Freitag, 30. Juli 2010

Sittich

Da ich gerade von der alten Kompaktanlage geschwärmt habe, hier noch etwas elektrisches Futter von damals.
Budgie („Sittich“): olle walisische Band unter der Leitung von Bassist Burke Shelley und mit wechselnden Mitspielern, aber immer als Rock-Trio und ohne Keyboards. Das Wappentier auf den Plattencovern ist der Wellensittich, der in alle möglichen futuristischen oder Fantasy-Kontexte gesetzt wird, teilweise von Fantasy-Illustrator Roger Dean.
In den frühen 70ern als Mitschwimmer im Led-Zeppelin-Kielwasser identifizierbar: eher Hardrock als Progressive, dennoch mit epischen Interessen; stoische Riffs, verformter Bluesrock, hoher Gesang. Ein bisschen Black Sabbath steckt auch mit drin. Viel Material, nicht immer konzentriert genug, teils sperrig und ermüdend, absurd lange Songtitel. Ein nicht kleinzukriegender, ewiger Geheimtipp. Ausgesprochen hübsch gerät etwa das psychedelische „Black Velvet Stallion“ von 1976. Die Band erlangte sehr viel später etwas Ruhm, als Metallica zwei ihrer Riff-Monster von 1973 coverte.
Während der späteren 70er tun sich gewisse Parallelen zu AC/DC und Rush auf, manchmal auch zu Motörhead. Um 1980 herum als (größtenteils erfolgloser) Major Act bei RCA und mitten ins Getümmel der New Wave of British Heavy Metal geworfen. Das Album „Power Supply“ (1980) destilliert und konzentriert den Sound, gerät kommerzieller und kam mir immer vor wie eines der signifikantesten Heavy-Rock-Alben der Welt. Kein Gewese, kaum Geklimper und progressives Däumchendrehen, null Horror-Schock-Okkult-Monsterquatsch, sondern Heavy-Rock bis zur totalen Besinnungslosigkeit. Manche der älteren Fans mochten es nicht. Gekauft circa 1983 im Kölner Saturn. Der stoische Opener „Forearm Smash“ gehört in die Walhalla des Heavy-Rock, gleich neben die AC/DC-Büste.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Seismisches Ereignis

Habe heute Nacht von meiner alten Kompaktanlage geträumt und bin immer noch ganz gerührt. Ich hatte eine schlimme Frisur, aber ansonsten war es eine gloriose Zeit. Mein Vater brachte sie 1982 mit, die Kompaktanlage, nicht die Frisur. War ein günstiges Vorführgerät mit einem kleinen Kratzer im Deckel. Mir gingen erst die Augen über, kurz darauf auch die Ohren. Eine von den flachen Anlagen, dunkelbraun getönter Deckel, anthrazitfarbenes Gehäuse. Wunderbar: Kinderzimmer im Eigenheim auf dem Dorf, Eltern tolerant, Nachbarn in gewisser Entfernung und 2 x 70 Watt. Kein Kopfhörer weit und breit. Die Markierung am Lautstärke-Drehknopf stand immer ziemlich weit rechts, etwas weiter rechts wäre einem seismischen Ereignis gleichgekommen. Für Marken habe ich mich nie interessiert, aber ich glaube, es war es eine Universum (Hausmarke von Quelle) mit einem eingepassten, damals hippen Dual-Plattenspieler mit Federung, Cassettendeck und Radio. Letzteres war für mich uninteressant, aber es war eben mit drin. Ich finde im Internet keine Bezeichnung und kein Foto des genauen Modells; ich selbst besitze hier am Ort auch keines. Irgendwann, nach Jahren, fing das Cassettendeck an zu spinnen und auf Aufnahmen knisternde, zirpende Geräusche zu verursachen. Vermutlich eine Art Magnetisierung, der ich trotz permanenter Anti-Magnetisierungs-Cassetten und -Kampagnen nicht Herr wurde. Also vielleicht doch keine Magnetisierung. Ich weiß nicht mehr genau, wann das alte Schlachtross ausgemustert wurde, aber es muss so um 1992 gewesen sein, als ein Sony-Turm mit CD-Player Einzug hielt. Wären also geschlagene zehn Jahre gewesen.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Filme

• Gestern wieder neu verliebt in Regreso a Moira. Kursiert auf dem internationalen DVD-Markt, also auch dem deutschen, unter den Titeln Spectre und A Ghost Story. Zweiter Teil der sechsteiligen spanischen Grusel-TV-Serie Peliculas para no dormir (Filme, die dich nicht schlafen lassen) von 2006. Die zweite Regiearbeit von Mateo Gil, der zuvor schon als Autor mit Alejandro Amenabar kooperiert hatte und deren überzeugendstes Ergebnis Tesis hieß. 
Letzten Endes hängt der Erfolg der Rezeption von Ihrem Charakter ab, werter Betrachter. Mögen Sie es womöglich sehr klassisch, sehr langsam, raffiniert, romantisch, poetisch, subtil und zurückhaltend und dazu noch in gleißendem Sonnenschein? Dann könnte Regreso a Moira ein kleines Meisterwerk für Sie sein und der vielleicht seriöseste Gruselfilm der letzten Jahre. Wenn Sie es hart und schnell mögen, schauen Sie sich nach etwas anderem um.

• Außerdem wurden Richard Lesters zwei Musketier-Filme aus den 70ern geordert. Doppel-DVD in der Edition „Große TV-Momente“. Wie wahr, wie wahr. Zusammen mit Robin und Marian (auch von Lester) gehören sie zu den allergrößten Historien-Heldenfilmen aus Kindheit und Jugend. Total unverwüstlich. Das hat mit der entzückenden Balance zwischen Authentizität und Anachronismus zu tun, mit der großartigen Mixtur aus Tragik und Albernheit. Lesters dritter Musketier-Film aus den 80ern ist sicher auch ganz nett, aber im Vergleich zu den wilden Originalen doch vergleichsweise verzichtbar.

• Erfolglos hingegen blieb die Suche nach einem weiteren Michael-York-Film, der die 70er prägte und zu den wertvollsten Kindheitserinnerungen gehört. Ich habe jede Ausstrahlung von Zeppelin gesehen, ich wiederhole: jede. Einige davon mit meiner Oma, die sich immer die Hände vor die Augen hielt, als es spannend wurde.
Nirgendwo als DVD zu kriegen, lediglich eine zu teure, zudem geschnittene spanische Fassung mit englischer Tonspur. So etwas Knackiges wird heute nicht mehr gemacht. Es geht um ein heikles deutsches Kommandounternehmen im Ersten Weltkrieg, das mit einem Zeppelin ausgeführt wird. Die Deutschen wollen das nach Schottland evakuierte Britische Nationalarchiv vernichten, um den Gegner zu demoralisieren. Was mich damals begeisterte, waren die Spannung, die majestätischen Trickaufnahmen, das Brummen der Motoren und die tolle Agenten- und Kriegs-Action. Was mich überraschte, war die enorme, bedrohliche Effizienz der Deutschen. Aus angloamerikanischen Kriegsfilmen kannten wir die Krauts, also sozusagen unsere eigenen Großväter, ja prinzipiell als zackige Idioten, die man als Alliierter mal eben austricksen und dann im Dutzenderpack niedermachen konnte. Hier hingegen ist die deutsche Perspektive die maßgebliche, und die Herren erweisen sich als brandgefährliche, schlaue Gegner mit überlegener Technik und Disziplin, die am Ende zwar majestätisch scheitern, bis dahin aber enormen Schaden angerichtet haben. Okay, das waren noch keine wahnsinnigen Nazis, sondern Kaiserreich-Krauts, Hunnen. Mit denen konnte man als britischer Drehbuchautor des Jahres 1970 sogar sympathisieren. Harter, spannender Reißer, der auch heute bestimmt noch einen Heidenspaß machen würde – wenn es ihn denn irgendwo als vernünftige DVD gäbe.

• Übers Wochenende gibt’s aus dem Verleih Public Enemy No.1, die Blu-ray mit beiden Teilen, was eine Vier-Stunden-Sitzung bedeutet. Da bin ich mal sehr gespannt, vor allem weil das für Vincent Cassel die Rolle seines Lebens sein könnte.

Mittwoch, 21. Juli 2010

T-Shirt

Gestern ging für mich der Traum eines jeden seriösen, bewussten T-Shirt-Trägers in Erfüllung. An der Supermarktkasse sprach mich ein junger Vater an und begann eine Diskussion über meinen T-Shirt-Aufdruck Entropie. Genau das richtige Thema für die Supermarktkasse, wenn ein Dutzend mutmaßlich klügere Südstadt-Bewohner hinter einem stehen und zuhören, die Kassenkraft verständnislos vom Scanner aufblickt und uns anstarrt und Gattin und Kind des Fragenden die Augen verdrehen auf eine Weise, die sagt: "Ach je, jetzt muss er wieder fremde Leute ausfragen!"
Ich war etwas überrumpelt, brachte aber immerhin die eher soziologisch-philosophischen Definitionen „Das Maß an Chaos innerhalb eines Systems“, „Der Übergang eines geordneten Systems in ein ungeordnetes“ und „Alles geht kaputt“ zusammen. Aber auf die Frage nach dem Gegenteil von Entropie musste ich glattweg passen. Er meinte, es sei die Enthalpie. Ich sagte - Prinzenrolle in der einen Hand, eisgekühltes Kaffeemischgetränk in der anderen -, ich müsste das zu Hause mal nachschlagen. Laut meiner Quellen erweist sich als das genaue Gegenteil („Abwesenheit von Chaos“) allerdings die Negentropie, Syntropie könnte eventuell auch durchgehen, aber Enthalpie ist offenbar was anderes.
Jedenfalls, wenn ich demnächst mit meinen beiden String-Theorie-Fan-Shirts Ich bin elfdimensional und Elf Dimensionen müsst ihr sein! unter die Leute gehe, werde ich top informiert sein.

Dienstag, 20. Juli 2010

Küssen

Am Ampelmast vorm Haus, der traditionell als Anzeigenfläche dient, findet sich heute ein neuer handgeschriebener Zettel: „Wer bringt mir das Küssen bei? (Festnetznummer)“.
Die Person scheint in erotischer Hinsicht entweder recht offen oder ziemlich verzweifelt zu sein. Denn der Text wirft beim Adressaten gewisse Fragen auf, die durch ein daneben geklebtes Foto hätten geklärt werden können. Welchen Alters und justiziabel? Welchen Geschlechts? Hasenzähne? Herpes-Bläschen? Raucher? Lippen- oder Zungen-Piercing? Und wir wissen ja alle, wie das geht: Was passiert, wenn es nicht beim Küssen bleibt? Eher was Lockeres oder feste Beziehung? Kinderwunsch? Heirat? Aus Liebe oder aus steuerlichen Gründen? Zusammenveranlagung bei der ESt? Gütertrennung, ja oder nein? Eigenheim im Grünen oder Mietwohnung in der Stadt? Gemeinsame Grabstelle oder nicht?
Der Zettel ist mir zu vage.

Montag, 19. Juli 2010

Balkon

Der halbnackte Nachbar vom Haus nebenan ist offenbar ausgezogen. Schade, wir lernten uns gerade besser kennen, indem wir von Balkon zu Balkon Proklamationen über die Hitze austauschten. Jetzt tummelt sich auf dem winzigen Balkönchen ganztägig eine Großfamilie mit Migrationshintergrund, faltet sich selbst um einen aufgeklappten Wäscheständer herum und schaut mir still dabei zu, wie ich halbnackt rauche und mich am Sack kratze. Ich fühle mich beobachtet.

Sonntag, 18. Juli 2010

"Der Junge ist nicht natürlich!"

Ich habe schon mal (aus der Erinnerung) von diesem Science-Fiction-Kinder-/Jugendfilm berichtet, der vor kurzem, dreißig Jahre nach Erstausstrahlung, als DVD erschienen ist. Nachdem ich ihn jetzt nach langer, langer Zeit wiedergesehen habe, muss ich mich zwanghaft etwas intensiver an ihm abarbeiten. Das bin ich der eigenen Vergangenheit schuldig.
Damals, ja, damals war die dunkle Zeit der Pädagogenherrschaft. Sie verbündeten sich mit dem Leitmedium Fernsehen und generierten erfolgreiche Kinder-Mehrteiler, mit denen sie Jugendliche, die dem Sandmännchen und der Augsburger Puppenkiste entwachsen waren, ernst nehmen wollten, ihnen komplexere Filmerzählungen präsentierten und sie zugleich pädagogisch steuerten. Zu diesem Zweck griff man mitunter auf schon ältere, aber populäre Jugendbücher zurück, adaptierte und modernisierte sie. Timm Thaler (ZDF, nach James Krüss) war der Star des Genres, sein Darsteller Thommie Ohrner in der damaligen Medienlandschaft allgegenwärtig. Wir Jungs, die von den Mädels wegen ihm links liegen gelassen wurden, hassten ihn selbstverständlich. Das tun wir eigentlich heute noch. Hormonelle Fragen hatten die Pädagogen nicht berücksichtigt.
Jan vom goldenen Stern sollte eine Reaktion des WDR auf den deutschen Jugendserien-Boom sein, aber auch ein Gegengewicht zu den beliebten tschechoslowakischen Serien mit phantastischer Thematik. Als Grundlage zog Drehbuchautor und Regisseur Peter Podehl den Roman The Forgotten Door (1965) des Amerikaners Alexander Key heran, der 1975 als Die Tür zu einer anderen Welt in Übersetzung erschienen war, und verlegte ihn in die deutsche Provinz. Es kamen für damalige Verhältnisse ungewöhnlich aufwendige Bauten und Bluebox-Tricks zum Einsatz. Zumindest behauptete man das und schickte der Ausstrahlung der Mini-Serie gleich noch ein Making-Of über die Trickaufnahmen in einer Fabrikhalle in Köln-Kalk hinterher. In einer Jugend-Programmzeitschrift namens Siehste!, einem Ableger der Hörzu, wurde das Projekt mächtig beworben, Interviews sowie eine epische Paraphrase des Drehbuchs kurz vor dem Serienstart als Fortsetzungsgeschichte abgedruckt, inklusive neugierig machender Standfotos.
Der Film wurde im Sommer 1979 von einem Team des WDR zu weiten Teilen in unserem Südeifel-Dörfchen gedreht. Ich lungerte während der Sommerferien jeden Tag am Drehort herum. Der Stoff war für mich wie gemacht, denn ich war ein 12jähriger Science-Fiction-Fan. Ich konnte mein Glück kaum fassen, direkt daneben zu stehen, während so etwas Exklusives gedreht wurde, oder für die Filmleute im Tante-Emma-Laden des Dorfs Bier kaufen zu dürfen. Weitere Drehorte waren im übrigen Köln, Trier und diverse Waldgegenden in der Eifel. In einer „Massenszene“ spielten eine Menge Statisten aus dem Dorf mit. Als Wohnhaus der Protagonisten-Familie diente für Außen- und Innenaufnahmen das alte, leerstehende Pfarrhaus der Gemeinde.
Darsteller Lutz Hochstraate kannte man aus einer Pfarrersserie, außerdem war er der Lebensgefährte von Barbara Rütting, die während der Dreharbeiten auch mal vorbeischaute. Hochstraates Filmpartnerin Thekla Carola Wied befand sich damals gerade mal auf dem Sprungbrett. Zwei jugendliche Darsteller, die man in Köln gecastet hatte, komplettierten die zentrale Filmfamilie. Hauptdarsteller Balthasar Lindauer wurde danach auf dem Bildschirm nie wieder erblickt. Er hat anderweitig Karriere gemacht. Hoffentlich denkt jemand daran, ihm jetzt die DVD zu schicken.
Gesendet wurde Jan vom goldenen Stern als Dreiteiler à 30 Minuten im März 1980 im Nachmittagsprogramm der ARD, in den wenigen späteren Ausstrahlungen wurde er zum 90minütigen Spielfilm.
Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der von einem anderen, fortschrittlicheren und irgendwie auch esoterischeren Planeten durch eine Art Dimensionstor buchstäblich auf die Erde fällt. Leicht verletzt und verwirrt landet er in der Eifel, läuft der freundlichen Familie Kaufmann in die Arme und wird von dieser aufgenommen. „Jauon“, der sich etwa wie „Jan“ ausspricht, verfügt auf Erden über besondere Kräfte: Er kann Gedanken lesen und zwanzig Meter weit springen. Beides ist nützlich, wenn es darum geht, das Misstrauen der Erdenbürger früh zu erkennen und ihren Zudringlichkeiten zu entkommen. Während Herr Kaufmann für Nachbarn und Behörden an einer Legende über den Neuankömmling strickt, glauben die Mitbürger mehr und mehr zu erkennen, dass der „unnatürliche“ Junge gefährlich ist, und diffamieren ihn. Behörden, Geheimdienste, Presse und kriminelle Vigilanten machen es Jan und der Familie fortan so schwer, dass alle gemeinsam zurück auf seinen Planeten fliehen, nachdem die Außerirdischen das Dimensionstor irgendwo im Eifelwald wieder etabliert haben.
Peter Podehl hatte zuvor schon einige bemerkenswerte ARD-Klassiker zu verantworten oder maßgeblich daran mitgewirkt. Vor allem Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt und Lemmi und die Schmöker waren originelle Hybridformen, in denen Puppen mit Realfilm vertrickst wurden und dem jugendlichen TV-Zuschauer ganz neue Dimensionen visueller Phantasie erschlossen. Podehl sollte also für den tricktechnisch aufwendigen Jan vom goldenen Stern genau der Richtige sein. Das Projekt ging jedoch nach hinten los. Das lag zweifellos an einer biederen Inszenierung, läppischen Tricks auf dem Niveau von B-Filmen der 50er, notorischer Redundanz und Geschwätzigkeit sowie nervigen Schauspielern, die entweder nur kruden Text aufsagten oder frohgemut chargierten. Der Junge von außerhalb hat hauptsächlich eine relevante Textzeile: "Ich kann mich nicht erinnern." Als sein schauspielerisches Gegengewicht fungiert die hysterische Frau des kriminellen Försters, die bis zum Erbrechen hyperventiliert: "Der Junge ist nicht natürlich!"
Jans grundsätzliches Scheitern hatte aber auch zu tun mit dem pädagogischen Gehalt des Drehbuchs, das zwar die Grundzüge des Key-Romans aus den Sechzigern übernahm, sie aber im Sinne des WDR in die damalige bundesrepublikanische Wirklichkeit einpasste. Es spiegelt das zunehmende linksbürgerliche Unbehagen des ausgehenden Kalten Krieges wider, die Skepsis gegenüber der Staatsmacht und überhaupt den Grundpfeilern der deutschen Spießer-Gesellschaft, tut das aber wie in einem Zerrspiegel und macht sich dabei ziemlich lächerlich. Wie gesagt, es war die dunkle Zeit der Pädagogenherrschaft.
Die zentrale Filmfamilie ist Proto-Patchwork. Hochstraate als „Thomas Kaufmann“ ist nicht der Vater, Wieds Tochter ist nicht sein Kind und nennt ihn entsprechend nicht „Papa“, sondern beim Vornamen. Die Tochter wird allem Anschein nach antiautoritär erzogen, sie ist frech, vorlaut, aufgeweckt, fällt den Erwachsenen ins Wort und korrigiert sie, ohne dass jemand von denen sie zurechtweist. Man möchte heute dauernd draufhauen. Hochstraate und Wied sind nicht verheiratet, Wied ist in Hochstraates Haus nur „Gast“, wenn sie mit der Tochter aus Köln zu Besuch kommt. Das Paar schläft nicht im Doppelbett, sondern in um neunzig Grad versetzten Einzelbetten. Sie tragen unterschiedliche Nachnamen, aber ihre Umwelt identifiziert sie quasi automatisch als Ehepaar und spricht Wied mit „Frau Kaufmann“ an, was dann von Wied dauernd verbessert werden muss. Ein Hinweis darauf, wie ungewohnt die Patchwork-Idee um 1980 noch war. Hochstraates Filmfigur wirkt insgesamt wie ein Grüner im Werden. Er ist Ingenieur und beteiligt am Bau des Notstandsbunkers der Bundesregierung, also durchaus ein Systemrelevanter. Er ist politisch informiert und kennt, wie er ironisch bemerkt, seine Pflichten als Staatsbürger. Vor allem aber kennt er seine Rechte und begegnet der Staatsmacht sehr reserviert, später sogar empört und zunehmend aufgelöst. Durch das Hinzustoßen des außerirdischen Jungen wird der ganze Patchwork-Charakter noch verstärkt und durch die Brisanz des Besuchers zugleich gefährdet. Diese vier sind das unbedingte Sympathiezentrum des Films. 
Und ja, ein treuer Hund gehört auch dazu. Mit dem Tierschutz schien man damals allerdings noch nicht so weit: Der Hund ist draußen an einer Laufleine angekettet, der arme Kerl. WDR-Cheftierschützerin Claudia Ludwig würde das heute sicher lautstark bemängeln und die zuständigen Redakteure belagern. Das wäre allerdings vorschnell, denn der Hund hat seinen Part zu spielen: Er ist aggressiv und bissig, ehe er sich durch den beruhigenden Einfluss des telepathischen, pazifistischen und vegetarischen (!) Jungen vom anderen Stern zum netten Familienhund wandelt. Der bissige Schäferhund namens Roland darf verstanden werden als Symbol für den Charakter Hochstraates, der noch dem alten kerndeutschen System anhängt, von diesem aber im Laufe der Handlung geheilt wird. Zudem symbolisiert der unruhige Hund unruhige Patchwork-Verhältnisse, die letztlich doch zur familiären Vollendung streben. Im selben Moment, in dem der Hund handzahm geworden ist, bekundet Wieds Tochter, dass sie „Thomas“ endlich „Papa“ nennen will.
Es existiert auch ein zu Hund Roland gegenläufiger Charakter: Der anfangs so nette Herr Dr. Feller erweist sich nämlich als MAD-Obermotz und wird mit zunehmender Länge des Films ausgesprochen bissig. Die Patchworker werden durch ein Dingsymbol an jenen Dr. Feller gekettet, auf einer persönlicheren Ebene, die sich aus der beruflichen heraus ergibt. Wied ist Goldschmiedin, fertigt für den Auftraggeber ihres Lebensgefährten einen Ring an und muss sich dauernd entschuldigen, dass das Schmuckstück noch nicht fertig ist. Am Ende steht Staatsvertreter Feller im verlassenen Verkaufsraum, betrachtet seufzend den herumliegenden unfertigen Ring und wird sich seiner Niederlage bewusst: Der Ring wird nun nie fertig werden, denn die Goldschmiedin hat seinen Einflussbereich verlassen und ist ins extraterrestrische Exil gegangen.   
Obwohl sie eigentlich aus großstädtischem Umfeld kommen, haben Hochstraate und Wied sich zur Selbstverwirklichung das Landleben ausgesucht. Da soll es ja schön sein. Prächtiges, altes Haus, viel Grün, viel Ellenbogenfreiheit, die Tochter darf hier im Gegensatz zur Stadt Fahrrad fahren. Hier kann man bürgerlich-alternativ und selbständig leben. Da redet einem niemand rein. Schwerer Fehler. Denn hier gibt es sie noch, die Hexenjäger. Weiß doch jeder. Sie treten auf:
a) als sensationslüsterne Bauerntrampel (schönen Gruß an die Statisten aus dem Dorf, die für 50 Mark Tagesgage auftraten),
b) als dummdreiste, kleinkriminelle Hetzer, angeführt von einer hysterischen, irrationalistischen Vettel ("Der Junge ist nicht natürlich!") und einem schweinebackigen Jägersmann, die dem fremden Jungen die eigenen Diebstähle in die Schuhe schieben,
c) als geifernde Presse (schönen Gruß an den Trierischen Volksfreund, der dafür seine Redaktionsräume zur Verfügung stellte),
d) als Militärischer Abschirmdienst und Kalter-Krieg-Staatsmacht, die die Eifel, den „Flugzeugträger der NATO“, umfassend überwacht und gegen staatszerstörerische Aktivitäten absichert. Das Militär rückt bei Aliens ja traditionell immer an, jedoch kommt hier erstaunlicherweise niemand auf die Idee, dass es sich bei Jan um einen solchen handelt, sondern man vermutet in ihm einen als Russland-Aussiedler getarnten Spion. (Wäre der MAD auf den Trichter gekommen, was Jan wirklich ist, hätte er ihn vermutlich laufen lassen: „Ach, kein Spion? Dann ist gut … Moment mal, ist er eventuell berechtigt, für seinen Planeten Waffengeschäfte zu tätigen?“)
Die Welt ist schlecht! Da will man eigentlich nichts anderes als gemütlich-patchworkig seine Ruhe haben, ist nur ein klein bisschen anders als der Rest, aber dann steht man unvermittelt jenem paranoiden, zerstörerischen Kuddelmuddel gegenüber, das die Gesellschaft vor 1980 laut Pädagogenmeinung so überdeutlich charakterisierte. Spießer, Heuchler, Paranoiker, Denunzianten, Ausländerfeinde, Obskurantisten, sinistre Staatsmacht, manipulative Presse. Was bleibt einem da anderes übrig als die buchstäbliche Weltflucht auf den goldenen Stern, wo die Leute offenbar den ganzen Tag in Renaissance-Kleidern endkommunistisch abhängen, die Sternlein betrachten, mit Tieren sprechen und ihre perfekte Gesellschaft esoterisch singend ausgestalten? Oder aber man geht eben zu den Grünen. Aber die gab es, herrje, zur Entstehungszeit des Films offiziell noch gar nicht.
Jan vom goldenen Stern ist der liebenswürdig-plumpe Versuch, die Jugend von damals auf progressiv zu trimmen, indem die Wirklichkeit für sie zart alarmistisch zurechtgebogen wird. War Timm Thaler noch eine Faustiade mit halbwegs zeitlosen Phantastik-Themen (und Horst Frank als dem hölzernsten Teufel der Filmgeschichte), gerät die Geschichte um den Knaben vom goldenen Stern zu drolliger, aber subtextuell handfester Polit-SF. Gerade deshalb ist sie als Zeitdokument mindestens so amüsant wie Monitor-Wiederholungen von damals. Um nach dieser dreisten Linksmanipulation wieder ins ideologische Gleichgewicht zu kommen, hätte man zwei Stunden lang ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal schauen müssen, aber da war für 12jährige einfach zu wenig Science Fiction drin.

Mittwoch, 14. Juli 2010

Standorte erhalten!

Gestern hat Pelzig die Geschichte erzählt von seinem Onkel, der sich absolut sicher war, dass der Russe an einem frühen Freitagabend kommen wird, weil er genau weiß, dass die Bundeswehr da schon im Wochenende ist. An dieser Überzeugung hielt der Onkel bis zu seinem Ableben fest. Er wurde übrigens an einem Dienstag von einem GI überfahren, und die Verwandtschaft hat sich danach "weggeschmissen". Jeder sollte so einen Onkel haben.
Ich bin im Übrigen gegen die Abschaffung der Wehrpflicht. Im Gegenteil, ich bin für eine Territorialarmee von mindestens 800.000 Mann Sollstärke. Warum soll den hedonistischen Bürschchen heute erspart bleiben, was wir damals mitmachen mussten? Passt nicht zur Verteidigungslage? Egal, war ohnehin alles Bullshit, es geht ausschließlich um den erzieherischen Effekt, den die Illusion von Territorialverteidigung hat. Damals war alles besser, nicht so ambivalent. Immerhin: In der Zeitung stand heute zu lesen, dass Feldmarschall Graf von und zu Gutte im Zuge seiner angedachten Reform die Standorte unserer ländlichen Region nicht schließen, sondern nur verkleinern will. Gastronomie und Einzelhandel atmen auf. Finde ich ebenfalls gut, denn ich wollte seitdem immer mal wieder zu einem Tag der offenen Tür in die Kaserne des Brunnenstädtchens, ein bisschen veteranentechnisch klugscheißen, spaßeshalber am Formaldienst teilnehmen, den alten, atombombensicheren Kommandobunker noch mal durchwandern und dort aufs Klo gehen, mein altes G3 streicheln und vielleicht auch noch einmal abdrücken und den Schlag in der Schulter spüren. Am besten auf dem Klo des Bunkers, weil es da so schön knallt. Aber das G3 geht heute bestimmt im Tschad oder so spazieren.
Um Spangdahlem muss man sich laut Zeitung auch keine Sorgen machen. Die F16 werden zwar in die USA rückgeführt, dafür aber kommen sexy Tarnkappenbomber und Drohnen. Heissa. Fahr ich bestimmt mal hin gucken, stelle mich an den Zaun und sage "Boah, das hollert im Tal!".

Dienstag, 13. Juli 2010

Prozente

Es waren nur zwei Viez-Sprudel (0,4), aber ich habe den begründeten Anfangsverdacht, dass der Klimmes da 5% Sprudel reintut und 95% Viez. Dazu kommt der obligatorische Schnaps aufs Haus. Gibt es eigentlich Studien über ein erhöhtes Unfallrisiko ab etwa 19 Uhr in der näheren Region? Mir egal, ich konnte zu Fuß nach Hause wa-wa-wanken.
Ansonsten die bleibende Erkenntnis des aktuellen Trips aufs Dorf: Der neue Nachbar ist bei Hitze kein schöner Anblick. Immerhin verschwindet sein Tattoo in den Fettpolstern.

Fallhöhe

Kleiner Rat an Hobby-Autoren, den mir jemand zukommen ließ und den ich ungefiltert weiterleite:
Im Anschreiben nicht die Großartigkeit des eigenen Texts betonen, nicht den Detailreichtum der selbst erschaffenen Welt loben, nicht auf der Lebendigkeit der Figuren beharren, nicht darauf hinweisen, dass der Roman ganz toll ins Verlagsprogramm passt, nicht auf das Germanistik-Studium und die Themen der eigenen erfolgreichen Seminararbeiten hinweisen. Der Gutachter - ein jämmerlicher kleiner Kerl mit Bauchansatz, Haarausfall, fahlem Teint und einer gehörigen Portion Welthass - begibt sich bei so viel strahlendem Selbstbewusstsein nämlich sofort in die Opposition und denkt bei sich: "Na, das wollen wir mal sehen, Schnuckel!"
Insgeheim jedoch - das würde der Gutachter allerdings niemals öffentlich gestehen - möchte er, dass all diese Einschätzungen aus dem Anschreiben zutreffen. Er möchte einen Sonnenstrahl durch die Wolken brechen sehen, möchte ein Freund des Texts werden und mit ihm nackig und lachend über grüne, sonnenbeschienene Auen tollen und an Gänseblümchen riechen. Er möchte freudig erregt Ausrufezeichen machen können. Loben, das möchte er. Er möchte glücklich sein, indem er jemand anders glücklich macht. Will Zeuge sein, wie jemand Flügel bekommt und sich aus der mediokren, vorbeiflutenden Masse erhebt, so dass alle einen Moment lang gerührt in den Himmel starren. Er will, dass sein eigenes hartes, kaltes Herz endlich zu pochen beginnt und ihm die von einem Lächeln aufgeworfenen Bäckchen rot färbt.
Aber nein, sein tiefgelber Urin behält recht, und er wird nur wieder mit dieser traditionellen, unnötigen Fallhöhe konfrontiert, die sich aus Anschreiben und Manuskripttext ergibt. Auf den ersten Seiten findet er kaum etwas anderes vor als unfreiwillig komisches Wortgeklingel, das offenbar der 547fachen Lektüre des Silmarillion zu verdanken ist, und zudem fehlgeleitete Formulierungen und Kommafehler, die das heutige Germanistik-Studium in einem unschönen Licht erscheinen lassen. Auf den restlichen Seiten wird es nicht wirklich besser, und der Gutachter weiß nicht recht, was ihm hier eigentlich erzählt werden soll.
Wieder ein unglücklicher Gutachter, erneut ein unerquickliches "Ich hab's gewusst!". Ach, die Welt ist so vorhersehbar.

Dienstag, 6. Juli 2010

Stapel-Studien

Es sieht beinahe so aus, als hätte ich in diesem Monat mal Zeit, mich dem Gemischtwaren-Stapelmassiv zu widmen. Manches davon hat sich schon seit anderthalb Jahren hier geologisch aufgefaltet, aber es drängelt ja niemand. Vermutlich wurden die Texte gleich nach dem Verschicken vergessen. Neulich habe ich bereits fünf von ihnen abarbeiten können, zwei Tage später brachte der Paketmann jedoch fünf neue. Gestern wurde wieder einer erfolgreich absolviert, ein wirklich sehr erfreulicher Roman, und der gab mir Zuversicht und Schwung. Jetzt stehe ich schon seit einer Stunde sinnierend und eingefroren wie eine Statue vor dem „Rest“, die Sauerstoffflasche auf dem Rücken, den Pickel am Gürtel, das Seil um die Schulter, und starre die Flanken und Steilwände hinauf. Studiere die Grate, die die Manuskripte erzeugen, die verwitterte Landschaft des Stapelmassivs, die je nach Lichteinfall und Mikroklima changierenden Farben der Buchrücken und Papiersattel, die Gletscher aus Manuskriptpapier, die heranrollenden Gewitter in den oberen Bereichen, weiche behände den gelegentlichen Papierstaubgerölllawinen aus, und habe die Qual der Wahl. Es wäre zu leicht und zu phantasielos, einfach unten an der Basis anzufangen oder am Gipfel, um sich dann herauf- oder herabzuarbeiten. Ich beschließe, es stimmungsabhängig anzugehen. Space Opera, Planetenroman, Military SF, avantgardistische Fantasy, Urban Fantasy, Horror, Gegenwartsliteratur, Anthologien, Humoreske, Undefinierbares, Amateurhaftes, Prominenz, Newcomer. Geologische Schichten, aufgeworfen zur alpinen Abenteuerleselandschaft. Ich schätze, ich nehme heute mal Horror. Mir ist irgendwie danach.

Montag, 5. Juli 2010

Habicht-Fazit

Ein Musikkritiker äußert angesichts der neuen Hawks-Platte: „Wenn Zeus eine Rockband sein wollte, wäre er Hawkwind“. Welch weises Wort.
Die bisherigen Reaktionen sind positiv und loben vor allem die schiere Vielzahl der Sounds und Scapes. Manche sprechen gar von unbedingter Liebe schon nach dem ersten Hören. Nach etwa fünfundzwanzigmaligem Durchhören neige ich dazu, zwei Tracks zu skippen, die beiden Neuaufnahmen älterer Songs nämlich, und mich beim Rest bis zur Auflösung des eigenen Persönlichkeitskerns in Quantenschaum zu verflüchtigen. Mission accomplished, Hawks!
Nachdem ich mich wieder verfestigt habe, behauptet die Gattin, ich hätte unaufhörlich „I will become master of the universe!“ geschrien und in unserer Wohnung hätte sich kurzzeitig ein Wurmloch zur Halle der Götter geöffnet.

Nachtrag 15.7.
Die Gemeinde war schon ziemlich unruhig und maulig wegen der Lieferschwierigkeiten, aber nun sind alle drei Versionen des Albums unters Volk gebracht. Sogar bei mir ist die 2-CD-Version aus UK angelangt, in einem prächtigen Package und mit CDs, die aussehen wie Miniatur-Vinyl-Platten. Wunderhübsch. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber der Sound des Kernalbums ist um einiges fetter als der der MP3s; dachte schon, während meiner kurzen Abwesenheit hätten Gemahlin oder Katze irgendwas an der Stereoanlage verstellt. Haben sie aber nicht.
Etwa eine Viertelstunde der Bonus-CD ist überflüssig. Die Live-Coverversion von Syd Barretts „Long Gone“ war nicht zwingend nötig, der Track, der mit „Interview 2010“ betitelt ist, stellt eher einen Witz dar: Ziemlich zugekiffte Typen, in denen man die Bandmitglieder erkennt, plappern und kreischen durcheinander, während sie von unterschiedlichsten Sounds umspielt oder zugedröhnt werden. Interview geht anders im Rest der Welt, aber wer will den schon, den Rest der Welt? Die „seriösen“ Live-Tracks haben es in sich, und vor allem „Levitation“ und „Angels of Death“ präsentieren die fettesten und lautesten Gitarren, über die diese Band jemals verfügte. Robuster Space-Metal, verspielt und jammig. Diese Bonus-Tracks korrigieren den insgesamt eher ruhigen, relaxten Eindruck des Kernalbums.
Ereignisreich, beweglich, teamorientiert. Gutes, fettes Paket!

Frühstart

Heute um 5.15 Uhr aus dem Bett gefallen. Das kam zuletzt im Jahr 1856 vor. Und was macht der disziplinierte Gutachter, nachdem er um 5.15 Uhr aus dem Bett gefallen ist? Klarer Fall, er beginnt um 5.17 Uhr mit dem Schreiben eines Gutachtens.

Freitag, 2. Juli 2010

Lichtenstein, Marietta und wir

Gestern Abend mit Gattin und Frau K. auf der Eröffnung von Roy Lichtenstein – Kunst als Motiv gewesen. Museum Ludwig. Event. Mächtig beworben „in ganz Westeuropa“ (O-Ton Oberbürgermeister), was ich persönlich spontan für eine Benachteiligung Osteuropas halte. Die Gemahlin scheint jeden Zweiten hier persönlich zu kennen. Ich bin mal wieder beeindruckt. Sie berichtet auch, dass in der Ausstellung so viel hochpreisige Kunst anwesend ist, dass die Bilder einzeln in Flugzeugen aus Amerika rüberkommen müssen, weil die Welt im Fall eines Absturzes eventuell den Verlust eines Bildes hinnehmen könnte, keinesfalls aber die Zerstörung derer zwei oder, Gott bewahre, drei.
Aber erst mal eine Stunde lang den obligatorischen Reden zuhören, die man nicht versteht, weil Museumsdirektoren und Kunstmenschen grundsätzlich in Mikrofone nuscheln. Dann hinab in die Ausstellung. Das Thema sagt mir diesmal spontan nicht so enorm zu: Zitate älterer Kunst durch die Pop Art bzw. Lichtenstein. Ich war vermutlich nur zu schlecht vorbereitet. Man flaniert halt so durch, nickt kundig, schaut sich nebenher die Leute an und betreibt Celebrity Watching. Denn auf solchen Eröffnungen hängt nicht nur hochpreisige Kunst herum, sondern auch prominentes Volk oder auch einfach nur merkwürdiges Volk. Emil Steinberger mit Gemahlin war da, Jürgen Becker auch, und allen Ernstes Marietta Slomka in betont sommerlichem Tarnzivil. Sie ist kleiner, als man denken mag, und hübscher auch, wenn ich mir diese freche Bemerkung mal erlauben darf. Die Gemahlin an meiner Seite sagte für meinen Geschmack etwas zu laut: „Hol dir ein Autogramm, du bist doch schon immer spitz auf die gewesen!“ Ich sagte, ich hätte ja gar nichts zu schreiben dabei, und wenn ich mir Frau Slomkas entzückendes Sommerkleidchen so anschaute, dann hätte sie darunter bestimmt auch nichts zu schreiben. In Wirklichkeit war ich nur zu schüchtern.
Gesehen und ausgiebig bewundert wurden auch das dicke Kind von Saborowskis aus Köln-Sülz, einige sexuell desorientierte Künstlermusen in, ähm, Renaissance-Hasenkostümen (ist natürlich Absicht, das mit der Desorientierung), ziemlich viele voluminöse, pyramidal strukturierte Menschen in weiten Pluder-Outfits, auch eine Menge hagere Menschen, die besser durch die Hitze kommen, Heerscharen von schnieken Homosexuellen und hippen Hühnern mit Kunstsinnigen-Brillen, die Frau mit dem entschieden zu langen Hals sowie der Mann, den sie Nase nannten. Es gibt in der Kunstszene erstaunlich viele Menschen mit langen Nasen, aber keine ist so lang wie die von dem Mann, den sie Nase nannten. Rüttgers war nicht da, aber sein Zwillingsbruder. Er hatte schon vor Ausstellungseröffnung drei Gläser Sekt weg.
Gattin und Frau K. gaben sich später noch die kabarettistische Show von Jürgen Becker und Martin Stankowski im 1.OG, ich verkrümelte mich gesättigt durch die russische Avantgarde nach Hause.

Donnerstag, 1. Juli 2010

Prophezeiung

Der brave und starke Sohn des Wolfes / Fürst der niederen Saxen / wird bringen der Königin zweimal Unbill / ehe er ihr Gaucus den Freien erschlägt / mit gar zittriger Klinge (…)
Das Volk gähnt und jubelt verhalten / am Rande der Walstatt / Die Mannen murren / und blecken die Zähne im Schmerze / schlagen auf die Schilde / in Pein / das Glück der Königin fällt / zu Boden / wie die Knochen von Demoscopia / der weisen Frau des Nordens

Merowingische Quelle „III C-21/Fragment 3b“ aus dem Jahr 655 n. Chr. (Kloster Brixen, Übersetzung aus dem Voralthochdeutschen: Prof. Dr. Ingemar Irrlicht)