Ich habe mich mal an den Mitschnittdienst des SWR gewandt, um einer verschollenen Doku-Film-Perle aus dem Jahr 1987 auf die Spur zu kommen. Es ist nämlich durchaus unwahrscheinlich, dass dieses Monument des Dokumentarfilms irgendwo noch mal zur Ausstrahlung gelangt. Ich besaß jahrelang einen VHS-Mitschnitt in bescheidener Bildqualität (geschuldet unserem damals schlechten terrestrischen TV-Empfang), aber das Band ging verschütt. Und das ist ein untragbarer Zustand.
Nun heißt es abwarten, ob der Film im Archiv des SWR (damals hieß er noch SWF) auffindbar ist und wie viel eine Überspielung auf DVD wohl kostet. Die Herrschaften benötigen angesichts zahlreicher Anfragen etwas Zeit dafür und erstellen das Angebot dann individuell. Ich würde den Film nur zu gern unter den Stichworten „Biographisches“ und „Historische Dokumente“ im heimischen Archiv ablegen.
Zwei Wege heißt der Film, ist eine 45minütige SWF-Doku etwa im Stil der späteren ZDF-Sendereihe 37 Grad und lief 1987 im Dritten. Es geht um zwei Burschen eines Trierer Abiturjahrgangs 1986, die unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, was die unmittelbare Zeit danach angeht: Einer will zum Bund, der andere macht Zivildienst. Beide gaben in Vorbesprechungen an, ihre Entscheidung begründen zu können. Das Filmteam begleitet sie etwa ein Dreivierteljahr lang und sucht sie episodenhaft bei ihren jeweiligen Tätigkeiten heim, um vor Ort zu erforschen, wie es ihnen mit ihrer Entscheidung ergeht.
Es war noch Kalter Krieg, das Thema „Landesverteidigung“ zog einen kaum überbrückbaren Graben mitten durch unsere heimelige bundesdeutsche Binnengesellschaft. Es war zeitgeschichtlich höchst relevant. Heute kannste damit die Enkel zu Tode langweilen.
Der Wehrpflichtige aus dem Film, nennen wir ihn mal P. – einfach deshalb, weil es zutrifft –, war unser Schreibstubenhengst. Weil er ein Quartal über mir war, also bereits im Juli 1986 eingezogen wurde und ich im Oktober, bekam ich den Besuch des Filmteams während seiner Grundausbildung im Hunsrück noch nicht mit: Während dieses Sommers ging ich noch dem nach-abituriellen Müßiggang nach. Und das war auch gut so. Aber der zweite Besuch der Filmfritzen (Einsatzkompanie in der Eifel mitten im kältesten Winter der Welt) traf dann auch mich an. Während einer Staatsbürgerkunde-Szene im Lehrsaal bin ich für zwei Sekunden im Bild. Profil, Nahaufnahme, keine Sprechrolle. Womöglich reizte dieser zauselbärtige, nickelbebrillte Freak den Kameramann: Er, der Freak, sah eher aus wie einer dieser gefürchteten Grünen und nicht wie ein Landesverteidiger. Ich kann den Kameramann und den Cutter verstehen. Es blieb allerdings mein bisher einziger TV-Auftritt. Und das ist auch gut so.
Den Mitschnitt gab ich zu Hause bei meinem Vater in Auftrag, während wir Soldaten die Erstausstrahlung des Films nach Dienst auf den Stuben verfolgten. Ich erinnere mich an allerhand Gejohle und daran, dass, als vor der Kamera Ps Freundin zu seiner Wehrdienst-Entscheidung befragt wurde, jemand „Boah, was für Hupen!“ brüllte.
P. war, wie gesagt, der Schreibstubenhengst unseres Zuges und kam kaum jemals an die frische Luft. Er legte meistens in der trockenen, warmen Schreibstube Akten ab, schaute aus dem Fenster, schlurfte in seinem unnachahmlichen Schlurf-Stil über die Gänge und beteiligte sich nebenher an einem Aufsatzwettbewerb des Bundespräsidenten mit der Aufgabenstellung „Warum mein Zugführer mein Vorbild ist“. Seine Stiefel musste er auch nie putzen, denn die wurden drinnen nun mal sehr viel weniger dreckig als unsere draußen. Ja, und eine Zwei-Mann-Stube hatte er ebenso. Wir hingegen wohnten immer zu sechst.
Als das Filmteam anrückte, war es ein wenig enttäuscht von Ps derzeitigen Lebensumständen. Es wollte natürlich ein bisschen zünftige Action filmen. Also wurde dem Fernsehzuschauer gegenüber kackfrech die Illusion von Gefreitem P. als Kampfschwein erzeugt. Man kommandierte den notorischen Innendienstler zu einem Mobilen Fernmeldetrupp ab und schickte ihn und ein paar ausgewiesene Kriegernaturen in die Botanik. P. wurde dorthin gefahren, der Rest marschierte. Da baute das Außenteam dann in klirrender Kälte sein Equipment auf, warf einen Generator an, stöpselte ein paar Stecker in die Vermittlungsstelle – und wurde mittendrin vom Feind überrascht. Alarm! Unter aufstiebendem Schnee sprang Gefreiter P. unter die weiße Grasnarbe und organisierte die Gegenwehr! Es ist eine der anrührendsten Action-Szenen der Filmgeschichte.
Es gab dann noch die erwähnte Szene im Lehrsaal, mit dem sanftmütigen Major als Star am Referentenpult. Dem Zuschauer sollte ein bisschen politische Bildung seiner Soldaten suggeriert werden. Als die Filmtypen endlich weg waren, übernahm der Zugführer das Pult, und es ging wieder um unser Lieblingsthema: Panzererkennung. Und Gefreiter P. schlurfte indes auf seine Schreibstube zurück, denn mit Panzern hatte er es nicht so.
Das wirklich Großartige an dem Film mit dem Titel Zwei Wege ist jedoch, dass er absolut tendenziös ist. Während Gefreiter P. unter offensichtlichem Einsatz seines etwas schlurfigen Lebens das Vaterland verteidigt, verzögert sich andernorts der Antritt des Zivildienstes, und der Zivildienstkandidat hängt nur rum. Und hängt rum. Und hängt rum. Kopfhörer auf, eine bizarre Batikdecke an der Wand sowie Zappa und sonstige Tour-Poster. Gefreiter P. rödelt, und sein Antagonist döst. Und döst. Und döst. Irgendwann dann, potzblitz, sehen wir ihn auf seiner Zivildienststelle beim Roten Kreuz. Er trägt so ein Hilfssanitäter-Leibchen, und seine Hauptbeschäftigung scheint darin zu bestehen, irgendwelche Notizen auf einem Klemmbrett zu machen. Derweil bibbert Gefreiter P. unter der Grasnarbe, während der Pulverdampf übers Gelände weht, Schüsse peitschen und Befehle gebrüllt werden.
Ich bin jedoch nicht der Auffassung, dass der Film damals absichtlich tendenziös geriet. Es lief nur einfach etwas schief beim Casting der beiden Helden. P. war zwar ein Schlurfer, redete langsam, aß langsam, hatte etwas provozierend Dröges an sich, aber er war nun mal verhältnismäßig eloquent und konnte seine staatstragende Mission adäquat vermitteln: Das System, in dem man lebt, zu verteidigen helfen. Wehrpflicht ist gut, denn sie wirkt dem Staat-im-Staate entgegen. Bla, bla. Auch Ps Eltern und seine Freundin – die mit den Hupen – wurden befragt und äußerten sich in zusammenhängenden Sätzen überwiegend pro Bundeswehr und Landesverteidigung. Ps Gegenüber hingegen bewegte sich rhetorisch meist unterhalb der Artikulationsebene, brummte, während er da auf seinem Bett lag, irgendwas von „Friedfertigkeit“ und sonst eigentlich nix. Und das auch noch so hölzern, dass man ihn vom Bettpfosten kaum unterscheiden konnte. Seine alten Eltern, befragt nach ihrer Meinung, verwiesen auf die schlimmen Erfahrungen des WKII und zuckten ansonsten mit den Schultern. Dazu kam natürlich die eklatante Verzögerung beim Auffinden und Antreten der Zivildienststelle, die jene fatalen Gegenschnitte erzeugte, bei denen der Krieger voll die Action hat und der Zivi mit Zappa chillt. Was für ein Faulenzer!
Der Autor des Films hatte sich nun mal bereits im Frühjahr 1986 für diese beiden Typen entschieden und musste sie nun so akzeptieren, wie sie waren. Er hatte gar nicht vor, der Wehrpflicht das Wort zu reden, sondern hat versucht, seine Helden so authentisch wie möglich abzubilden. Dass er da zwei Gestalten erwischt hatte, mit deren zeitgeschichtlicher Relevanz es nicht sehr weit her war, ging ihm vermutlich erst im Laufe des folgenden Jahres auf.
Diese wunderliche Doku mit dem einzigen TV-Auftritt des Hüters dieses Weblogs zeigt, völlig unabsichtlich natürlich, die unendlich banale Seite damals heißumkämpfter Deutungshoheiten. Ein kleines Stück abgebildetes – und manipuliertes – Leben. Und natürlich eine Realsatire, die unbedingt archiviert werden muss. Mach hinne, Mitschnittdienst.