Freitag, 21. Juni 2013

Stormwatch

Mein Lieblings-Tull-Album, eindeutig. Vielleicht wegen der düsteren, bedrückt-melancholischen Stimmung, ganz sicher jedoch wegen der herausragenden magisch-realistischen Lyrik und der Deckungsgleichheit von Form und Inhalt. Man sollte wesensmäßig ein bisschen neben dem rationalen Gleis fahren, um zu diesem Rock-Album zu finden. 
Zuvor präsentierten Ian Anderson und Co. uns die lebensfrohen Folk-Rock-Alben Songs from the Wood und Heavy Horses mit ihrem Lobpreis der Agrarkultur und ihrer Protagonisten, der Landleute. Kent- oder East-Sussex-Alben, Designer-Folkrock auf allerhöchstem Niveau. Sie machten Spaß, weil sie ironisch und sonnig und geschmeidig waren. 
Stormwatch von 1979 schlägt nach wie vor in diese folkloristische Kerbe, verlagert sein Interesse aber weit nach Norden, an die harschen, windigen Nordatlantik-Landstriche, wo die Menhire stehen, die Winde wehen, Wolkenbänke dräuen, am Horizont die Lichter der Ölplattformen blinken und vorgeben, mythischen Verheißungen des Sieges über die Natur zu sein. Aber die Natur schert es kaum, und sie reduziert sie zu Synkopen in ihrem „concert of kings“. Wie macht man sich einen Landstrich untertan, der sich gegen die Anwesenheit der Modernität wehrt? Denn ringsherum herrschen nichts als Landschaft und Entgrenzung und wabern alte Nebelgeister durch die Steinkreise. Und die Menschen starren aufs tobende Element und denken an jene, die draußen geblieben und eins mit ihm geworden sind. 
Dargeboten wird diese Stimmungslage, dieser magisch-realistische Nordatlantik-Roman in Fragmenten, mit perfekter Tull-Inszenierung und jener Virtuosität, die in punkto Songwriting und instrumentaler Könnerschaft alles gibt. Und Anderson lässt den Sound zurückschnippen in Richtung 1975, macht das Hardrock-Fass wieder auf und gönnt Martin Barre ruppige Gitarrenriffs, John Glascock einen anmutigen, beweglichen Bass und Barriemore Barlow schwere Drums. 
Der Favorit auf diesem Album wird immer „Orion“ sein, Rockmusik-Mystizismus mit großer Lyrik. Beherrscht heute keiner mehr. „Dark Ages“ gerät derweil – nomen est omen – zu einem der härtesten und dunkelsten Tull-Stücke überhaupt, und „Something’s on the Move“ kommt mächtig elektrisch dahergepoltert. Dazwischen der wunderbare, psychedelisch angehauchte Designer-Mystizismus von „Old Ghosts“ und „Dun Ringill“ sowie das folkloristische Instrumentalstück „Warm Sporran“. Die zornige Traurigkeit von „Flying Dutchman“ ist unübertrefflich, und hier erreicht dann auch der mystische Zeitkommentar seine perfekte Ausprägung: Die Platte wird endgültig zur Schauergeschichte. Danach kann es dann nur noch die wortlose, instrumentale „Elegy“ geben. 
(Die danach folgenden Stücke jüngerer Stormwatch-Ausgaben sind nachträglich hinzugefügte Bonus-Tracks, teils exzellent und stimmungsmäßig zum Album passend, allerdings verlängern sie den erzählerischen Bogen ungebührlich.)