Kein anderes Tull-Album schlenkert und hämmert sich gleich beim ersten Mal so ins Herz wie Songs From The Wood. Man muss diese Platte einfach lieb haben.
Die Rückbeziehung auf die „gute alte Zeit“, dieser historisierende, anti-moderne, warmherzige Habitus, ist eine Illusion und im Sinne eines traditionellen Folkrock genauso authentisch wie das Cover, das mitnichten in der freien Natur aufgenommen wurde, sondern in einer Studiokulisse. Songs From The Wood ist Naturburschen-Design, ein ungeheures Spaßalbum. Post-Hippie und verbindlicher als diese, zugleich Prä-Grüne und viel, viel ironischer – sofern Grüne überhaupt jemals ironisch waren.
Die Botschaft von pastoraler Schönheit und Virilität ist viel zu stark und over the top, als dass sie nicht semi-satirisch gemeint sein könnte, die Musik viel zu ausgefuchst, als dass das „Volksmusik“ sein könnte. Was wirkt wie locker aus dem Ärmel geschüttelt und ständig „Einfachheit!“ und „Unmittelbarkeit!“ ruft, erweist sich beim zweiten Hören als imponierend komplexes Tun, als abenteuerliche Konstruktion aus ästhetischen Bausteinen und Klangfarben. Volkslied, Kunstlied, Renaissance, Jazz, Blues, Hardrock, Psychedelia, Pop, Kirchenlied – eine simulierte Symphonie ruraler Ausgelassenheit, die extrem diszipliniert hergestellt wurde. Was da alles mit- und nebeneinander spielt, versetzt oder auch schon mal gegeneinander, und sich verschränkt zum großen Ganzen, das fordert totale Herrschaft über Material und Instrumentarium. Eine Allgegenwart von Virtuosität: schnelle und schnellste Flöten-, Mandolinen und Gitarrenläufe über Barriemore Barlows saukomplizierten Drum-Mustern, schwerer, funkiger Bass, nahtlose Übergänge, alles perfekt aufeinander abgestimmt, jeder Hall an der richtigen Stelle, jede Synkope sitzt, tausend kleine Effektblüten öffnen sich am Wegesrand.
Die berauschende Inszenierung einer Illusion, die Erweckung einer Traum- und Märchenwelt des Vergangenen und nie Gewesenen.
Glücklicherweise war das Füllhorn danach noch nicht leer. Es folgte im Jahr darauf Heavy Horses mit dem überragenden Titelstück, das einem der ältesten (und am meisten missbrauchten) Freunde des Menschen seine Referenz erweist: Der Ackergaul als Symbol vergangener Zeiten, jahrhundertelang unentbehrlich und ein Garant nicht nur fürs Überleben, sondern für Wohlstand. Das Tier als stolzes, gelassenes, stoisches, friedfertiges Geschöpf – und kaum jemals so unerhört poetisch gefasst wie in diesem Stück, das vom trabend Hymnischen ständig in einen wilden Galopp fallen will.
Songs From The Wood ist ein mythisches Wald-und-Hecken-Album, auf Heavy Horses geht es mehr um Äcker, Pflüge, Wiesen, Feldwege und heimlichen Sex im Freien. Songs From The Wood ist wild, Heavy Horses domestiziert. Es ist eine Kulturlandschaft-und-Agrarökonomie-Platte, allerdings durchdrungen von einer Melancholie, die insgeheim die Zähmung der Wildnis bedauert. Während Ian Anderson im Kontext von Songs From The Wood ein schräges Waldschrat-Image pflegte, den „Jack-in-the-Green“, verwandelt er sich bei Heavy Horses in einen bizarren Gutsherrn. Das Bandfoto auf dem Backcover ist eines der witzigsten der Tull-Historie.
Auf der Platte hört man mehr Streichquartett als vordem, aber auch heftigere Powerrock-Kanonaden („No Lullaby“), die bereits auf das kommende Album Stormwatch hinweisen. Neben solchen „progressiv“ verkomplizierten Tracks versammelt die Band kleine, lebendige, bis in die letzte Note gestriegelte Folkrock-Songs, bei deren robuster Feingliedrigkeit einem die Kinnlade runterklappt. „Acres Wild“, „Moths“, „Rover“ und „Weathercock“ bildeten, zumindest für die Siebziger, den Endzustand des Folkrock ab. Besser und ironischer konnte die Gattung nicht werden.
Heavy Horses ist die definitive Parodie, aber eine ohne Zynismus, sondern mit Respekt und Achtung vor der „guten alten Zeit“ und den Lebensleistungen von Mensch und Tier.