Donnerstag, 27. März 2008

Höflich

Heute ist offenbar der Höflichkeitstag.
Erst am Fußgängerengpass an der Severinstorburg der Oma mit der rollenden Gehhilfe den Vortritt gelassen, danach den Postboten mit seinem Karren passieren lassen. In der Postschlange einem osteuropäischen Opa den Platz vor mir freigehalten, weil er draußen noch was vergessen hatte. Danach zweimal etwas vom Boden aufgehoben, was ihm runtergefallen war. Danach auf dem Fußweg Richtung Innenstadt in der Severinstraße ein Auto vorgelassen, obwohl ich das nicht hätte tun müssen. Schließlich noch einem zahnlosen Schlumpf Feuer gegeben und weiter oben nicht auf das alte Männlein getreten, das gerade aus einem Sex-Shop gekrochen kam. Im Kaufhof jemandem das Leben gerettet, dessen Schal sich in der Rolltreppe verfangen hatte, weil er sich nach einem runtergefallenen 20-Cent-Stück bückte. Im Saturn eine Geiselnahme verhindert, indem ich geistesgegenwärtig dem bewaffneten jugendlichen Täter die Loriot-Collection-Box auf den Kopf gehauen habe. Für die Lebensgefährtin einfach so und ohne Auftrag die DVD von Stolz und Vorurteil gekauft. Einfach, um ihr Lächeln zu sehen. Am Bratwurststand des Kaufhof jemanden, der sich verschluckt hatte, durch Rückenklopfen vor dem Ersticken bewahrt. Auf dem Rückweg einen Bauarbeiter aufgefangen, der gerade vom Gerüst fiel. Einer jungen Dame geholfen, zwei Reisekoffer in den Kofferraum ihres Wagens zu wuchten. Im Plus/Severinstraße eine Kassiererin reanimiert, die einen Stromschlag von der Kasse abgekriegt hatte. Am Gay-Kino einem Strichjungen mein letztes Kondom überlassen. Dem Typen, der ohne erkennbaren Grund dauernd „Arschloch! Arschloch! Dumme Sau!“ brüllte, eine aufs Maul gegeben. Am vor der Torburg zusammengebrochenen Mütterchen einen Luftröhrenschnitt durchgeführt, mit der scharfen Kante meines Armbanduhrverschlusses, dem Sohn mein Handy geliehen wegen Notarztanruf. Haltestelle Chlodwigplatz: mittels Handkantenschlag eine junge Frau vor einem zudringlichen Rabauken bewahrt, danach den Rabauken davor, von der Bahn überfahren zu werden.
In der Volksgartenstraße in einen Hundehaufen getreten.

Mittwoch, 26. März 2008

Kulturzeit

O je, was haben die denn aus meiner Lieblingssendung gemacht? Kulturzeit auf 3sat (19.25 – 20.00 Uhr) war die ideale Plattform, um langsam und gediegen in den Feierabend zu gleiten und eventuell vor der Spielfilmschiene noch mal zivilisiert etwas Schlaf zu tanken. An das Nickerchen war allerdings nicht zu denken, wenn Ernst Grandits moderierte, denn man wollte keinesfalls seine neuesten bizarren Versprecher verpassen. Extrem gut war auch der gelegentliche Popmusik-Schnipsel am Ende, frühzeitig ausgeblendete Musikvideos von angeblich schrecklich angesagten Bands, die dann von jemandem wie Grandits anmoderiert werden mussten. Hipness pur.
Die Sendung will sich nun ein neues Gesicht geben. Das Studio wird umgebaut, weswegen es für zwei Wochen Kulturzeit Baustelle heißt.
Und das ist echt bizarr geraten. Der Scherz, eine Zehn-Minuten-Sendung als Loop dreimal hintereinander zu senden, um die halbe Stunde vollzukriegen, war eventuell hochkulturell begründet. Keine Ahnung, es war jedenfalls Blödsinn. Mir gediegenem Feierabendwegschnarcher geht jedoch Moderationsinnovatorin Katrin Bauerfeind irgendwie nicht aus dem Kopf. Kein Wunder, dass die "Kult" ist. Das Nickerchen entfiel, denn es war spannend, ihr zuzusehen. Junge-Leute-Feuilleton als zehnminütiger Dauer- und Ausnahmezustand. Eine auf reines Schwafel reduzierte Bildungsbürger-TV-Askese. Um mit Mr. Kurtz zu sprechen: „Das Grauen … das Grauen …“
Der Höhepunkt war jedoch das Interview mit Martin Walser. Das war echt frech. In Walsers neuem Roman Ein liebender Mann geht es bekanntlich um Geheimrat Goethe, der im hohen Alter romantische Gefühle entwickelte für die doch sehr junge Ulrike von Levetzow. Den Interviewbeitrag hatte man mit einem wunderbar subtextuellen Schnitt angereichert. Bauerfeind war dabei öfter im Bild als Walser. Während einer Lesung wurde sie, im Publikum sitzend, ständig dazwischen geschnitten, wie sie den alten Mann auf der Bühne anzuhimmeln schien. Das Interview auf der Kölner Rheinpromenade und an Bord eines Schiffs verfuhr so ähnlich: Walser als Substitut des alten Geheimrats, Bauerfeind als junges Ding, das sich womöglich ulriketechnisch an ihn heranmacht und ihm ergeben an den Lippen hängt. Man fragt sich unwillkürlich, ob es danach eventuell im Hotel Maritim zu einem One-Night-Stand kommt. Großartig. Das eigentliche Interview interessierte mich gar nicht, ich war fasziniert von diesem verspielten Schnitt.

Montag, 24. März 2008

Kulturmenschen

Seinerzeit saß ich im Trierer Atrium in der Nachmittagsvorstellung von Brannaghs Frankenstein. Es wird also im Jahr 1994 gewesen sein. Ich döste vor mich hin und wartete darauf, dass der Vorhang aufschwang. So einen hatten die damals noch im Atrium. Heute haben sie nicht mal mehr ein Atrium.
Es war sonst niemand da, außer zwei Typen meines Alters, die zwei Reihen hinter mir saßen. Frisch gefönte BWL-Studenten, wie ich ihrem lauten Gespräch entnehmen konnte. Manager-Nachwuchs mit allerhand Wissen um die wichtigen Dinge des Lebens. Die Rede kam dann von Wirtschaftsthemen auf Filme, und der eine meinte, ihm hätte neulich Schindlers Liste überhaupt nicht gefallen. Der andere fragte, warum. Hm, nun war auch ich auf die Argumente gespannt und erwartete einen lehrreichen historisch-philosophischen Diskurs über „Verkitschung der Erinnerung“ oder „Sentimentalisierung des Bösen“. Zu hören bekam ich folgende Begründung: „Wenn ich schon eine teure Kinokarte bezahle, dann will ich gefälligst einen Farbfilm sehen und keinen in schwarzweiß. Ich halte das für arglistige Täuschung.“ Der andere meinte: „Ja, genau.“
Ich dachte zuerst an einen Scherz, aber nein, das war es mitnichten. Es war ihnen ernst. Die beiden sind heute wahrscheinlich Industriekapitäne und betreiben Kultur-Sponsoring. In Farbe.

Donnerstag, 20. März 2008

"Sie schreiben?"

Als ich heute Morgen ein Paket mit Manuskripten zur Post brachte, schaute die freundliche, herzensgute, etwas korpulente Postangestellte verdächtig lange auf den Adressaufkleber mit der Verlagsadresse. Dann hob sie den Kopf und fragte: „Oh, Sie schreiben?“
Ich sagte „Nein“ und klärte sie darüber auf, dass ich diesbezüglich auf der anderen Seite der Ladentheke stehe. Sie meinte: „Ach, das muss ja toll sein, fürs Lesen bezahlt zu werden!“ Sie hatte dabei dieses irre Blitzen in den Augen, das ich schon von anderen Leuten kenne. In diesem irren Blitzen steht geschrieben:
„Warte, Schnuckel, wenn du das nächste Mal hier antanzt, dann habe ich unter diesem Tresen schön säuberlich ausgedruckt und verpackt das Manuskript, an dem ich seit fünfzehn Jahren schreibe, und drücke es dir in die Hand. Es heißt Der Donnerstein von Burg Lionheart Castle und handelt von der mittelalterlichen Gräfin Henriette von Schusselberg und dem langhaarigen Kreuzritter Geoffroi de Raquelpin, die durch einen magischen Zauber ins Land der Highlander und Grottendrachen gelangen, wo sie sich lieben lernen und die Welt vor dem bösen Druiden Saskatchewan retten.“
Ich kenne diesen Blick ganz genau. Es wird Zeit, sich eine neue Postfiliale zu suchen.

Klappern

Heute ist Gründonnerstag. Auf dem katholischen Dorf gibt es den Brauch des „Klapperns“, anderswo nennt man es „Kleppern“. Die Jugend des Dorfs zieht durch selbiges, rattert mit Drehklappern und „ruft die Zeit aus“, so wie der katholische Tagesablauf es mal vorsah: Gebetläuten, Angelus, Gottesdienstläuten. Normalerweise erledigen das die Glocken, aber die sind an den hochheiligen Kartagen aus Trauer oder Scham verstummt. Uns wurde damals erzählt, sie seien nach Rom geflogen, was uns insgesamt recht dubios vorkam, denn nie hatte irgendwer sie wegfliegen oder zurückkommen sehen. Von der eventuellen Landung eines Frachtflugzeugs hatte auch niemand etwas mitbekommen. Was genau sie in Rom wollten, entzog sich ebenso unserer Kenntnis. Womöglich wollte der Papst sie segnen oder doch lieber einschmelzen zur Herstellung von Kanonen für die Verteidigung der Christenheit. Die Erwachsenen begingen später einen schweren Fehler, als sie ein Klöppelwerk einbauen ließen, das die Uhrzeit automatisch schlug. Keiner dachte daran, so konsequent zu sein, es über die Kartage abzuschalten. Früher wurde streng darauf geachtet, dass die Glocken in dieser Zeit keinen Mucks von sich gaben, nun jedoch sorgte eine Zeitschaltuhr dafür, dass die Illusion weggeflogener Glocken zerstört wurde. Das Mysterium war keines mehr. Zur Morgen- und Abendstunde wie auch zu den einzelnen Messen musste jemand das Läutwerk manuell betätigen, was jedoch weiterhin unterblieb und bis heute unterbleibt, und so müssen die Klapperkinder ran. Der Brauch erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit, wie es scheint, und es gibt eine ganze Reihe von Schreinern in der Region, die die Klapperkisten neu herstellen, während diese Monster früher innerhalb der Familien vererbt wurden. Ich hatte zuerst die leichte, geliehene von Familie Pallien, weil ich mit der schweren Familienklapper mütterlicherseits nicht klarkam. Später übernahm ich die, und sie war toll. Über das Schallloch an der Oberkante hatte irgendein Vorfahre den verrosteten Boden einer Konservendose genagelt, was dem Ding einen unverkennbaren Klang verlieh: Heavy Metal mit einem Holzinstrument. Die Drehkurbel war mit Draht geflickt, und ich riss mir die Fingerknöchel daran auf. Es war alles rostig, alt, splittrig, dunkel und duftend. Bevor man einem Kind heute so ein Ding umschnallt, verklagt man lieber den Schreiner.
Wir waren damals natürlich alle nur Jungs. Mädchen hatten bei dieser hochheiligen Pflichterfüllung nichts zu suchen. Sie hätten das psychisch auch gar nicht durchgestanden, das war uns klar. Wir formierten uns ab Donnerstagabend zu den festen Läutterminen ganz oben am Ortseingang und marschierten in Reih und Glied bis ganz nach unten, umtost von einem hölzern-blechernen Lärmorkan. Wir kurbelten und brüllten auf Kommando die Zeit nach christlichem Tagesverständnis. Um auch die Außenbezirke mit unserem Krach zu beglücken, wurde ein Zwei-Mann-Team abgestellt, das kurz vor der Dorfmitte abknickte, das Neubaugebiet mit Lärm versorgte, danach auf dem Bahndamm ausruhte und Grashalme kaute, um sich dann wieder mit der Haupttruppe zu vereinigen.
Es gab strenge Hackordnungen. Die Chefs und Aufsichtspersonen waren die ältesten Messdiener, die im letzten Jahr ihrer Tätigkeit (Hauptschulabschlussalter) uns kleine Würstchen so richtig kommandieren und zusammenscheißen durften. Der Höhepunkt der Messdienerkarriere. Wie beim Barras, wenn auch nur für zweieinhalb Tage. Da waren ein paar echte Schwanznasen dabei. Sie verfügten über Trillerpfeifen und jagten uns ins feindliche MG-Feuer. Nein, sie pfiffen, und wir mussten das Klappern einstellen und unseren Spruch brüllen. Hart war vor allem der Karfreitag, denn es galt, vier solcher Klapperdurchgänge zu absolvieren: sechs Uhr morgens, mittags, das Karfreitagsrequiem und abends. Danach noch Samstagmorgen und –mittag, und dann gab’s die Belohnung in Form von Eiern. Die mussten erst bei den Haushalten eingesammelt werden und wurden aufgeteilt in „Klappereier“ und „Messdienereier“. Ein Klapperjunge bekam für jeden Klappermarsch, den er absolviert hatte, ein Ei. Darüber wurde peinlich genau Buch geführt, die Notizheftchen der Klapperanführer waren wichtige, lebensspendende Objekte mystischer Bewunderung, ihre Bleistifte und Kulis Reliquien. Die Messdienereier wurden unter den Typen aufgeteilt, und sie gingen mit körbeweise Eiern nach Hause, die Arschgeigen.
Irgendwann war ich dann auch „ältester Messdiener“ und durfte kommandieren. Ich habe keine kleineren Jungs verarscht, keine Prügel angedroht oder ausgeführt, ich hatte nicht mal eine Trillerpfeife. Ich lief neben der Kolonne her und kam meiner Verantwortung nach, wenn irgendein desorientierter kleiner Bursche aus der Reihe tanzte und zu stolpern drohte. Scheiße, ich war als Humanist verschrien.
Heute laufen Mädchen mit (igitt!), Mädchen geben sogar die Kommandos (igitter!), und jungen Eltern blitzt es beim Zuschauen in den Äuglein, wenn sie ihren Nachwuchs so sanftmütig ins schrullige Brauchtum integriert sehen. Damals war das härter, entbehrungsreicher, und von Freiwilligkeit konnte ohnehin keine Rede sein: Wer nicht mitging, wurde bei anderen Gelegenheiten gemobbt. Wer als Sechsjähriger versagte, mit der langen Wegstrecke oder dem Krach nicht klarkam, eventuell sogar anfing zu heulen, war ein „Gymnasiast“ und wurde ausgelacht. Man berichtete uns, es sei früher noch übler gewesen, denn da wurde im Takt bzw. Rhythmus geklappert, und wer den nicht hielt, bekam von den Kapos eine Kopfnuss verpasst. Die herrlichen Zeiten des Katholizismus.
In späteren Jahren las ich an Karfreitag zusammen mit dem Priester (einem ganz soften) und einem Jugendfreund (der heute Priester ist) die Passionsgeschichte in verteilten Rollen vor. Der Geistliche übernahm Jesus, mein Freund die Zwischentexte und ich die anderen Figuren: „Was ist Wahrheit?“ Ja, ich war Pilatus!

Montag, 17. März 2008

Peter Hammill

Soeben erschienen ist die neue Bemühung von Van der Graaf Generator, Trisector. Der Titel spielt darauf an, dass Saxofonist David Jackson die Band verlassen hat und sie nun als Trio operiert.
Ich war bestimmt mal, rein subjektiv natürlich, der größte VdGG-Fan des Planeten, zu Zeiten, als es die Band längst nicht mehr gab. Ich entdeckte sie und ihren Maestro im wilden Jahr 1982. Sie war ein Phänomen der späten 60er und 70er und deren Progressive Rock. Obwohl Anfang der 80er noch eine gewisse zeitliche Nähe zu dieser Vergangenheit herrschte, wusste niemand, den ich auch nur entfernt kannte, wie man die Band überhaupt buchstabiert. War auch zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Heute hat man hingegen den Eindruck, dass die Gruppe überall große Wertschätzung erfährt – oder dass die Fankreise im Internet gut organisiert sind. Und dass gerade das Internet als Multiplikator gedient hat, als es darum ging, diese Veteranen der drohenden Vergessenheit zu entreißen.
1978 war Schluss mit Van der Graaf Generator, die sich zwischenzeitlich zu Van der Graaf verkürzt hatten. 2005 kam es zu einer Reunion des Quartetts. Es gab 2007 ein Live-Album und nun eben ein neues Studio-Projekt minus Saxofon. Ich habe es mir mal geordert, einfach aus Sentimentalität, erwarte mir aber relativ wenig davon. Schließlich ließ ich auch 2005 schon den VdGG-Auftritt bei den Leverkusener Jazztagen sausen, obwohl es gerade mal eine Viertelstunde Fahrt bedeutet hätte. Ich war einfach nicht mehr interessiert an dieser Musik. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Solo-Platten von Peter Hammill, dem VdGG-Mastermind.
Das war mal anders. Herrschaften, was habe ich in den 80ern die Umwelt mit meinem Enthusiasmus für den Mann genervt! Das gereicht mir heute noch zum Nachteil. Die 140-Watt-Kompaktanlage spielte kaum etwas anderes, meine Mutter kam schon mal ins Zimmer gestürmt und rief: „Mach das Geschrei aus!“ Das war verständlich, denn Hammill hat eine ganz eigene Art zu – ähem - singen. Ich gebe zudem ihm und niemand sonst die Schuld daran, dass ich damals von zeitgenössischem Pop nichts mitbekam und mich frühzeitig als Kauz outete. Für 16jährige ist das einfach nichts, die müssen rocken und dancen und schwitzen, zum Tanztee gehen und Petting machen, statt Denkerpose einzunehmen und sich von manierierten Spaßbremsen wie Hammill den Kosmos und unseren Platz darin erläutern zu lassen. Aber nachher ist man immer schlauer.
Andererseits war Hammill natürlich ein Phänomen, mit dessen Bewunderung man sich selbst den Anstrich des elitären Außenseiters verpassen konnte. Auch wenn man nur die Hälfte von dem raffte, was der Mann einem da erzählte. Immerhin: Durch das unbeholfene Übersetzen seiner Songtexte habe ich mehr Englisch gelernt als bei Frau Gabelmann.
Peter Hammill: spindeldürrer katholischer Engländer, jesuitische Erziehung, literarische Bildung, Wirtschaftsstudium, Kunststudium, naturwissenschaftlich bewandert, Metaphysiker, kettenrauchender Mystiker, großartiger Songschreiber, eigenartiger Sänger, eher mittelmäßiger Musiker. Mit seiner famosen Band spielte er hochdynamischen psychedelischen Progressive Rock mit Jazzrock und Free-Elementen, Gitarre nach hinten gedrängt, den Bass erledigte (meistens) der Tastenmann mit Hilfe von Pedalen, dominant waren Saxofon und Gesang, und das jazzige Schlagzeug kam sowieso einer Offenbarung gleich. Dunkel und existentialistisch ging es bei VdGG zu, philosophisch und schwer, absurd mitunter, Science-Fiction-mäßig, poetisch und oft genug krass exaltiert. Der stille Jesuit und Ex-Student brüllte seinem Publikum kosmologische Analysen an den Kopf, dass die Welt sich schier verdunkeln wollte. Die Band trennte sich 1972 und hinterließ mit „A Plague of Lighthouse Keepers“ die allerbeschwörendste all der 70er-Rock-Suiten. Hammill ging auf Solo-Trip und horchte aufmerksam in sich hinein. Stille Psychoanalysen-Avantgarde mit Eruptionscharakter und extremen, pathetischen, irrwitzigen Ergebnissen: „Modern“ oder „The Comet, the Course, the Tail“ oder die gruselige Soundcollage „Gog/Magog“, die ich regelmäßig im komplett abgedunkelten Zimmer hörte und die mein Leben geprägt hat: Der Sound der Apokalypse und ich, eingesperrt in meinem Zimmer und in meinem Kopf. Ja, ja, ganz schön dunkel da drin. Wenn das die Brights wüssten.
Das Jahr 1975 hinterließ spannende Dokumente. Zum einen war da Hammills ungewöhnlichstes Solo-Album, Nadir’s Big Chance, auf dem er vorgab, lediglich als Channel oder Medium für einen Rüpel namens Rikki Nadir zu fungieren, eine Art jüngeres Selbst, das rocktechnisch mal ein bisschen die Sau rauslassen wollte. Das Ergebnis war, dass diese Platte des stillen Kunststudenten zu einem Fundamentstein des britischen Punk erklärt wurde. Hammill? Punk? Stand der nicht eigentlich auf der Gegenseite, der des nervigen, gedrechselten Art Rock? Falsch, ganz falsch, denn bei Hammill war damals nichts berechenbar. Zum anderen kehrte 1975 VdGG zurück, entschlackt, jazziger, manchmal fast ein bisschen poppig, aber immer noch mit eruptiven Stücken, die die Zehn-Minuten-Grenze selten unterboten. Godbluff enthielt nur vier Tracks. Mitunter wurde der ganze philosophisch-kosmologische Output jedoch ein bisschen arg weihevoll, was sich zum Beispiel in Songtiteln wie „Childlike Faith in Childhood’s End“ ausdrückte. 1977 kam es zu einer Neuorientierung, kürzere Songs, straffere Vorgehensweise, symphonische Momente, mit Geiger Graham Smith ein aufregender neuer Musiker. Am besten am dialektisch betitelten Album The Quiet Zone/The Pleasure Dome fand ich jedoch die Schlagzeugspur, denn die war überlaut abgemischt. Man wurde förmlich mit der Nase auf Guy Evans bei der Ausübung seiner Pflichten gestoßen, und das war wirklich eine Wonne. Das ist ein Schlagwerker, Mannomann! Nach der extrem raubeinigen Live-Platte Vital, die mir heute noch um einiges lauter vorkommt als damals, war finito mit VdGG. Hammill machte wieder den Solisten und stieß erstmal eine seiner besten Platten aus: Over. Er kotzte sie förmlich aus, denn sie dokumentierte das Ende einer langjährigen Liebesbeziehung. Die Frau zog mit dem besten Freund von dannen. Wie immer konnte man nicht so genau wissen, was davon denn autobiographisch und was fiktional war. Der Schlussakkord jedenfalls, „Lost and Found“, ist brillianter Zynismus. Danach fuhr Hammill damit fort, avantgardistische Sound-Ideen umzusetzen, mit einzelnen Begleitmusikern aus dem VdGG-Umfeld und durchweg songorientiert. Die Jahre von 1977-81 sind womöglich der Höhepunkt in seinem Schaffen: hoher Wiedererkennungswert, aber völlig unberechenbar und immer anders. Sorgfältig inszenierte Songs, ruppig und ruhig zugleich, wavig, state-of-the-art regelrecht und dennoch nichts anderes als intim. Hammill kooperierte auch mit dem damals schwer angesagten Peter Gabriel, hielt sich aber stets in dessen Schatten. Durch Gabriel geriet er auch an den Auftrag, die hoffnungsvolle New-Wave-Band Random Hold zu produzieren, deren Mitglieder sich aus Progressive Rockern der dritten Generation rekrutierten und mit Macht in Richtung Erfolg drängten. Wurde nichts draus, aber zumindest heute hören sie sich schön wummernd und schroff an. Bei denen hatte Hammill verschissen, aber andere hippe Musiker propagierten ihn als wichtigen Einfluss, allen voran Herr Fish von Marillion. Auf dem Cover des Albums Fugazi, auf dem Herr Fish sich ein bisschen surreal-symbolüberladen herumfläzt, stehen in der Zimmerecke Hammill-Alben angelehnt.
Bis in die Mitte der 80er unterhielt Hammill die „K Group“, zu der Guy Evans, der Ex-VdGG-Bassist Nic Potter und Ex-Vibrators-Gitarrist John Ellis gehörten. Straffer, rauer Gitarrenrock mit Hinwendung zum Popsong. Ungewohnt geschmeidig und manchmal nahezu kommerziell, nicht jedoch auf dem Live-Album The Margin, das einen glattzubügeln droht in seiner radikal schartigen Art. All diese Platten sind heute noch problemlos hörbar, weil kaum gealtert und nicht so schrecklich 80er-mäßig, obwohl sie paradoxerweise nur in den 80ern so möglich waren. Es blieb spannend mit melodiösen Alben wie Skin oder In A Foreign Town. Andererseits tauchten nun extrem verinnerlichte Scheiben auf, die nur mit Piano und ein bisschen Gitarre eingespielt wurden, generell an die Frühsiebziger-Sachen erinnerten, jedoch auf deren großartige Sound-Wände verzichteten. Einmal konnte man sich so was leisten, aber auf Dauer ermüdete es einen doch. Zu ruhig, zu ereignislos. Hammill nahm auch eine Rock-Oper auf (The Fall of the House of Usher) sowie eine Platte auf Deutsch (Offensichtlich Goldfisch). Zu den Gastsängern bei ersterer gehörte ein gewisser Herbert Grönemeyer, was einige deutsche Fans fassungslos vor Entsetzen zurückließ, die Texte des deutschsprachigen Projekts ließ Hammill von einem Herrn namens Heinz-Rudolf Kunze übersetzen. Zumindest in Deutschland war Hammill also im bittersten Mainstream angekommen, wahrscheinlich ohne es zu bemerken.
Bis etwa 1996 konnte er mich halbwegs bei der Stange halten, auch wenn seine Alben sich zunehmend in einen selbstreferenziellen Mikrokosmos verflüchtigten und sich wiederholten. Reizvoll war noch die Abfolge von Fireships (ruhig) und The Noise (poppig-rockig) und There Goes the Daylight (Live-Aggression mit kompletter Band) und Roaring Forties (Neo-Progressive mit Schmackes), danach wurde mir alles etwas pampig und breiig und einschläfernd, und ich verlor sowohl den Faden wie auch das Interesse. Ach ja, live gesehen habe ich ihn insgesamt dreimal.
Dennoch gehört neben der neuen VdGG auch das 2006er Soloalbum Singularity zu meiner jüngsten Order, denn Hammill diskutiert darauf seinen 2004 erlittenen Herzinfarkt durch und macht sich allerhand Gedanken über den Tod und das vermeintliche Nichts, auf das wir alle zusteuern. Könnte sein, dass er der rechte Mann zur rechten Zeit ist für so was. Das Thema hat ihn schon immer brennend interessiert, und nun stand er selbst mal auf der Schwelle. Interessiert mich, was er da erblickt hat. Ich schreibe es dem eigenen Alter zu, dass mich das irgendwie berührt.

Donnerstag, 13. März 2008

Erin


Zu einem früheren Zeitpunkt habe ich schon mal darüber berichtet, wie Buck Rogers bzw. der im Kino ausgewertete Pilotfilm von 1979 den 12jährigen Raumschiff-Erotomanen ganz sachte ins verwirrende Reich des Frauenanschmachtens überführt hat. Ich war bis dahin bedingungsloser Luke-Skywalker- und Han-Solo-Fan. Prinzessin Leia war eine handlungstechnisch notwendige Beigabe, die man genauso gut ignorieren konnte, außer wenn sie zur Waffe griff und Stormtroopers niederschoss. Sie war mehr so ein Neutrum, vergleichbar mit C3PO oder dem alten Obi-Wan. Kurz darauf, bei Kampfstern Galactica, spielten Frauen ohnehin keine nennenswerte Rolle, also musste man sich auch nicht mit ihnen beschäftigen.
Ein Jahr später jedoch, bei Buck Rogers, wurde alles anders. Der blöde Fönfrisurenheld und seine Raumschiff-Knallereien interessierten mich beunruhigenderweise gar nicht mehr, sondern allein das knallenge Kostüm der knalligen Knallcharge Erin Gray. Ich verbinde mit diesem Film also so etwas wie eine erste Ahnung von der Existenz eines zweiten Geschlechts. Ein Initiationserlebnis. Und das Beste daran: Dieses andere Geschlecht war nicht nur auf eine Weise hübsch anzusehen, wie es die schnöde realen Dorfpomeranzen (noch) nicht waren, sondern konnte sogar Raumschiffe fliegen. Ich träumte nachts davon, mit der jungfräulich weißen Erin Gray als Co-Pilotin galaktische Bösewichter niederzulasern. Nach Erledigung des Auftrags fragte sie mich dann, was wir denn nun unternehmen sollten. Zu ihr oder zu mir? Zu ihr, befand ich, denn bei mir zu Hause waren ja meine Eltern. Was sich dann hinter der automatischen zusurrenden Elektrotür ihres Apartments in der Erdhauptstadt zwischen uns abspielte, davon träumte es mir nicht. Wahrscheinlich haben wir Ahoi-Waldmeisterbrause getrunken und uns auf dem Videorecorder, über den ja jedes Zukunftsapartment verfügt, einige Folgen von Raumpatrouille angesehen.

Mittwoch, 12. März 2008

Sturm

Ich habe der Katze gerade erzählt, sie solle sich glücklich schätzen, eine Wohnungskatze zu sein, denn draußen im Sturm flögen gerade andere Katzen durch die Straßenschluchten, klammerten sich miauend an Zäunen oder Fernsehantennen fest und würden bis an den Rheinauhafen oder sogar bis nach Deutz geweht. Sie schaute mich verständnisvoll an, drehte sich herum und pennte weiter.

Sonntag, 9. März 2008

Turnschuhe

Gestern ist etwas geschehen, das auf Aktivitäten der Twilight Zone hinweist. Ein paar Meter von unserer Haustür entfernt gibt’s eine Fußgängerampel, die den kürzesten Weg in Richtung Chlodwigplatz markiert. Ich warte da auf Grün, es gesellt sich ein junger Typ hinzu, der eigenartig zappelt, als dauere ihm die Rotphase zu lange. Als es grün wird, überholt mich der Knabe aus dem Stand: schneller, schlurfiger Gang, braune Strubbelhaare, ungepflegter Vollbart, kackbraunes Kapuzenshirt, undefinierbare Trainingshose sowie blaue Bundeswehrturnschuhe, diejenigen, die während meiner Dienstzeit damals eingeführt wurden und heute immer noch in Gebrauch sind. Der Typ rennt nicht, geht aber schnell und ist schließlich aus meinem Blick verschwunden. Ich sinniere derweil über Jungmänner, die freiwillig Bundeswehr-Turnschuhe tragen. Entweder sind das extremistische No-Styler oder arme studentische Kirchenmäuse, die ihre Schuhe für Zweifuffzich beim Trödler erstehen müssen.
Ich biege auf die Merowingerstraße ab, und etwa auf der Hälfte der Distanz, circa drei Minuten, nachdem der Turnschuh-Bursche verschwunden ist, höre ich von hinten einen eiligen Passanten herannahen, der sehr flott geht und mich links überholt. Es ist der Turnschuh-Bursche: selber Gang, selbes Tempo, braune Strubbelhaare, ungepflegter Vollbart, kackbraunes Kapuzenshirt, undefinierbare Trainingshose und – jetzt kommt’s – weiße Adidas-Turnschuhe. Ich weiß genau, dass er vor drei Minuten noch Bundeswehr-Turnschuhe trug, denn ich habe ja die halbe Strecke bis hierher darüber nachgedacht. Ich muss kurz den Kopf schütteln, um herauszufinden, ob ich tatsächlich gerade hier durch die Südstadt tippele und nicht etwa noch im Bett liege.
Nun, er ist schnell wieder aus meinem Blick verschwunden, Richtung Chlodwigplatz, und es gibt keine Pointe dieser Geschichte. Ich finde die reine Beobachtung schon beunruhigend genug. Hier im Viertel stimmt was nicht.

Mittwoch, 5. März 2008

Ungewaschen, ungekämmt

Ein paar Tage auf dem Dorf gewesen und kaum etwas anderes gemacht, als den Laptop auf dem Schoß zu haben und eine kitzlige Redaktion durchzunudeln. Es gab einen Wintereinbruch, zu ausgiebigeren Wanderungen war es mir zu kalt. Ungewaschen, ungekämmt auf dem Bett gefläzt und Orthographie und Syntax betreut. Jeder Satz musste umgeschrieben werden, über eine Distanz von 600 Seiten. Den zweiten Durchgang, in dem ich mich mit meinen eigenen Versäumnissen konfrontieren werde, hebe ich mir für nächste Woche auf. Zur Entspannung werden bis dahin ein paar Manuskripte weggelutscht und Gutachten erstellt.
Neben der Umbenennung meiner alten Schule gibt es in der Region Trier laut Tageszeitung ein brisantes Topthema: In einem Dorf im Ruwertal maulen Anwohner über einen stinkenden Holzkohlemeiler, den ein Verein der Köhlerfreunde in der Nähe aufstellen wollte. Jetzt haben die Köhlerfreunde einen Rückzieher gemacht. Damit wäre die Welt wieder in Ordnung. Bis im Dorf nebenan jemand eine Manga-Porno-Szene auf sein Garagentor sprayt. Oder bis herauskommt, dass im anderen Nachbarort der Pfarrgemeinderatzsvorsitzende heimlich Taschenbillard spielt.