Dienstag, 6. Mai 2008

Springprozession

Apropos Katholische Jugendgruppe. Am Dienstag nach Pfingsten des Jahres 198x fanden wir uns unvermittelt wieder mitten in der Echternacher Springprozession.
Zuerst fuhren einige Eltern uns am Abend zuvor mit Autos bis nach Ferschweiler, wo wir auf einen größeren Trupp Nachtwanderer stießen, um uns diesem anzuschließen. Für uns Jugendliche war es ein großes Abenteuer. Mit Taschenlampen über Waldwege und durch Schluchten bis ins luxemburgische Städtchen Echternach. Was uns unsere Gruppenleiterinnen nicht erzählt hatten: Wir waren, ohne zuvor irgendetwas unterschrieben zu haben oder ideologisch geschult worden zu sein, ab Ferschweiler Mitglieder von Pax Christi, der katholischen Friedensbewegung. Tatsächlich war ein Trierer Studentenpfarrer, der ab und zu in unserer Gemeinde aushalf, Sektionsleiter der hiesigen Friedensbewegten, und er hatte unsere Gruppenleiterinnen gefragt, ob wir denn bei diesem Quasi-Sternmarsch mitmachen wollten. Ob sie Flagge zeigen wollten bei so einem wichtigen religiösen Fest. Uns hingegen fragte niemand, ob wir uns unter dem Banner der Friedenswilligen sammeln wollten. Wahrscheinlich wurde man früher auf diese oder ähnliche Weise spontan Parteimitglied. Es hätte genauso gut ein Flagellantenorden sein können, dem wir uns da anschlossen, oder das Opus Dei. Aber hey, was soll’s? Es gibt Schlimmeres als betende Pullistricker mit Alkoholabneigung und Affinität zur Lagerfeuerklampfe und falschem Gesang.
Es wurde dann irgendwann Morgen, wir blieben unter uns, statt im Wohlfühlgewimmel von Pax Christi aufzugehen. Das waren schließlich alles Großstädter. Wir näherten uns Echternach und waren von den ganzen nächtlichen Abenteuern bereits redlich erschöpft, als wir uns zur Prozession formieren mussten. Zudem wurde es brütend warm. „Hier sehen Sie die Abordnung von Pax Christi! Applaus! Applaus! Mann, sehen die abgekämpft aus! Wie viele von ihnen werden die kommende Tortur wohl überstehen?“
Diese Prozession ist originär. Es gibt sie sonst nirgendwo. Sie richtet sich an den Heiligen Willibrord, einen englischen Mönch, der im Jahr 698 hier ein Kloster gründete und in der Krypta der Abteikirche begraben liegt. Die Ursprünge der Prozession sind unklar. Hat es mit der traditionellen Abgabe des Zehnten am Pfingstdienstag zu tun, den die Bauern damals eventuell vor Freude tanzend darbrachten? War es eine Prozession der Kranken und Bekloppten, sie sich in einem stilisierten Veitstanz der Krypta näherten? Ist es ein Restbestand der Geißlerzüge aus der Zeit der Großen Pest ab 1348? Weiß man nicht genau. Heute ist es jedenfalls ein Grenzraum-Event.
Es nehmen Springpilger daran teil und Musikkapellen. Immer eine Pilgergruppe, dann eine Musikgruppe. Letztere spielen immer denselben Polka-Marsch, zu dessen Takt sich die Pilger bewegen. Sie bilden Reihen, und die nebeneinander Springenden fassen sich an Taschentüchern. Viele tragen einheitliche Kleidung, viel Weiß (= Unschuld). Sie hüpfen zur Musik gemächlich einige Schritte vor und erzeugen eine Art Wippen oder Zeitlupenschleudern. Früher gab es wohl eine Frequenz „Drei Schritte vor und zwei zurück“, die aber für Chaos sorgte und die Sache gewaltig in die Länge zog. Ich glaube, wir von Pax Christi waren eingekeilt zwischen dem Musikverein Mummelbach und dem aus Lumpersbach, vor uns sprangen die Heiligen Ritter von der Unbefleckten Jungfrau vom Großen Blech, hinter uns die Betschwesternkompanie der Katholischen Gewerkschaft der Rosenkranzmanufaktur Bettingen/Saarland. Es war, wie gesagt, sehr heiß, wir schwitzten und rochen authentisch nach Mittelalter und früher Neuzeit und schnaubten gar sehr. Einige von uns hatten Schaum vorm Maul, aber das waren meistens die Hardcore-Mitglieder von Pax Christi, die so etwas Authentisches zum ersten Mal erlebten und ausflippten. Einer landete später sogar in der Psychiatrie, wie es hieß. Neurotischer Großstädter eben.
Man hatte uns gewarnt, nach der Hitze draußen sei es am Zielort, der Krypta, ziemlich kalt, und das könnte zu Kreislaufproblemen führen. Ich glaube, Irmgard brach mal wieder zusammen und hielt den ganzen Laden ungebührlich auf. Kann auch sein, dass ich mich irre. Tatsache war, dass auch ich da unten statt eines Heiligen nur Sternchen sah. Andererseits: Vielleicht waren die ja auch der Heilige. Wir sprangen an ihm vorbei und lösten uns schließlich prustend auf. Unsere Eltern kamen uns abholen, ich fiel im abgedunkelten Kinderzimmer ins Bett und nippelte zu größtenteils religionsfernen Klängen von The Alan Parsons Project ab.
Nächste Woche Dienstag geht’s richtig ab in Echternach. Die Stadt feiert den 1350. Geburtstag ihres Heiligen, und es werden Myriaden von hüpfenden Gratulanten erwartet, die durch die Straßen schleudern.