Dienstag, 20. Mai 2008

Müllentsorgung

Auf dem Dorf wird natürlich auch Müll produziert. Früher haben manche bei Nacht und Nebel ihre Hinterlassenschaften an einem lauschigen Plätzchen abgeladen, das "Backes Graben" genannt wird. Ein kleines Plateau, eher ein Vorsprung am Eingang zu einem bewaldeten Bachtal, an einer selten frequentierten Kreisstraße gelegen und schlecht einsehbar. Man konnte bei trockenem Wetter sogar mit dem Auto bis vorn an den Vorsprung fahren und sein Zeug gleich aus dem Kofferraum hinab ins Tal schmeißen. Backes Graben wurde zur wilden Müllkippe. Auch damals gab es schon regelmäßige Müllabfuhr und Mülltonnen (es waren die hellgrauen aus Metall), und in Backes Graben landete zumeist das, was nicht in die Tonne passte oder durfte oder sollte. Mit anderen Worten: Hier landete das Interessante.
Der Ort war einer unserer Spielplätze. Wir besorgten uns von dort auch Baumaterial für diverse Baumhausprojekte oder so. Wir sind seitdem vermutlich unrettbar verbleit und verstrahlt. Wer kann schon so genau wissen, was alles dort runtergeschmissen wurde? Einen toten Hund haben wir mal gefunden, eingewickelt in Plastikfolie. Ziemlich großes Tier. Transistorradios, Diaprojektoren, ganze 70er-Jahre-Wohnzimmereinrichtungen, eher wohl 50er-Jahre-Wohnzimmereinrichtungen, die zu Hause inzwischen von 70er-Designs ersetzt worden waren. Nierentisch und Stehlampe, Peter-Alexander-Platten, Bilderbücher, kaputte Schlitten, Altöl, die Schieferschindeln ganzer Dächer, die wir mit Vorliebe wie Frisbees weiter hinab ins Tal segeln ließen, bis sie lautstark an Baumstämmen zerschellten. Autobatterien, Super-8-Filmrollen, Autotüren und Reifen, Reifen, Reifen. Und Schlachtabfälle. Und Insektenschwärme. Zudem NSDAP-Parteibücher mit herausgerissenen Fotos und geschwärzten Namen. Jemand hatte sie bis in die 70er aufbewahrt, weil man ja nicht wissen konnte, ob die Zeit vielleicht nicht doch noch mal zurückkehrt. Nun, in den 70ern ließ derjenige die Hoffnung dann wohl fahren. Ich riss mir ein zerfleddertes, feuchtes Buch unter den Nagel, das ich eine ganze Zeit lang besaß und erst in späteren Jahren überhaupt erst verstand: ein von Baldur von Schirach herausgegebenes Gesangbuch für das fröhliche Beisammensein der Hitlerjugend. Zu meiner Ehrenrettung muss ich jedoch festhalten, dass ich nie, auch damals als Knabe nicht, versucht habe, den Quatsch nachzusingen. Ja, und ein paar Paletten alter Gebetbücher wurden hier auch entsorgt, nachdem das Bistum eine neue Ausgabe des Gotteslob unter die Leute gebracht hatte.
Es gab weiter unten am Hang so einen grünlichen Tümpel, in den Regenwasser lief, Wasser also, das durch Schichten von Müll gesickert war. Jemand schwor Stein und Bein, aus dem Tümpel rage eine leblose grünliche Hand mit sechs Fingern. Noch weiter unten, am Ausgang des Tals, gab es einen alten Wehrmachtsbunker (die Gegend war Westwall), und einige sagten, das Munitionsdepot dieses speziellen Bunkers hätte sich weiter oben befunden, mehr so am Eingang zum Tal, also in etwa da, wo wir gerade standen. Unter dem Müll zu unseren Füßen vielleicht, aus dem jahrzehntelang unaufhörlich Batteriesäure auf die Granaten getröpfelt war ...
Nachdem wir den Müll größtenteils durchsucht und das Interesse an dem Ort verloren hatten, kehrte ich, präpubertär und melancholisch, manchmal noch allein dorthin zurück. Ich hatte nämlich etwas Bedeutsames gefunden, das ich mit den anderen nicht teilen wollte, das ich aber genauso wenig mit nach Hause nehmen konnte, wo meine Eltern es bemerkt hätten. Es war ein Karton mit Nacktheften. Ich schätze heute, es handelte sich um eine stattliche Sammlung von Praline oder St.Pauli-Nachrichten, traditionsbewusste Periodika, die es ja damals schon lange gab. Der Vollidiot, von dem sie stammten, hatte sie in einen Karton gepackt, auf dem sich ein riesengroßer Aufkleber mit einer Postadresse befand. Seiner Postadresse. Ich weiß noch, wem sie gehörten. Er ist inzwischen verstorben.
Ich war präpubertär und buchstäblich unbeleckt. Was ich dort sah, ließ Ahnungen erblühen. Die nackten Menschen darin waren nicht einfach nur nackt, nein, sie vollführten aneinander eigentümliche Handlungen und sprachen zueinander in Sprechblasen. Es war natürlich nichts anderes als Die Erotik-Foto-Love-Story: Bernd und Nina beim Jodelkurs, Folge 17-28. Ich fand das durchaus interessant, was der blonde Bernd und die blonde Nina da vor, während und nach dem Jodeln so mit sich anstellten und was sie für verruchte Sprechblasen-Dialoge von sich gaben. Nina: "Vom Jodeln werde ich immer ganz feucht zwischen den Brüsten." Bernd: "Dann zieh doch das Dirndl aus und geht auf den Balkon an die frische Luft." Bernd und Nina wohnten in Stadtlage, und immer wenn Nina so auf den Balkon trat, gab es auf der Hauptverkehrsstraße unten einen mächtigen Stau. Tatsächlich schienen sich die beiden in Kleidung recht unwohl zu fühlen, und wenn sie so richtig anfingen zu jodeln, dann konnte man die Sprechblasen förmlich HÖREN.
Es war zweifellos besser als das Zeug in der Bravo, aus dem man ohnehin nie recht schlau wurde. Ich nahm den Karton, versteckte ihn unter einem Strauch und kehrte ab und an zurück, um weiterzulesen und zu -starren. In späteren Heften wurden Bernd und Nina durch Berthold und Chantal ersetzt, sie braunhaarige Studentin, er blonder Kfz-Mechaniker, und sie lernten sich kennen, als sie ihren 2CV in seine Werkstatt brachte, weil "die Einspritzpumpe verstopft" war. Wie es mit den beiden ausging, weiß ich nicht, weil die letzten Folgen der Serie fehlten.
Das Areal oben an Backes Graben wurde irgendwann mit Erde zugeschüttet und planiert, einfach über den Müll drüber. Bernd und Nina, Berthold und Chantal wurden mit begraben. Wer weiß, vielleicht dringt in stillen, nebligen Nächten noch ein vereinzelter, orgiastischer Jodler aus dem Erdreich.
Schließlich standen da eines Tages ein undurchdringlicher Zaun und ein Schild "Schutt abladen verboten". Heute ist das kleine Plateau vollständig zugewachsen. Selbst wenn man so viel kriminelle Energie aufbringen würde - die Vegetation würde einen gar nicht bis hin lassen. Vielleicht ist das ganze Unterholz ja auch mutiert, beißt um sich und zieht einen hinunter zu den Autobatterien, toten Tieren und Peter-Alexander-Platten.