Donnerstag, 25. August 2011

Flussfahrt nach Zons


Zons, eine Ortschaft irgendwo hinter Leverkusen, könnte ein weltvergessenes Fleckchen sein, wenn im Sommer nicht Bus- und Schiffsladungen von Touristen hier abgeladen würden. Der Grund liegt darin, dass Zons im Mittelalter Zollfeste des Kölner Erzbischofs war und dass sich das historische Ensemble hübsch erhalten hat. Komplette Stadtmauer, Wehrtürme, Mühle, Fachwerk, enge Gässchen. Obwohl unwesentlich größer als unsere Küche, legt der Ort trotzigen Wert auf die Bezeichnung „Stadt Zons“.
Wenn mal wieder etwas Bräune an den blassen Kadaver soll, was liegt da also näher als eine Schiffsfahrt nach Zons auf dem Sonnendeck der Drachenfels? Natürlich ist das eine Rentnertour, und die Rentner erweisen sich bereits beim Entern des Schiffs als skrupellos. Kaum geht die Absperrung an der Landebrücke auf, drängeln und schieben sie, rufen sie Parolen, heizen Gattinnen ihre Männer auf, schwingen Handtaschen und beißen mit den dritten Zähnen. Dann strömen sie auf die Unterdecks an die reservierten Tische zu Kaffee und Kuchen sowie Mittagessen. Bis aufs Sonnendeck kommen die meisten gar nicht erst. Sie interessieren sich eben nicht so sehr für die Landschaft, sondern für die Speisekarte. Und sie wollen sich mit Gleichgesinnten über künstliche Hüftgelenke und geschwollene Fußgelenke austauschen.
Hier, auf dem Sonnendeck, geht es daher eher meditativ zu. Die Servicekraft ist aufmerksam, die Preise niedrig. In einen Stuhl gefläzt, die Beine auf der Reling, schaut man der Landschaft beim Vorbeigleiten zu. Kölner Panoramen, Auen und Wäldchen, Yachtclubs, Campingplätze, ein Pferdegestüt, chemische Industrie, vorbeiziehende Pötte. Zwei sehr angenehme Stunden Fahrt in Sonne und Flussbrise.
Am Zielort schlagen die Rentner wieder zu. Alle strömen gleichzeitig zum Ausgang. Vielleicht wollen sie auch vor der Musikberieselung im Schiffsinneren fliehen. Dann stellen sie, jeder für sich, fest, dass die Laufplanke, die das Schiff mit dem Anleger verbindet, eng und steil ist. Jeder Rentner benötigt gefühlte fünf Minuten für die drei Meter. Crewmitglieder tragen die Rollatoren hinterher. Als wir endlich im zwei Fußminuten entfernten Zons ankommen, die stetig stockende Rentnerkarawane auf dem schmalen Fußweg rechts überholend, ist eine halbe Stunde des zweieinhalbstündigen Aufenthalts schon vorbei. Die Rentner verteilen sich auf die überdurchschnittlich hohe Anzahl an Restaurationsbetrieben und Eisdielen. Nach dem Mittagessen an Bord, dem anstrengenden Ausstieg und dem Fußmarsch brauchen sie Stärkung und müssen untereinander ein bisschen klagen.
Tatsächlich ist der Ort pittoresk. Mag sein, dass hier Mittelalterfilme gedreht wurden. Löblich: Die Stadt erkennt ihr Kapital; hier wird alles auf alt gehalten. Keine grelle Werbung, keine Take-aways, kein Fast Food, kein Neon. Die Sehenswürdigkeiten sind in einer knappen Stunde erwandert und aufgeguckt. Auf der Freilichtbühne am Schloss wird „Des Kaisers neue Kleider“ gegeben, allerdings nicht heute. Die Kirche ist zu – um Vandalismus vorzubeugen, informiert eine Tafel. Das ist in Zons schwer vorstellbar. Drumherum idyllisches plattes Land. Gegen Ende wird es dann doch noch knapp, da der spontan ausgewählte Restaurationsbetrieb trotz wenig Zulauf für das Kredenzen eines höchst mittelmäßigen Salats und einer soliden, aber gewöhnlichen Lage Bratkartoffeln mit Spiegelei eine geschlagene Dreiviertelstunde benötigt. Und die Cola war lauwarm und abgestanden. Schwach. Wir hätten uns, so wie die Rentner, eben auf dem Schiff die Bäuche vollschlagen sollen und hätten nach hinten raus noch etwas Zeit gehabt, an irgendeinem mittelalterlichen Stadtmauerplätzchen kontemplativ zu verweilen und uns als Rittersleut zu fühlen. Auf dem Weg zum Schiff treffen wir dann immerhin noch das sagenumwobene „Dicke Kind von Zons“. Die Gerüchte stimmen: Es ist ziemlich dick. Und hässlich.
Auf der Rückfahrt nieselt es, was die Rentner in den Eingeweiden des Schiffs festhält. Alles frei hier oben. Mehr Verkehr auf dem Rhein zu dieser Stunde, und ich bewundere die Manövrierfähigkeiten der Flusskapitäne, vor allem wenn drei Pötte gleichzeitig, einmal sogar vier, aneinander vorbeifahren müssen. Totales Flussfeeling.
Danach vom Anlegesteg zu Fuß nach Hause. Lange genug gesessen. Die erwünschte Bräune am blassen Kadaver entpuppte sich am Abend mehr so als Röte. „Du leuchtest“, sagt die Gemahlin. „Du auch“, sage ich.

Montag, 22. August 2011

Gewonnen!

Heute Nacht träumte mir, dass ich in der zweiten Klasse den Buchstabierwettbewerb gewonnen habe. Abgefragt wurden die Wörter „Redundanz“, „Entropie“, „Solipsismus“, „Schwanzgesicht“, „Fahrstromstörung“, „Unbedingtheit“, „Kackstelze“ und „Papstmesse“. Kein Wunder, dass ich gewonnen habe, denn es sind meine Lieblingswörter.
Als ersten Preis gab es einen Plüschpapagei.

Sonntag, 21. August 2011

Be Bop Deluxe

Die späteren Alben der Band (etwa: Modern Music oder Sunburst Finish) sind mir heute etwas zu geschmäcklerische 70er-Hipness, teilweise kitschig. Trotz der Spaceage-Ästhetik. Gegen Ende der Bandkarriere wird es mit den New-Wave-Anteilen wieder besser. Mastermind und Gitarrengott Bill Nelson verflüchtigte sich danach vollends in Wave, später in Ambient und Hermetik und Introspektive.
Das Debütalbum Axe Victim von 1974 jedoch entfaltet nach wie vor diesen entschlackten, wohlorganisierten Blues-Rock-Charme. Vorder- und Rückseite des Covers suggerieren eine frühe Heavy-Metal-Band mit Glam-Anteilen und Proto-Gothic, tatsächlich aber ist Axe Victim ein freundlich-poetisches Idyll, in dem zwar auch stramm drauflos gerockt wird, das aber eher zum Erzählen neigt statt zur Motorik. Auch die zahllosen Gitarren-Soli und -Duette ordnen sich dem unter. „Love is Swift Arrows“ ist so ein typisches Beispiel, aber auch „Night Creatures“ und „No Trains to Heaven“ bleiben Standards.
Ein Jahr darauf hatte Bill Nelson die Band mit neuen Leuten zum Trio geschrumpft und schuf mit Futurama das erste jener verschnörkelten, romantischen Pop-Rock-Alben, die mir heute ein bisschen zu schwülstig daherkommen. Das letzte Album Drastic Plastic kombiniert Wave-Elemente mit Seventies-Rock und tritt mit Kunstanspruch an.

Anime

In der Anime-Ausstellung in Bonn gewesen. Das Schöne ist ja, dass man sich dafür kaum bewegen muss. Vor der Haustür in die Linie 16 einsteigen und vor der Bundeskunsthalle wieder aussteigen.
Vage enttäuscht von der Ausstellung. Hübsch anzusehen und großzügig in den Abmessungen, jedoch zu wenig Information oder detaillierte Hintergründe über Schaffensprozesse. Filme werden mit ein paar Originalfolien und Inhaltsangaben abgespeist. Um Cross-Marketing-Produkte und Filmausschnitte zu sehen oder eine Runde in irgendeinem Wii-Spiel zu spielen, muss ich nicht zwingend ins Museum gehen. Da reicht wohl auch ein Manga-Laden mit ein paar Vitrinen. Das „Erotik-Kabinett“ ist zwar sündig rot, aber ansonsten sehr zahm. Zutritt empfohlen ab 18, na ja, da könnte man problemlos einen Sechsjährigen abladen.
Immerhin ein bisschen was gelernt über die verschiedenen Anime- und Manga-Typen und die weltbewegende Erkenntnis gewonnen, dass es in diesem Marktsegment ziemlichen Schund gibt, aber auch Meisterwerke. Wer hätte das gedacht? Lag nach dieser Erleuchtung eine Weile erschöpft auf einem hippen Sitzsack herum. Will auch so einen.
Schwer enttäuscht darüber, dass es das Ausstellungsplakat nirgendwo als Poster zu kaufen gab. Stattdessen zu Hause im Internet endlich mal ein original japanisches Totoro-Poster bestellt – mit der besten Filmszene aller Zeiten drauf.
Auf dem Museumsvorplatz spielten abends Ich und Ich. Der Soundcheck war gerade im Gange. Anhand der Art, wie der Roadie die Gitarre abstimmte, glaubte ich zu erkennen, wer spielen wird, noch ehe ich die Plakate sah.

Montag, 15. August 2011

Social Network

„Was macht ein Misanthrop wie du eigentlich in einem Social Network?“
„Leute online verachten.“

Samstag, 13. August 2011

Skript für eine Narrenträne (oder so)

Gerade online noch mal Script For A Jester’s Tear von Marillion durchgehört und als unfreiwillig komisch verworfen. Mehr als einmal schmerzhaft das Gesicht verzogen. Nee, die kommt mir als CD oder Download nicht ins Haus.
Nach wie vor bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass ich der Erste in der kreisfreien Stadt und dem drumherum liegenden Landkreis war, der 1983 dieses Debütalbum kaufte. Ich sah die LP in der Plattenabteilung des Kaufhof einsam herumstehen und fühlte mich angesprochen sowohl von dem tolkienesken Bandnamen wie auch dem überladenen Cover. Der kleine Entdecker war wieder mal auf Pirsch.
Als Rock-Anfänger war mir das schon ein bisschen rätselhaft. Zweifellos aktueller Frühachtziger-Sound, aber mit „epischen“, nahezu rezitatorischen Zügen, die auf etwas Älteres zurückverwiesen. Diese langen Stücke und ihre melodramatische Inszenierung, die aufwendigen Keyboards mit Klassik-Kuschel-Faktor, die Dynamikschwankungen, der expressive Gesang, die stetige Aufforderung seitens des Sängers, in seinen pathetischen Texten zwingend etwas künstlerisch Hochwertiges sehen zu müssen.
Erst zwei, drei Monate später las ich einen ersten kleinen Artikel über diese Newcomer-Band in der Zeitschrift „Musik-Szene“. Darin wurde Frontmann Fish nahe an ein Peter-Gabriel-Plagiat herangerückt und zitiert mit einer ganzen Latte von Einflüssen, die ich fortan mithilfe meiner Zeitungsjob-Geldquelle brav abarbeitete. Obwohl Fish darauf bestand, „moderne“ Musik zu machen und auch auf New Wave und Post-Wave zu rekurrieren, wurde seine Band von den musikjournalistischen Spaßbremsen doch eher angegangen als Retro-Truppe, als käsige Renaissance des überwunden geglaubten Progressive Rock. Mir fiel dann irgendwann auch die eklatante Abhängigkeit von Gabriel auf, mehr aber noch die von Peter Hammill. Der Anfang von Script … etwa ist Hammill circa anno 1973. Ich kaufte mir schließlich noch das Nachfolgealbum Fugazi, danach war Schluss. Während die Marillion-Alben an eine Mitschülerin verkauft wurden (fünf Mark das Stück), begann eine Liaison mit dem originalen, authentischen ProgRock der Siebziger, die letztlich in eine intensivere Liebesaffäre mit dem Hardrock und dem Psycho mündete. Der Marillion-Durchbruch, der Airplay-Hit „Kayleigh“, traf mich bereits mit verächtlich hochgezogener Oberlippe an.
Ich musste beim aktuellen Durchlauf des Debütalbums einige Songs echt abkürzen, denn die bedeutungsschwangere Amateur-Lyrik, das wichtigtuerische Gejammer, das instrumentale Herumgeschlacker und die Keyboard-Flokatis waren kaum zu ertragen. Manchmal ist es nicht förderlich, in die eigene Biographie abzutauchen.

Freitag, 12. August 2011

Breitschwert und Biest


Frühjahr 1982. Ich hatte gerade diesen Aushilfsjob bei der Zeitung bekommen. 40 Mark in der Woche, 160 im Monat. Damals als Taschengeld nicht zu verachten.
Zuvor hatte ich es mir immer zweimal überlegt, ob ich mir eine Platte kaufen sollte oder nicht. Musste schließlich dafür sparen. Das war nun vorbei. Die Hälfte des wöchentlichen Salärs wurde ab sofort in eine LP investiert. Eine Neuerscheinung kostete damals so 16,99 bis 17,99 DM. Im Fall von „Nice Price“-Produkten (7,99-9,99) konnten es auch schon mal zwei Platten werden. Es öffneten sich auf einmal neue Horizonte.
Ich wollte mich verändern, erweitern. Rockiger werden, weg vom Pop meiner Epoche und mich aufmachen in die märchenhaften, unbekannten Lande jenseits des täglichen Airplay-Horizonts. Da gab es so unendlich viel Material, das die Altvorderen uns hinterlassen hatten. Die erste Platte vom neuen Geld musste unbedingt zelebriert werden. Die Wahl fiel auf die legendäre, mythophile, flötenfetischistische, offenbar auch ein bisschen exzentrische Hardrock-Band Jethro Tull und ihr brandaktuelles Album The Broadsword and the Beast. Selbstverständlich zog mich auch das Fantasy-Cover an. Wahrscheinlich war es sogar der wichtigste Kaufanreiz.
Wenn ich die Platte heute mal wieder durchhöre, überläuft mich immer noch derselbe Schauer wie damals. Eine LP zum Entdecken, und exakt das richtige Album für den mythophilen Rock-Novizen. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchrieselt mich.
Eine Inszenierung zwischen modern und klassisch-archaisch, voll von folkigem Hardrock, losgelassener Flöte und schönen Gitarren- und Mandolinenfiguren, düster dräuenden Fantasy-Metaphern, süffisanten Kalter-Krieg-Botschaften, poetischer Inbrunst mit Edda-Touch, mittelschweren Riffs und balladesker Schönheit. Selbst die hymnischen Stücke sind nicht klebrig, sondern zielen in melancholische Weiten (etwa: „Slow Marching Band“). Für Tull-Verhältnisse relativ neu waren die tuckernden Synths und Keyboard-Fanfaren, der geschmeidige Pop-Anteil, aber das wusste ich damals selbstverständlich noch nicht. Nach heutigen Maßstäben klingt das Album nur in wenigen Momenten nach käsigen Achtzigern (etwa: „Flying Colours“); der Rest ist zeitlos und gänsehauttechnisch nach wie vor groß. Danach wurde Woche für Woche der gesamte Tull-Backkatalog angeschafft. Und herrje, was gab es da alles zu entdecken!
Das persönliche Broadsword-Highlight heißt immer noch „Clasp“.

Montag, 8. August 2011

Deep Impact

Mannomann, das war ein Schwinger, diese Ruhr-Epidemie, die Gattin und Gatte übers Wochenende niedergestreckt hat. Als wäre ein Komet in den Verdauungstrakt eingeschlagen. Der Gattin geht’s wieder merklich besser, danke der Nachfrage. Der Darm des Gatten offeriert inzwischen auch wieder feststoffliche Endprodukte, die Bleischwere ist größtenteils aus Kopf und Gliedern gewichen, lediglich der Magen brennt noch ziemlich und zügelt den Appetit. Auf die Darstellung weiterer Details wird aufgrund eines ästhetischen Restempfindens verzichtet.
Kabautz. Einfach so synchron umgehauen worden. Muss irgendwas im Essen gewesen sein, aber was genau, das bleibt ein Mysterium. Nichts davon war irgendwie exotisch oder ungewöhnlich. Das Leben bleibt unberechenbar.

Sonntag, 7. August 2011

Tull

Noch so ein altes Schätzchen, an dem es sich abzuarbeiten gilt. Tatsächlich war Jethro Tull die erste Band, die den 14jährigen Vollidioten damals davon abbrachte, ELOs Discovery oder Alan Parsons Tales of Mystery and Imagination für die besten „Rock“-Alben aller Zeiten zu halten.
Das ist eine Leistung, die Maßstäbe setzte, dennoch bewerte ich Jethro Tull heute ein bisschen ambivalent. Angeführt wurde die Band von einem selbstverliebten Autokraten, der auf der Bühne die Rocksau ebenso verkörperte, wie er Spontaneität vorgab. Einer, der je nach Bedarf den Rocker, den Bauersmann, den Komödianten, den Bildungsbürger, den Poeten oder den irren Rattenfänger herauskehrte und durch die Jahre halbherzig alle möglichen Stile aufgriff und verhunzte.
Das wäre die eine Sichtweise. Tatsächlich aber hatte Ian Anderson genialische Züge, ließ sich von niemandem reinreden und erschuf neben prätentiösen Monstren auch runde, atmosphärisch unglaublich dichte Alben. Seine Mitspieler waren allererste Sahne und durften ihre Talente auch ausleben, solange sie sich den Konzepten des Maestros unterordneten. Saufen, huren und bunte Pillen schlucken durften sie angeblich nicht, zumindest nicht auf Tourneen (die viele Musiker ja am liebsten genau deswegen unternahmen). Nein, solche Exzesse hätten die Perfektion der nächsten Show gefährdet.
Die ersten drei Alben schienen mir damals, als ich Tull-Platten zu kaufen begann, 1982, bereits zu sehr gealtert in ihrem Bluesrock-Bestreben. In Aqualung (1971) hingegen bin ich monatelang spazieren gegangen. Auch Thick as a Brick mochte ich ungemein, während mir A Passion Play größtenteils verschlossen blieb. War Child empfand ich als eine Art skurrilen Comic, viel eher noch als das gezielt im Comic-Design gestaltete, etwas langweilige Too Old to Rock’n’ Roll: Too Young to Die. Dazwischen gab es noch Minstrel in the Gallery, das ich bis auf den heavy Titelsong auch etwas behäbig fand.
Ich war ein Riesenfan des „Folkrock“-Albums Songs from the Wood (1977), zumindest so lange, bis ich mal richtigen Folkrock hörte. Ian Andersons Kokettieren mit der Musik der Bauersleut war wenig mehr als das: Kokettieren nämlich. Das Cover ist symptomatisch. Anderson an einem Lagerfeuer mitten im Wald, in Landburschentracht, mit erlegten Fasanen nahebei. Wenn man genauer hinschaut, ist das alles Kulisse. Das Unterholz hinter ihm ist auf eine Glasscheibe gemalt, weder Feuer noch Holz noch Fasane sind echt. Die Aufnahme entstand vermutlich in irgendeinem Fotostudio in London. Was auf Songs from the Wood nach Folkrock klingt, ist genau dasselbe: eine Simulation. Es gibt nicht viele akustische Instrumente, erst recht keine authentischen, vieles wird mit E-Gitarre, Keyboards, Synths und mithilfe aufwendiger Arrangements und Studiomätzchen gemacht. Und die Botschaften passen in ihrer landmännischen Simplizität auch ganz gut zu diesem Innenarchitekten-Folk: „songs from the wood make you feel much better“ oder auch, rührenderweise: „it’ll make of you an honest man“. Echte Folker haben das Simulationsunternehmen Jethro Tull deswegen gehasst. Jedoch ist Anderson seit jeher ein Ironiker gewesen, der so etwas absichtlich macht. Das witzige Backcover, auf dem ein Baumstumpf zum Plattenteller wird, bespielt von einem mordsteuren Designer-Tonarm, macht sich über die Platte und ihre Botschaft lustig. Und über den Hang der Stadtmenschen, sich aus Smog und Verkehrslärm in die geordnete pastorale Schönheit früherer Epochen wegzudenken. Die dickensianische, urbane Blues-Hardrock-Robustheit der früheren Band war nach einigen ProgRock-Monstrositäten nun dem Charme eines britischen Freilichtmuseums gewichen. Oder dem einer Fototapete. Oder dem eines Mittelalter-Festivals, bevor es Mittelalter-Festivals gab. Auf Heavy Horses wurde das fortgesetzt und geriet in seinem Drang zur pastoralen Harmlosigkeit fast ein bisschen zu schmerzfrei.
Andererseits: Wenn ich heute irgendwo diesen pseudo-historisierenden Gothic-Folk-Metal und seine simulierten Simulationssimulationen zu hören kriege, bin ich verdammt froh, den sofort abwürgen und zu Tull-Platten greifen zu können.
Seit geraumer Zeit bevorzuge ich Stormwatch, den düsteren Nachzügler der Folk-Phase und Tull-Spätheimkehrer. Dieses Album ist wieder mächtig elektrifiziert und veredelt die Folkrock-Restbestände durch ihre Verwendung im Hardrock-Kontext. Die Lyrik ist phänomenal dunkel, die elegischen Teile sind allem Anschein nach tief empfunden und völlig ernst gemeint. Die kritische, nahezu apokalyptische Botschaft ist kein bisschen hysterisch oder alarmistisch, sondern eine mythische Verdichtung britisch grünen Gedankenguts, exemplifiziert an den harschen Landschaften und magisch-realistischen Stimmungen nordbritischer Küstenstreifen.
Danach wurde Tull dann modern. Die beiden Alben A und The Broadsword and the Beast übertünchen die Abriebsverluste mit Elektronik, A macht das ziemlich gut. Under Wraps wagt sich noch viel weiter auf dieses Terrain vor, danach wird Tull zu etwas hardrockiger angedachten Dire Straits, wobei Roots to Branches noch mal den erfreulichen Ausflug auf ein spannenderes World-Music-Areal versucht.

Mittwoch, 3. August 2011

Cameron in der Südstadt

Scheint sich doch um ein größeres Hollywood-Filmprojekt zu handeln, was die hier drehen. Voll generalstabsmäßig und so. Bombastisch. Würde mich nicht wundern, wenn James Cameron dahintersteckt. Am Sonntag fuhr ich das Auto wegen der Dreharbeiten in eine Nebenstraße. Heute Morgen klingelt eine Politesse und meint, mein Auto stünde im Halteverbot wegen Filmaufnahmen. Ich entgegne: „Es stand im Halteverbot wegen Filmaufnahmen.“ Sie meint: „Nein, es steht im Halteverbot wegen Filmaufnahmen“ und fügte hinzu: „Bitte wegfahren, die bauen gerade auf.“ Tatsächlich hat Cameron nun mit seiner Crew auch die Nebenstraße in Beschlag genommen. Habe sogar einige Weltstars gesehen, die da herumlungerten. Mir fielen nur wieder die Namen nicht ein. Habe das Auto jetzt in eine andere Nebenstraße gefahren. Morgen kommt dann wahrscheinlich die Politesse und meint …