Onward. Das mag manchem als arg optimistischer Albumtitel erscheinen für eine Band, die in ihrem 43. Jahr steckt und deren Oberhaupt bald die 71 Lenze erreicht. Nach all den Jahrzehnten des stetigen Tourens unter eklatanten Phonzahlen müssten sowohl die Band wie auch ihr Publikum eigentlich längst tot sein. Oder zumindest taub wie eine Pfahlbausiedlung. Und um den Verstand gebollert, gerifft, gezischt und stroboskopiert sowieso. Nun ja, einige relevante Personen sind ja auch tot. Das Spaceship hat sie auf diesem oder jenem Planeten begraben, ihnen einen ausgebrannten Verstärker oder eine zerschmetterte Gitarre als Grabstein dagelassen und ist weitergeflogen auf der „never ending journey to the edge of time“. Onward eben.
Kaum eine Uralt-Band hat derart oft die ledrige Haut abgestreift und ist – trotz der allzu irdischen Querelen – immer wieder als Space-Crew aufgetreten, mal ungünstig zusammengewürfelt, mal tight und straff und aufeinander eingespielt wie kaum jemand sonst. So etwas hielt jung. Aber während der Nuller-Jahre schien es dann doch langsam so, als würde das Triebwerk nur noch fauchen statt brennen und das Spaceship eher driften, als Richtung „Onward“ das Vakuum zu durchpflügen. Die neugefundene Besetzung von 2009 – wie so oft hauptsächlich eine Verlegenheitslösung – brachte jedoch den Span wieder zum Glühen. Mit Sound und Songwriting, hartem Live-Brett und konzertanen Studioexkursen. Es erscheint in der Hawkwind-Saga schon fast als Kuriosum, dass Onward von exakt derselben Crew eingespielt wurde wie der Vorgänger Blood of the Earth: Brock, Chadwick, Blake, Dibs, Hone. Und es ist wirklich ein Weilchen her, dass zwei Studioalben derart schnell aufeinander folgten. Die Crew ist stabil, die Zehner-Jahre-Ästhetik ist stabil. Kurs „Onward“. Nun ist sie endlich da, die neue Platte, eine Doppel-CD mit Bonusmaterial. Achtzehn Tracks, 82 Minuten nichts als Sound und noch mal Sound.
Ich gebe zu, ich hätte es selbst kaum für möglich gehalten, dass die Band noch mal zu einer solchen Form aufläuft. Onward ist ein herausragend gutes Hawkwind-Album, das zu den Top Ten besagter 43 Jahre gezählt werden muss. Modern, kreativ, ruppig. Blood of the Earth war offenbar nur ein Atemholen, eine erste Sondierung, zu was die neue Besetzung fähig sein könnte. Onward kommt nun daher als optimierter Raubsaurier in schillerndem Schuppenkleid. Ein Kampfkoloss from Outer Space.
Die Opener, die beiden miteinander vertäuten „Seasons“ und „The Hills Have Ears“, schmettern einem schon mal gleich die Zwiebel aus dem Schädel. Sie platzieren schwere Metal-Artillerie auf den Hügelkämmen und legen los. Meine Herr’n, das hollert im Tal! Schnelle Riffs, angetrieben von dem typischen melodieführenden, brachial-ziselierten Bass, Richard Chadwicks Getrommel und Dave Brocks förmlich herausspritzender Lead-Gitarre. Die psychedelischen Leads im zweiten Stück spielt Gastmusiker Huw Lloyd-Langton, und man erkennt den alten Recken sofort wieder. Dazu gibt es alarmistische, drängende Melodiebögen, die klarstellen, warum diese spezielle Musik einst als Missing Link zwischen Hippie- und Punk-Kultur galt. Dazwischen kommt es zu verblüffenden Phasen des elektronischen Waffenstillstands, so gezwirbelt und unberechenbar, dass völlig unklar ist, wann die nächsten Schläge erfolgen. Aber sie erfolgen, so viel ist sicher. Tatsächlich ist die Schlussoffensive von „The Hills Have Ears“ das Enthusiastischste, was Hawkwind seit 20 Jahren eingespielt haben. Da wirbelt das bisschen verbliebene Haupthaar des Hifi-Anlagen-Nutzers wie von selbst, und die Wampe schlackert bedenklich. Und wie lange hält der Nacken das noch aus? Die Verschnaufpause, die einem „Mind Cut“ danach offeriert, wird gerne angenommen: ein netter Brock-Output mit Seventies-Flair und Akustikgitarre, floydianisch geradezu. Gerüchten zufolge stammt der Rohbau dieses Stücks aus Dave Brocks Straßenmusikerzeit, also so 1967/68.
Das alles ist unverschämt dichter Eklektizismus, bei dem das Kollektiv wie üblich zusammenspielt, alle zugleich auf der Szene sind und eine wunderbare Unübersichtlichkeit erzeugen, selbst in einem ausbaldowerten Song wie „The Prophecy“, bei dem Dave Brock sich seiner alten Tugenden erinnert: Mach es einfach, mach es schön. Und Richard Chadwick steuert ein paar rhythmische Unberechenbarkeiten dazu bei. „Southern Cross“ hingegen erweist sich als Kreuzung aus den Stücken „Green Machine“ und „Going to Hawaii“ und ist eines jener hawkwindtypischen Audio-Äquivalente einer National-Geographic-Fotostrecke. Vor allem Chadwicks tolle rhythmische Ausgestaltung und Blakes symphonische Kaskaden machen es zu einem Ereignis. „The Drive By“ ist eine von unaufhörlichen Soundwellen, Gitarrengejammer und Synth-Kaskaden umspülte Drum’n’ Bass-Exkursion, die im Abgang stark nach Chemical Brothers schmeckt, während das mächtige Stakkato-Ungeheuer „Computer Cowards“ sich mit zornigen Worten und eindeutiger Ablehnungspose dem Shitstorm-Phänomen widmet und der Tatsache, dass kleine Würstchen anonym ihre Bedeutungslosigkeit kompensieren möchten, sobald sie einen Computermonitor vor sich haben.
Der alte Punkrock-Song „Death Trap“, einziges Remake unter den ansonsten frischen Stücken der ersten CD, gerät zum tuckernden, freischwingenden Industrial-Funk. Genau so sollte sich eine Neuaufnahme anhören, die sage und schreibe 34 Jahre überbrückt. Was für ein Drive, was für Lärmattacken, was für Hammerschläge! Auch die kleinen Zwischenstücke „Electric Tears“, „Howling Moon“, „Deep Vents“ sowie das Schlussstück des „Mystery Track” verdienen unbedingt Beachtung, sind sie doch lupenreine musique concrete und gestalten vielleicht noch stärker als die gestrafften Songs den audiophilen Abenteuerspielplatz aus, den Onward darstellt.
Bis Track-Position 11 ist mit diesem Album nicht nur alles in bester Ordnung, es ist ein Spacerock-Meisterwerk, das einen mit imponierender poetischer Leichtigkeit und brutaler Sound-Hyperaktivität an die Wand dübelt, bis man sich nicht mehr wehren kann. Danach wird es etwas seltsam.
Die drei „Bonustracks“ finden sich mittendrin im Geschehen, nicht ans Ende geklatscht, wie anderswo üblich, und bilden eine eigenartige Sequenz, die in die Syntax des Albums parenthetisch hineingequetscht wurde. Die Stücke stammen von 2007/8, und an ihnen wirkte noch der verstorbene Keyboarder Jason Stuart mit. Es scheint sich um Studio-Sessions zu handeln, die auch soundtechnisch aus dem Rahmen des Albums fallen. Die Neuaufnahme von „Right to Decide“ (1992) ist nett gemeint, aber der wie von 1973 importierte Sound dampft die gleißenden Gitarrenpop-Obertöne des Originals ein. Erkenntnisfördernd ist hingegen das Remake von „Aero Space Age (Inferno)“, das mehr denn je durch eine schwere, treibende Rhythmusgruppe auffällt, während die Gitarre etwas nach hinten geschoben wurde und eine allgegenwärtige bedrohliche, unterschwellige Stimmung erzeugt. Es ist gut, dass dieser starke Song das Album nach hinten raus noch mal anhebt. „The Flowering of the Rose“ ist ein Studio-Jam, an und für sich nett und schön virtuos, aber er wirkt, als hätte er sich auf dieses Album verirrt. Jedenfalls schaut er ein bisschen orientierungslos aus der Wäsche. Das Remake von „Green Finned Demon“ erschien bereits 2011 als Download, wobei die Einnahmen an die Umweltorganisation „Sea Shepard“ gingen. Das Stück gehört zu den schönsten der Band, aber das Remake wurde zu vollgestellt mit Sound, die zahllosen großartigen Effekte des Original von 1984 verschwinden darunter, die melancholische Note auch, und ihm fehlt das unterschwellige, aber bissige Riff, das diese Meditation über submarine Fantasy-Ästhetik damals befeuerte. Der grünflossige Dämon wird hier eher ersäuft. Glücklicherweise passiert das bei keinem anderen der Stücke.
Von entscheidender Bedeutung sind unter den Tracks 12-18 der hypernervöse Proto-Techno-Flirrer „Trans Air Trucking“ sowie der abschließende, verborgene „Mystery Track“, eine Spoken-Word-Rezitation, die von bunkerbrechendem Stoner-Rock und HW-typischem Blanga vorangetrieben wird und in einer formidablen dreiminütigen Sound-Collage endet, die einen mit kreischenden Ohren und hochbefriedigt zurücklässt.
Die etwas merkwürdige Balance des Albums, die im dritten Viertel ins Wanken zu geraten droht, ist der Tatsache geschuldet, dass die Band die Fans bedient und ihr Marktkonformität und kommerzielle Geschmeidigkeit herzlich egal sind. Ein kommerziell denkender Produzent hätte das dritte Viertel des Albums schlicht gestrichen – und wäre dabei immer noch auf eine beträchtliche Laufzeit gekommen.
Was also haben wir hier vor uns? Ein Bandkollektiv, das tut, was es will. Das sein eigenes Genre ist. Das kein zweites Mal in diesem Universum existiert. Es kann brutaler bolzen als jede andere Saurier-Band, anspruchsvoll konzertan jammen und „proggig“ sein oder entspannt sein musikalisches Pfeifchen rauchen. Es driftet eskapistisch durchs All und huldigt der Poesie der Gasnebel, wird dann aber plötzlich sehr irdisch und konkret. Es kann elysischen Pop produzieren, wenn es will, schweren Metal-Punk und Industrial genauso, kann auf Rekreation und Bewusstseinsauslagerung machen, kann hell erleuchtet sein und stockdunkel, ruhig und hibbelig. Und es versteckt haufenweise Ideen und Sounds in seinem ureigenen Gasnebel; auf manche stößt man erst beim zwanzigsten Hören.
Neuankömmlinge im Habicht-Universum werden erstmal verwirrt sein angesichts dieser ständigen Kollisionen. Onward arbeitet sich durch die Magengrube übers Rückenmark bis in den Thalamus vor und setzt sich dort fest wie ein Symbiont. Herrschaftszeiten, wenn das so weitergeht, dann erweist sich der Albumtitel doch noch als überaus zutreffend.
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