Anfangs kommt man sich schon etwas verloren vor zwischen so vielen Leuten, die man eigentlich kennen sollte. Manche schauen einen seltsam an. „Ist der auf der richtigen Feier?“, mögen sie heimlich denken. „Oder ist das einer dieser Event-Schnorrer?“ Ein 25jähriges Abi-Jubiläum ist eine hervorragende Gelegenheit für Schnorrer. Ich hingegen muss konstatieren, dass ich die Gesichter sofort erkenne und nur in wenigen Fällen die Namen nicht mehr parat habe.
Nach dem Aufwärmsektchen geht es dann so langsam in medias res im historischen Frankenturm zu Trier. Über das obligatorische „Mein Haus, mein Auto, meine Jacht“ sind wir in dem Alter hinaus. Es geht eher um „Meine zweite Scheidung, meine Knie-OP, meine Bonusmeilen“. In der Begrüßungsrede des Organisators erfährt man, dass der eine verstorbene Mitschüler nicht, wie vermeldet, überfahren wurde, sondern schwer krank war. Das ist noch bedenklicher. Und ein pensionierter Lehrer ging vor vier Wochen in die Mosel. Auch wegen Krankheit. Für einen im Prinzip unsportlichen Typen wie mich ist es nicht ganz einfach, mit einem Sportlehrer angenehme Erinnerungen zu verbinden, aber an den äußerst fairen Unterricht dieses Mannes erinnere ich mich gern. Zwei andere Lehrer sind da, der eine, fast achtzig, gebärdet sich so jovial, dass er phasenweise alles an sich zu reißen droht. Der andere ist so frisch, dass ich zuerst denke, er gehört zum Jahrgang – bis ich in ihm allen Ernstes meinen Mathematiklehrer erkenne, nur ohne Bart. Mit dem jovialen alten Mann gehe ich natürlich höflich um, aber ich habe ihn damals schon nicht gemocht, und das prägt fürs Leben. Nun sitzt er aber an unserem Tisch.
Ja, auf der oberen Ebene des Turms sind Tische eingedeckt wie bei den besseren Leuten. Das Buffet ist fein, aber nicht überfein. Ich spreche den Kartoffeln in Pfeffersauce und dem Lachs zu. Für das Gesöff stehen 700 € Spenden zur Verfügung. Als die aufgebraucht sind, geht der Organisator herum und sammelt. Es wechseln Hände voller beeindruckender Fuffziger den Besitzer, ich habe aber nur noch einen Hunderter, und das ist mir zu viel der nachträglichen Spende. Zumal ich mich ohnehin nicht zuschütten kann. Muss ja nachher noch aufs Dorf raus. Ich komme mir schäbig vor. Aber nur ganz kurz. Also doch Schnorrer.
Für einige der alten Kumpels sind sofort die alten Sympathien wieder da. Es mögen noch so viele Jahre dazwischen liegen, immer ist es so, als sei keine Zeit vergangen. Sie verändern sich nicht. Okay, sie werden fülliger, aber innen drin alles wie gehabt. Es sind, wie mir auffällt, meistens die No-Bullshit-Typen, die stabilen. Die Jungs, zu deren Kindergeburtstagen man damals schon eingeladen war und die man selbst einlud, sind eben auch heute noch die erste Wahl. Es zeigt sich auch eine gewisse Grundschwingung zwischen den wenigen Teilnehmern des Deutsch-Leistungskurses. Es ist keine Freundschaft, auch nicht direkt Sympathie, sondern jene Art stiller Wertschätzung, die Überlebende einer Frontkompanie untereinander teilen. Man nickt sich zu und weiß.
Eines der wenigen anwesenden Mädels macht ein gestelltes Foto von mir mit einem anderen Mädel im Arm. Ich habe mit dieser Dame im Arm in neun Jahren Gymnasialzeit nie auch nur ein Wort gewechselt. Während der spontanen Foto-Session übrigens auch nicht. Und die etwas füllige Metzgerstochter von damals ist jetzt so schlank und zierlich, dass ihr Kopf zu groß zu sein scheint. Sie war Karnevalsprinzessin irgendwo an der Mosel. Parallelgesellschaft. Etwas verspätet kommt der Bursche, der denselben Vornamen trägt wie ich und am selben Tag Geburtstag hat, aber ansonsten ein vollkommen konträrer Typ ist. In einigen Tagen ist es wieder so weit mit dem Geburtstag. Großes Hallo, vorausgreifende Glückwünsche. „Fühlst du dich so alt, wie du bist? – „Ja, so fühle ich mich“, sagt er. – „Also, ich bin immer wieder aufs Neue überrascht“, meine ich.
Als erstaunlich erweist sich das zufällige Zusammenstehen mit dem langen Kerl, der damals immer ein bisschen abgedriftet wirkte und mit dem ich nie engeren Kontakt hatte. Er ist immer noch abgedriftet, und er ist Psychiater in Köln. Er hat eine ironische Ader, die die Ausmaße des Nildeltas erreicht, und einen tiefschwarzen Humor, ist dabei aber völlig unaffektiert und verzieht meist keine Miene. Wir verbünden uns, wie wir da in der Ecke stehen, und tuscheln in mysteriösen, ad hoc verschlüsselten Volten über die Hackfressen. Er erfindet den Begriff „Semi-Hackfresse“, und sein Lieblingswort lautet „regressiv“. Den übermäßig jovialen Ex-Lehrer hält er „für ein Hologramm“. Wir tauschen E-Mail-Adressen aus, denn er ist oft in der Südstadt. Da gibt es die größte Therapeutendichte in Köln.
Als dann, nach etwa sechs Stunden, der Moment kommt, in dem der angeheiterte Organisator von Tisch zu Tisch schwankt und jedes harmlose Bonmot schlüpfrig grinsend zu einem Herrenwitz uminterpretiert, merke ich, dass es Zeit ist zu gehen. So viel darf ich ja gar nicht saufen, wie ich jetzt eigentlich müsste.