Dienstag, 23. Oktober 2012

Entropie

Neulich ergab sich eine dieser seltenen Gelegenheiten, dass ich aus dem Haus musste. Beim Blick in den Schuhschrank dachte ich bei mir, ich könnte mal wieder diese schwarzen Halbschuhe anziehen. Aus Kunstleder oder so was und mit Gummisohle. Sind schon was älter, aber noch ziemlich in Ordnung. Richtige Witterung dafür. Müssen ja nicht immer Turnschuhe sein. Die Halbschuhe quietschen eigenartig auf dem Parkettboden, das Fußbett kommt mir nach dem ständigen Turnschuhtragen etwas hart vor, die Ferse locker im Sitz. War das schon immer so? Egal, muss jetzt gehen. 
Nach drei, vier Schritten draußen vorm Haus beginne ich plötzlich zu wanken wie eine Landratte auf einem Schiffsdeck, hin und her, her und hin, und denke an einen plötzlich auftretenden motorischen oder neuronalen Schaden. Fühlt sich so das Ende an? Oder ist es gar ein Erdbeben in der Rheinischen Tiefebene, Stärke 9,5 auf der nach oben offenen Richterskala? Ich blicke irritiert nach unten in Erwartung von Rissen im Boden und klaffenden Erdspalten und glaube meinen Augen nicht zu trauen: Ich stehe sozusagen mit den bestrumpften Fußsohlen auf dem harten Boden der Einfahrt. An beiden Schuhen haben sich die Gummisohlen aufgelöst und in ein unidentifizierbares Gekrümel verwandelt. Ich blicke zurück, und hinter mir liegen ganze Fladen trockener, bröseliger Ex-Gummimasse wie eine Spur schwarzer Brosamen. Ist das ein Anschlag? Sabotage? Welche destruktive Macht hatte Zugriff auf den Schuhschrank? Will jemand, dass ich das Haus nicht mehr verlasse? 
Nein, es ist bloß das Gesetz der Entropie. Die länger nicht mehr zum Einsatz gelangten Sohlen haben im Schuhschrank ohne meine Erlaubnis ihre molekulare Ordnung aufgegeben, und der kurze Druck, den die paar Schritte vorm Haus ausgeübt haben, genügte, um die Treter komplett in Informationskrümel aufzulösen und sie dem Universum in Gestalt der Einfahrt zurückzugeben. Ich stehe da wie ein Tropf, mir fehlen vor Verblüffung die Worte, und das Kunstleder-Oberteil der Schuhe ist jetzt mehr so eine Gamasche auf Knöchelhöhe. Beruhigend immerhin, dass das so kurz nach der Haustür passiert ist und nicht mitten in der Stadt. Hätte dann auf Socken in ein Schuhgeschäft gehen und auf die verwunderten Blicke hin sagen müssen: „Entropie. Brauche Schuhe.“