Nach dem Umzug in die Südstadt wurde ein Langzeitprojekt in Angriff genommen. Jeweils eine Christmette in einer der zwölf romanischen Kirchen Kölns. Jedes Jahr eine andere.
Das erste Jahr galt noch der nicht-romanischen (aber immerhin neogotischen) Kirche St. Paul in unmittelbarer Nachbarschaft, die sozusagen unsere „Gemeinde“ darstellt und deren Pfarrbrief wir regelmäßig im Briefkasten vorfinden. Aber danach ging’s dann richtig los.
Erst war St. Severin dran, kurzer Fußmarsch nur. Das Jahr darauf ging es zu St. Georg, direkt am Stadtarchiv-Loch. Volles Haus, ganz hinten gesessen und gefröstelt. Ich erinnere mich an eine progressive, fast ein bisschen aggressive Predigt, die mir gefallen hat. Im Schneeidyll des letzten Jahres wanderten wir zu St. Pantaleon und zum Theophanu-Grab. War der allerschönste Anblick bei dem Schnee und im Dunkeln, das reinste Postkartenmotiv, aber die konventionellste und schlechtbesuchteste Mette. Nicht mehr als fünfzig Leute in dem Riesending.
Dieses Jahr besuchten wir die vierte romanische Kirche und machten ein Drittel des Langzeitprojekts voll. Es ging zu St. Maria in Lyskirchen (1210/20). Diese kleine, dafür umso schönere Kirche ist für Christmetten während Wirtschafts- und Währungskrisen eindeutig nicht ausgelegt. Wir kommen 25 Minuten vor Beginn, und sogar die Stehplätze sind schon knapp. Also irgendwo an den Rand hinter einen Pfeiler verkrümelt, still die Leute begutachtet und im Stehen der Weihnachtsandacht gefrönt. Müssen dann etwas nach vorne tippeln, denn ich stehe direkt auf der Heizung, und nach einer halben Stunde hätte man mich als Flüssigkeit in einem Wischmopp nach Hause tragen können, um mich über dem Waschbecken auszuwringen. Immerhin stehen wir jetzt direkt an der berühmten, wirklich tollen Kölschen Milieukrippe und können sie während der etwas zäheren Passagen im Gottesdienst ausgiebig bewundern.
Ich liebe den Geruch von Weihrauch am Abend. Von dem gibt es reichlich, lecker, aber sonst ist nur wenig Brimborium. Nicht mal Messdiener. Sympathisch, wie leidenschaftlich der Priester die Weihnachtsbotschaft paraphrasiert. Er stampft sogar mit den Füßen auf, gestikuliert feingeistig und umschreibt das verderbliche Schreiten von Soldatenstiefeln (abgeleitet aus der obligatorischen Lesung aus dem Buch Jesaja) mit „Knirsch, knirsch, knirsch“. Die Frau neben mir kickelt. Ein Tenor singt. Der Organist ist gut drauf. Die Gabenbereitung findet auf dem Gang mitten unter den Leuten statt. „Wir tragen jetzt mal gerade einen Tisch rein.“ Ich betrachte derweil die Krippe und die 120 Kerzen über meinem Kopf.
Nach insgesamt eindreiviertel Stunden im Stehen sind die Füßlein etwas platt und der Rücken zieht spürbar an der rechten Seite. Standbein, Spielbein. Der Rückmarsch zu Fuß ist Pflicht, um den Kadaver wieder zu wecken. Georg- und Severinstraße sind hell erleuchtet, kaum jemand ist unterwegs, nur ein paar Leute rennen mit Tüten oder Flechtkörben herum, aus denen die Geschenke lugen. Offensichtlich warten irgendwo noch Kinder auf ihre Bescherung. Vor dem Seniorenstift und dem Krankenhaus holen Autos die alten Mütter ab. Zu Hause angekommen, lebt der Kadaver wieder, und aus dem Fenster des wohlhabenden Nachbarhauses schallen schiefe Blockflötenklänge. „Sti-hi-lle (pieps) Na-acht. Hei-hi-lige (kreisch) Na-acht. A-ha-lles (flöt) schlä-äft, ei-hei-nsam wa-acht (schrill) …“ So muss das sein.