Donnerstag, 29. Mai 2008

Leiden an der Welt

Wir verspürten damals eine Art Hassliebe zu Grufties. Einerseits fanden wir sie faszinierend, andererseits aber auch reichlich lächerlich. Beim Konzert von Fields of the Nephilim rückten die saarländischen Fans mit ihren Lederkutten und -mänteln und ihren breitkrempigen Outback-Hüten aus dem Australia-Shop an, öffneten den Kofferraum ihres Golf und entnahmen ihm Mehltüten. Dann schnitten sie die Tüten auf und überschütteten sich mit dem Zeug. Der ganze Bürgersteig und viele Autos waren danach voller Mehl. Warum sie das taten? Weil die Bandmitglieder der Nephilims immer so aussahen, als kämen sie mit Leidensmiene gerade aus einem alttestamentarischen Italo-Western und seien noch ganz staubig. Irgendwer hatte im Selbstversuch herausgefunden, dass man diesem Outfit nahe kam, wenn man Mehl über schwarzes oder braunes Leder kippte und eventuell noch ein bisschen einrieb. Die Stadtreinigung kam während des Konzerts und machte den Bürgersteig sauber, aber danach war wieder alles voll, weil die Fans sich vor der Heimfahrt kräftig abklopften, damit am nächsten Tag der Staubsauger nicht so viel Arbeit mit den Sitzpolstern von Papas Golf hatte.
Wir fanden das zur Pose reduzierte Leiden an der Welt ganz unterhaltsam, die Abgrenzungsstrategie, den hohlen Mythos, kurzum: die substanzielle Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Eine Zeitlang gingen wir gerne zu Gruftie-Konzerten.
In der Region operierte damals eine Amateur-Schwarzkerzen-Band, die wir genauer studierten. Man kam an ihr sowieso kaum vorbei, denn sie ergab sich einem selbstauferlegten Erfolgsdruck, tat omnipräsent und wollte unbedingt ins Gespräch kommen. Sie propagierte sich selbst sogar in Klokabinen von regionalen Indie-Discos mittels dicken schwarzen Eddings, beweinte in pathetischen Presse-Statements die mediokre Welt und die Banalität aller Musik, um hingegen die eigenen Kreationen als anspruchsvoll tiefempfundenen Dichterfürsten-Output zu beweihräuchern. Ihr Sänger sah auf der Bühne (und im Leben) immer aus wie ein blondierter Lord Byron beim Kacken, der Bassist forderte nach Konzerten das Publikum zu Zugaberufen auf, der Gitarrist trug eine Mönchskutte, die geliehene Nebelmaschine verursachte bei den Konzertbesuchern Asthma, und die Düsen des Geräts waren im Betrieb lauter als die Musik. Bei einem Konzert in einem sehr großen Gemeindehaus trauten wir uns nicht zu lachen, denn wir waren zu dritt und in der Minderheit. Der Rest des Publikums war immerhin zu viert, und wir vermuteten, dass es sich um Fans handelte. Wenn man noch die Bandmitglieder dazu zählte, war das schon eine gewaltige Überzahl. Also lachten wir nicht, lächelten nicht mal, sondern lauschten ergriffen. Als die Nebelmaschine einsetzte und man nichts mehr sah, lächelten wir doch insgeheim, aber nur so lange, bis der Hausmeister hereinstürmte und meinte, sie hätten ja gar keine Erlaubnis für den Einsatz des Nebelwerfers, umgehend die Fenster öffnete und damit das Konzert beendete, denn die mediokren Bürger in der Nachbarschaft wollten schließlich schlafen, Mensch!
Als dann ein Redakteur des Stadtmagazins meinem übergewichtigen Kumpel mit dem dicken Karbunkel auf der Nase die Gelegenheit gab, das erste 5-Track-Tape der Band mal zu rezensieren, ergriff er sie. Seine Wortwahl war nicht ganz glücklich, zugegeben, aber ein Faschist, wie man ihn kurz darauf rief, war er ganz sicher nicht. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Das Tape hat er sogar gehört, während einer Autofahrt. Es liegt vermutlich noch heute irgendwo im Straßengraben. Das Songmaterial kannten wir ja schon von den Konzerten, das peinliche Getue und Gewese der Band auch, dennoch bemühte er sich um Objektivität. Als er in seinem Text statt der Bezeichnung „die Grufties“ die Benennung „diese Kreaturen“ benutzte, riet ich ihm noch, Anführungszeichen zu verwenden. Er meinte: „Ach was, die wissen schon, wie das gemeint ist.“
Taten sie nicht. Sie gingen in der nächsten Ausgabe des Magazins vielmehr zur Tätigkeit des Leserbriefschreibens über, ein Redakteur (ein anderer als der Auftraggeber) distanzierte sich im Editorial von dem Artikel, bezichtigte den Autor faschistischer Tendenzen und tat sehr betroffen, denn das Magazin sei ja eigentlich gar nicht faschistisch, sondern im Gegenteil sogar links. Irgendwelche Eltern von Bandmitgliedern drohten mit Anwälten. Außerdem wunderten sich alle, wieso eine kleine Musikkritik zu einem blöden Tape das Top-Thema des Jahres in linken Amateur-Postillen, den Golfkrieg von 1991, von den Leserbriefseiten verdrängen konnte.
Die Band und die regionale Gruftie-Fraktion wollten nun den Autor in die Finger bekommen, um ihm mal den Marsch zu blasen, aber er kam von außerhalb und entzog sich dem Zugriff. Ich hörte von eifrigen Recherchen, konspirativen Zusammenkünften, Informationen, die gegen Bargeld ausgetauscht wurden. Einmal kamen sie ihm ziemlich nahe, als er gegen meinen Rat abends in die Stadt rollte, um mit mir einen zu trinken. Jemand, der ihn vom Sehen kannte, wies einen zufällig anwesenden Gruftie auf ihn hin, und der organisierte ein schwarzes Rollkommando. Es existierten damals noch keine Handys, also dauerte es ziemlich lange, bis sie sich aus ihren Särgen gewühlt oder das Lesezeichen in ihren Maupassant-Band gesteckt hatten, und so bekamen wir etwas Zeit, die Lokalität zu verlassen und uns über feuchten Asphalt, in dem sich die Natriumdampflampen spiegelten, davonzumachen. Gerade rechtzeitig, denn das Gruftie-Kommando bog schnaubend um die Ecke und betrat das Lokal. Wir beschleunigten unsere Schritte, gingen Umwege zu seinem Auto, hörten hinter uns Stiefelsohlen auf Kopfsteinpflaster, sahen groteske Silhouetten über Hauswände huschen und vernahmen aufgeregte Stimmen. Aus einem offenen Fenster drang die Melodie einer Zither. Wegen seines Übergewichts und der ungewohnten Anstrengung war der Autor ganz rot angelaufen und ging zu Schnappatmung über. Erst als er sicher in seinem Auto saß und die erste Kurve Richtung Heimatdorf bewältigt hatte, atmete ich durch. Sie kriegten ihn nicht an diesem Abend und nicht an folgenden.
So blieb es bei einer lobenden Erwähnung seiner Person auf dem ersten Mini-Album der Band: Auf den Labels der selbstverlegten Platte befanden sich auf der einen Seite die „Special Thanks“, auf der anderen die „Special Fuck Offs“. Unter den Fuck Offs prangte der Name des Autors schön groß an erster Stelle. Ich besitze das Label noch. Nicht die Platte, die habe ich weggeschmissen, nur das abgeknibbelte Label habe ich behalten. Der Autor hat die Platte auch gekauft, wie ich gehört habe, und sie als Belegexemplar archiviert.
Die Band wurde in späteren Jahren allen Ernstes zu einer mittelgroßen Institution im lustigen Paralleluniversum der Grufties, aber erst nachdem sie die Region verlassen hatte. Von den damaligen Musikern blieb nur Lord Byron übrig.

1 Kommentar:

  1. Dieser Beitrag ließ eine Reihe von Verdachtsmomenten in Form verschütteter Erinnerungen an die Oberfläche meines Gedächtnisses trudeln, wo sie nun herumdümpeln und für Verwirrung sorgen. Zu meinen Angangszeiten in Trier sah ich mal eine hiesige Gruftieband im Mergener Hof. Mir hat die Musik gefallen, denn ich gehörte selber zu 'diesen Kreaturen', wenn auch mit was Punk dabei. Ein Junggruftipunk. Keine Ahnung, was ich heute von der Musik halten würde. Später sind alle Bandmitglieder bis auf einen nach Berlin (?) abgewandert. Hm.

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