Montag, 28. April 2008

Technokraten

Der flotte kanadische Dreier Rush war in meinen Sozialisierungsjahren eine der angesagten Oberstufen-Bands. Bei solchen Oberstüflern, die sich darin gefielen, „progressiv“ zu sein. Ich ging Rush selbstverständlich auch auf den Leim. Sie waren „thinking man’s rockband“, und es war damals absolut opportun, gleichzeitig zu denken und zu rocken. Rush waren das mondäne Alternativprogramm zu solch provinziellen, nörgelnden, allgegenwärtigen, um nicht zu sagen dominanten Jugendverderbern wie BAP, die einem dauernd die Welt erklären wollten. Und das auch noch auf Kölsch! Eklig. Das grenzte an Nötigung und konnte nicht akzeptiert werden. Rush war gleichbedeutend mit Großer Weiter Welt und belieferte eine globale Community libertärer Rocker und Denker und nicht kleine Cliquen deutscher Nachrüstungsgegner, die sich ihre Pullover selbst strickten und in der Kölner Südstadt Bierdeckel sammelten, auf denen Niedeckens Kölschstange gestanden hatte.
Irgendwo zwischen den Alben Grace Under Pressure und Power Windows fixten mich die Kanadier an, und das ausgerechnet in ihrer bräsigen 80er-Keyboard-Phase. Jeder wollte damals Keyboarder sein und hinter den Tasten ein bisschen crazy herumzappeln. Damals war es in, heute wird es verabscheut: das Zuspachteln von Songs mit Keyboard-Geschwurbel. Rush hörte sich eher nach Sounddesign an denn nach Rockmusik, nach 80er-Innenarchitektenmusik, bei deren Genuss man sich am liebsten ein bisschen im Schlamm wälzen wollte. Rock muss nun mal eben auch Dreck hinterlassen. Dieser Auffassung waren Rush damals nicht. Sie waren propere Jungs, und es stand zu befürchten, dass sie sich irgendwann anhören würden wie Saga, die properste aller properen Bands, die so keimfrei rockte, dass ich wetten würde, die Keyboardtasten waren nach jedem Song mit antibakteriellen Feuchttüchern abgewischt worden. Ganz so schlimm war es mit Rush nicht, denn immerhin waren sie ja schon älter und trugen einige deftigere Platten im Gepäck: Permanent Waves, Moving Pictures und (in Teilen) Signals. Ihre ganz frühen Hardrock-Sachen ab 1973 und die daran anschließende Pseudo-Progressive-Ära habe ich zwar goutiert, jedoch war diese Zeit des Glam, der Rock-Suiten und der hochnotpeinlichen Fantasy-Fabeln Mitte der 80er schon zu weit weg und zu elaboriert-scheiße. Ich hatte die eigene Progressive-Rock-Hörer-Phase schließlich gerade erst selbst erfolgreich abgeschlossen. Rush begann also für mich so richtig erst ab 1979 und den kürzeren, strafferen Songs.
1987 kam es, etwas verspätet, zu einem denkwürdigen Konzert in Frankfurt, zu dem Volkers Heavy-Metal-Bruder Helmut uns mit seinem kleinwüchsigen Hardrock-Honda im Tiefflug düste. Er fand in dem Getümmel sogar einen Parkplatz. Es war das erste und einzige Mal, dass ich nach einem Konzert einen (minder schweren) Hörsturz hatte und zum HNO-Doc musste. Und – neben ein, zwei Festivals – war es das wimmelndste Konzert meiner Konzertgängerkarriere. Gefühlte eine Million Menschen im Publikum. Schweißgerüche, peinliche Lederkutten, britische Iron Maiden-Fans und Platzangst. Anlass der Tour war das Album Hold Your Fire, auch wieder so ein zahnloses Design-Objekt, aber die Band kam zu selten nach Europa, um sie einfach so zu verpassen, nur weil einem das neue Album zu geschniegelt vorkam.
Nach einer recht intensiven Zeit mit o.e. drei Alben von 1979-82 war es dann auch irgendwann gut, obwohl ich noch regelmäßig die neuen Tonträger der Band erstand. Bis heute. Es war und ist aber eher Pflichterfüllung als Enthusiasmus. Ein-, zweimal durchhören und zur Kenntnis nehmen. An den Fähigkeiten von Geddy Lee (voc, b, keyb), Alex Lifeson (g) und Neil Peart (dr) gibt es nichts zu zweifeln, aber musikalische Könnerschaft kann eben mitunter auch kontraproduktiv werden: zu perfektionistisch und technokratisch, zu viel Gefrickel, kaum Spontaneität, Materialschlachten und Thesenhaftigkeit statt Emotion und Unmittelbarkeit. Aseptischer Meister-Proper-Rock. Außerdem lief die Band gerne den Trends hinterher und integrierte sie in ihr eigenes Konzept, was meistens halbherzig, schlimmstenfalls deplatziert klang. Neil Pearts Texte sind nach wie vor erwähnenswert, scheinen heute mehr denn je dem Spirituellen zuzuneigen, aber viele seiner früheren Arbeiten sind politisch höchst korrekte und grundehrliche Durchmärsche durch die globalen Themen der Zeit, die in ihrer Solidität echt langweilen. Eine Art frühe R.E.M. ohne den Verrätselungsfaktor, den Michael Stipes Lyrik aufweist. „Thinking man’s rock“ eben, aber heutzutage will ich beim Rocken nicht mehr so viel denken und lyrische Zeitkommentare und komplexes Gitarrenriff-Gefrickel zwangsanalysieren müssen, bevor ich den Song heraushöre.
Aus den schwülstigen Achtzigern holte Rush ausgerechnet der Schicki-Micki-Produzent Rupert Hine wieder heraus, was aber auch nicht wirklich ein Fortschritt war: Pop-Rock, der niemandem wehtat. Erst danach wurden die Drei wieder härter und rockiger, auf den jüngeren Alben ist überhaupt kein Keyboard-Kleister mehr zu vernehmen, dafür ungewohnt metallische Härte. Diese Trendverwertung zugunsten von Alternative und Grunge und NuMetal passte ganz ordentlich, denn nicht wenige von den hippen Trendsettern gaben die alten Rush-Herren als wichtigen Einfluss an. Womit die so Beeinflussenden die Nachkommen quasi rechts überholten, indem sie einfach wieder so klangen wie zu ihren besseren Zeiten.