, nahezu ordnungsfanatischen Rhythmusgruppe den Track unbeeindruckt zu Ende spielt. Dann die klirrende, tremolierende, typisch wipereske Leadgitarre. Und dazwischen tummelt sich noch eine weitere, ein schweres, knurrendes, tumultöses Ding von der Farbe und den Abmessungen einer aufziehenden Gewitterwolke. Sie dient als Verbindungsstück, spielt mal mit der Rhythmusgitarre mit und umschlingt im nächsten Moment die Leadgitarre, erdrückt die Tremolos und Motive, bevor sie noch richtig ausformuliert wurden. Dann verkehren sich oben und unten: Sie kommt nicht als Gewitter in die Szenerie hereingezogen, sondern stattdessen über den Boden gekrochen, über den Urgrund herangeschlichen, pflückt all die hübschen hellen Töne mit einem Sprung in die Höhe aus der Luft und verschlingt sie.
Land of The Lost, die erste Platte der zweiten Trilogie, bringt einem Wunderwerke zu Gehör, der Nachfolger Follow Blind formuliert die Sound-Strategie weiter aus, und die Kommunikation der Instrumente verfolgt einen bis tief ins Unterbewusstsein. The Circle endet 1988 schließlich mit einer versöhnlichen Gelassenheit, bei der man ahnt: Das ist es, das Erwachsensein.
Die Welt wartet derweil auf das Wipers Box Set Vol. 2, in dem diese Alben digital remastered vorgelegt werden, vielleicht sogar mit ein paar Bonusstücken. Man wird ja noch hoffen dürfen.
Weil heute Karfreitag ist, wurde nebenan im Soundtrack das gesittete “Be There” installiert, bei dem schon gestandene Kerle geheult haben wie die Wasserspeier.