Donnerstag, 20. März 2008

Klappern

Heute ist Gründonnerstag. Auf dem katholischen Dorf gibt es den Brauch des „Klapperns“, anderswo nennt man es „Kleppern“. Die Jugend des Dorfs zieht durch selbiges, rattert mit Drehklappern und „ruft die Zeit aus“, so wie der katholische Tagesablauf es mal vorsah: Gebetläuten, Angelus, Gottesdienstläuten. Normalerweise erledigen das die Glocken, aber die sind an den hochheiligen Kartagen aus Trauer oder Scham verstummt. Uns wurde damals erzählt, sie seien nach Rom geflogen, was uns insgesamt recht dubios vorkam, denn nie hatte irgendwer sie wegfliegen oder zurückkommen sehen. Von der eventuellen Landung eines Frachtflugzeugs hatte auch niemand etwas mitbekommen. Was genau sie in Rom wollten, entzog sich ebenso unserer Kenntnis. Womöglich wollte der Papst sie segnen oder doch lieber einschmelzen zur Herstellung von Kanonen für die Verteidigung der Christenheit. Die Erwachsenen begingen später einen schweren Fehler, als sie ein Klöppelwerk einbauen ließen, das die Uhrzeit automatisch schlug. Keiner dachte daran, so konsequent zu sein, es über die Kartage abzuschalten. Früher wurde streng darauf geachtet, dass die Glocken in dieser Zeit keinen Mucks von sich gaben, nun jedoch sorgte eine Zeitschaltuhr dafür, dass die Illusion weggeflogener Glocken zerstört wurde. Das Mysterium war keines mehr. Zur Morgen- und Abendstunde wie auch zu den einzelnen Messen musste jemand das Läutwerk manuell betätigen, was jedoch weiterhin unterblieb und bis heute unterbleibt, und so müssen die Klapperkinder ran. Der Brauch erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit, wie es scheint, und es gibt eine ganze Reihe von Schreinern in der Region, die die Klapperkisten neu herstellen, während diese Monster früher innerhalb der Familien vererbt wurden. Ich hatte zuerst die leichte, geliehene von Familie Pallien, weil ich mit der schweren Familienklapper mütterlicherseits nicht klarkam. Später übernahm ich die, und sie war toll. Über das Schallloch an der Oberkante hatte irgendein Vorfahre den verrosteten Boden einer Konservendose genagelt, was dem Ding einen unverkennbaren Klang verlieh: Heavy Metal mit einem Holzinstrument. Die Drehkurbel war mit Draht geflickt, und ich riss mir die Fingerknöchel daran auf. Es war alles rostig, alt, splittrig, dunkel und duftend. Bevor man einem Kind heute so ein Ding umschnallt, verklagt man lieber den Schreiner.
Wir waren damals natürlich alle nur Jungs. Mädchen hatten bei dieser hochheiligen Pflichterfüllung nichts zu suchen. Sie hätten das psychisch auch gar nicht durchgestanden, das war uns klar. Wir formierten uns ab Donnerstagabend zu den festen Läutterminen ganz oben am Ortseingang und marschierten in Reih und Glied bis ganz nach unten, umtost von einem hölzern-blechernen Lärmorkan. Wir kurbelten und brüllten auf Kommando die Zeit nach christlichem Tagesverständnis. Um auch die Außenbezirke mit unserem Krach zu beglücken, wurde ein Zwei-Mann-Team abgestellt, das kurz vor der Dorfmitte abknickte, das Neubaugebiet mit Lärm versorgte, danach auf dem Bahndamm ausruhte und Grashalme kaute, um sich dann wieder mit der Haupttruppe zu vereinigen.
Es gab strenge Hackordnungen. Die Chefs und Aufsichtspersonen waren die ältesten Messdiener, die im letzten Jahr ihrer Tätigkeit (Hauptschulabschlussalter) uns kleine Würstchen so richtig kommandieren und zusammenscheißen durften. Der Höhepunkt der Messdienerkarriere. Wie beim Barras, wenn auch nur für zweieinhalb Tage. Da waren ein paar echte Schwanznasen dabei. Sie verfügten über Trillerpfeifen und jagten uns ins feindliche MG-Feuer. Nein, sie pfiffen, und wir mussten das Klappern einstellen und unseren Spruch brüllen. Hart war vor allem der Karfreitag, denn es galt, vier solcher Klapperdurchgänge zu absolvieren: sechs Uhr morgens, mittags, das Karfreitagsrequiem und abends. Danach noch Samstagmorgen und –mittag, und dann gab’s die Belohnung in Form von Eiern. Die mussten erst bei den Haushalten eingesammelt werden und wurden aufgeteilt in „Klappereier“ und „Messdienereier“. Ein Klapperjunge bekam für jeden Klappermarsch, den er absolviert hatte, ein Ei. Darüber wurde peinlich genau Buch geführt, die Notizheftchen der Klapperanführer waren wichtige, lebensspendende Objekte mystischer Bewunderung, ihre Bleistifte und Kulis Reliquien. Die Messdienereier wurden unter den Typen aufgeteilt, und sie gingen mit körbeweise Eiern nach Hause, die Arschgeigen.
Irgendwann war ich dann auch „ältester Messdiener“ und durfte kommandieren. Ich habe keine kleineren Jungs verarscht, keine Prügel angedroht oder ausgeführt, ich hatte nicht mal eine Trillerpfeife. Ich lief neben der Kolonne her und kam meiner Verantwortung nach, wenn irgendein desorientierter kleiner Bursche aus der Reihe tanzte und zu stolpern drohte. Scheiße, ich war als Humanist verschrien.
Heute laufen Mädchen mit (igitt!), Mädchen geben sogar die Kommandos (igitter!), und jungen Eltern blitzt es beim Zuschauen in den Äuglein, wenn sie ihren Nachwuchs so sanftmütig ins schrullige Brauchtum integriert sehen. Damals war das härter, entbehrungsreicher, und von Freiwilligkeit konnte ohnehin keine Rede sein: Wer nicht mitging, wurde bei anderen Gelegenheiten gemobbt. Wer als Sechsjähriger versagte, mit der langen Wegstrecke oder dem Krach nicht klarkam, eventuell sogar anfing zu heulen, war ein „Gymnasiast“ und wurde ausgelacht. Man berichtete uns, es sei früher noch übler gewesen, denn da wurde im Takt bzw. Rhythmus geklappert, und wer den nicht hielt, bekam von den Kapos eine Kopfnuss verpasst. Die herrlichen Zeiten des Katholizismus.
In späteren Jahren las ich an Karfreitag zusammen mit dem Priester (einem ganz soften) und einem Jugendfreund (der heute Priester ist) die Passionsgeschichte in verteilten Rollen vor. Der Geistliche übernahm Jesus, mein Freund die Zwischentexte und ich die anderen Figuren: „Was ist Wahrheit?“ Ja, ich war Pilatus!