Stromausfall im gesamten Haus. Alles rennt aufgescheucht herum, rauft sich das Haupthaar und zerreißt sich gramvoll die Gewänder. Leute leuchten mit Taschenlampen in Sicherungskästen und flüstern: „Hauptschalter! Hauptschalter!“ Manche plappern schnell und panisch vor sich hin, von oben erklingen ängstliche Rufe und ungläubige Flüche, Türeschlagen, Füßetrappeln. „Gott hat uns verlassen!“, ruft Frau R. und schließt sich im Bad ein. Leute mit Handys werden im Flur gesichtet, die Gesichter fahl beleuchtet von den Displays, blankes Entsetzen im Blick. Jemand läuft an mir vorbei nach draußen, einen Rollkoffer hinter sich herziehend und Blut an den Lippen, und schreit: „Energiewende!“ Ein anderer ist ganz schwarz im Gesicht, trägt Helm und Grubenlampe und ruft: „Ich wusste es!“ Einige andere Mieter versammeln sich vor dem Haus und blicken in den bedeckten Himmel, als gäbe es dort Antworten zu lesen. „Aha, deswegen also“, sagt die junge Frau aus dem Tiefparterre fatalistisch. Dann kniet sie nieder und betet zum Himmel: „Vergib mir, Herr, ich bin nicht würdig.“ Ich folge ihrem Blick, kann aber nichts erkennen außer einer geschlossenen Wolkendecke. Erste Geißlerzüge formieren sich auf der Straße, Gesänge werden angestimmt. Offenbar ist nicht nur unser Haus betroffen. Ein dicker Politiker wird vorgefahren und beschwichtigt.
Ich, der ich ja eigentlich gerade an der Arbeit sitze, beschließe, in die Wohnung zurückzukehren und sie vorerst zu verrammeln. Sollte der Strom nicht wieder da sein, wenn der Akku des Laptop leer ist, werde ich mich mit den Nordic-Walking-Stöcken meiner Frau gottgefällig züchtigen.
Aber es ist mal wieder alles total unnötig: Nach einer halben Stunde summen die Leitungen erneut ihr elektrisches Lied, und die Wohlstandsgesellschaft ist wieder intakt. Die Straßenreinigung ist auch schon da, um das Blut der Geißler wegzuspritzen.