Samstag, 31. Mai 2008

Hormone auf dem Dorfe

Natürlich gab es auf dem Dorf auch die notorischen Casanovas, die in jungen Jahren auf jedem Festchen herumstanden, in der Hand das Bier, den freien Arm um ein Mädel geschlungen, meistens jedes Mal ein anderes. Sie taten dann ziemlich breitbeinig und steckten die flache Handfläche in die Gesäßtasche der jeweils Eroberten, um das Revier ganz eng abzugrenzen. Wahrscheinlich hatten sie zuvor bloß ein bisschen geknutscht und sich gegenseitig Passfotos in die Geldbörsen gesteckt, beeindruckend sah das dennoch aus, wie sie da standen und ihre Paarbindung signalisierten. Man wusste: Hier nimmt etwas ordnungsgemäß seinen Lauf.
Etwas anders verhielt es sich mit den jugendlichen Nerd, der auf dem Dorf automatisch in eine schizophrene Situation geriet. Einerseits hätte er ja schon gerne gewollt, weil die Hormone zwickten, andererseits wollte er doch vielleicht eher nicht, weil die Postpubertät tückischerweise genau die Zeit ist, in der sich der Nerd von der Dorfmentalität entfernt und zur Auffassung gelangt, dass er hier eventuell doch nicht so ganz endgültig dauerintegriert werden möchte. Zumindest nicht so vorschnell.
Es gab durchaus Auswahl, und manche Dorfmädchen waren ausnehmend hübsch. Jedoch: Sie duldeten zwar schüchterne Zuwendungen des Nerd, träumten aber letztlich vom Breitbein-Casanova, aus dem im Sinne der Dorfkultur mal was werden würde. Derjenige, der sich auf Dorffesten der Umgebung ein wenig die Hörner abstieß, um dann mit ihr (und nur mit ihr) am Kai des Ehehafens sesshaft zu werden. Man kannte sich seit der Grundschule, beobachtete sich über die Jahre hinweg aus den Augenwinkeln, registrierte den Fortgang der Dinge, bis man sich irgendwann auf einem Festchen beschlabberte und sich fortan gegenseitig in die Gesäßtasche griff. Das war soweit ziemlich berechenbar. Der Nerd hingegen war nicht berechenbar, weswegen er zwar als exotische Zierde im Bekanntenkreis durchging, als mehr aber auch nicht.
Ich hatte eine Zeitlang mal dieses Trio im Auge. Sie traten stets als solches auf: die Hellblonde, die Mittelblonde und die Dunkelblonde. Die Hellblonde war eine Zugezogene und ein bisschen strange. Bildungsbürgerlicher Background, Klavierstunden und aus Prinzip keinen Fernseher. Stattdessen eine Neigung zu den schönen Künsten. Befremdlich. Aber eben auch ein bisschen geheimnisvoll. Die Mittelblonde war brav und berechenbar, aber überaus angenehm gewachsen. Ich erinnere mich, während irgendeines Jugendgottesdiensts mal die ganze Zeit ihre Brüste angestarrt zu haben. Die Dunkelblonde war die jüngste und netteste, allerdings mit undisziplinierter Gesprächsführung (= plapperplapper) und viel eher noch Mädchen als junge Frau.
Ich glaube, Dorfmädchen sind Instinktwesen und wissen ziemlich genau, was sie wollen. Sie wollen etwas robust Familiäres. Nett sein zu Nerds ist okay, ein bisschen mit so einem zusammensitzen geht auch in Ordnung, aber bitte nicht mehr als das.
Postpubertierende Dorf-Nerds sind ihnen evolutionär unterlegen und wissen mitnichten, was sie wollen. Sie müssen erst das Minenfeld ergründen und mitten darauf Experimente anstellen. Ich führte das Trio aufs Minenfeld und unterzog es einem solchen Experiment, dem letzten Dorf-Sozialisierungsexperiment, um mir sicher sein zu können, ob an den Mädels was dran war oder nicht. Bei negativem Ausgang wollte ich keine Dorfmädchen mehr behelligen. Es wurde ein Videonachmittag daraus, irgendwann im Winter. Auf dem Videorecorder zur Aufführung gebracht wurde Gremlins, der erste Teil. Ich dachte bei mir, das müsste den Mädchen doch gefallen: komödiantisch, eigentlich sogar saukomisch, nicht wenig anarchisch und bizarr und selbstverständlich voller Anspielungen, die ich den Damen ja klugscheißerisch erläutern könnte.
Es ging nicht nur negativ aus, das Experiment, es wurde ein Desaster, und danach kam ich mir echt dreckig vor. Die Hellblonde konnte zwar Klavierspielen, verstand aber wenig von Filmen. Ihr kultureller Background war mir keine Stütze, um die beiden anderen von ihrem Entsetzen zu befreien. In der Szene, in der Phoebe Cates die Geschichte von ihrem Vater erzählt, der als Weihnachtsmann im Schornstein stecken bleibt und dort verhungert, hat die Mittelblonde geheult, während ich über die zynische Anekdote breit grinste und die Mädchentränen gar nicht bemerkte. Aber zum Trauma wurde allen dreien die Sequenz, in der zur Eliminierung der garstigen Kobolde allerhand Küchengeräte zum Einsatz kommen: Mikrowelle, Abfallzerkleinerer, Mixer. Die Mädchen waren geschockt von so viel entsetzlichem Splatter und den grünlichen Innereien an der Küchenwand. Ich hatte einige Zeit zuvor erst einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und war beinahe versucht, die Dunkelblonde in die stabile Seitenlage zu betten, damit sie nicht an ihrem Erbrochenen erstickte. Das war ja alles nicht Sinn des Videonachmittags gewesen. Wir wollten zusammen lachen, so ähnlich hatte ich das zumindest angekündigt. Stattdessen versetzte ich den Testobjekten einen Schock. Ich verstand die Welt nicht mehr. Kein Wunder, denn wir reden hier von Gremlins und nicht von Zombie oder Blutgericht in Texas. Und den anarchischen Charakter des Films, die dekonstruktivistische Weihnachtsbotschaft, haben die drei auch nicht recht verstanden. Selbstredend hatte ich keine Gelegenheit, mit meinem Wissen über die ganzen lustigen Anspielungen zu protzen. Die Mädchen waren so blass um die entzückenden Näschen, dass sie gar nicht mehr aufnahmefähig schienen.
Ich entließ sie danach schweigend in den frühen Winterabend und dachte lange nach über diesen merkwürdigen Ausgang. Das Sozialisierungsexperiment des Nerd war zu radikal konzipiert, und er hatte endgültig verschissen.
Die Hellblonde ist irgendwann weggezogen. Heirat, Kind, Pianistinnenkarriere – was weiß ich. Viele Jahre später tauchte sie an der Uni auf, als mein Studium kurz vor dem Abschluss stand und ihres nach einer Berufsausbildung erst begann. Ich saß mit meinem Kumpel in der Raucherecke, zog an der Kippe, nickte zu der vorbeirennenden Blonden hin und meinte cool: „Auf die war ich mal scharf.“ Woraufhin wir sie fachmännisch ausdiskutierten. Ich verzichtete fortan darauf, sie anzusprechen, denn ich fürchtete, sie würde spontan vom Gremlins-Trauma überfallen und sich so heftig erschrecken, dass ihr der dicke Jahrestage-Schuber, den sie gerade im Arm hielt, auf die Füße klatschte.
Wenn ich heute am Haus der Mittelblonden vorbeigehe und durchs offene Fenster höre, wie sie mit durchdringender Stimme Ehemann und Kindern Anweisungen erteilt („Mileeeenaa!!!“), dann bekreuzige ich mich und danke ihrem Schöpfer für ihre Instinkte, die sie den richtigen Ehemann wählen ließen. Als ich mich etwas später noch mal an die Dunkelblonde heranpirschte und sie zu Indiana Jones in Kino einladen wollte, lehnte sie mit der Begründung ab, sie hätte Angst vor Schlangen, und sie wisse, in dem Film gäbe es Schlangen. Als ich ihr mitteilte, dass Indiana Jones ebenfalls Angst vor Schlangen hätte und sie sich doch sehr gut ihm identifizieren könne, half das nichts. Kurz darauf ging sie mit dem anderen Typen, dem Breitbeiner, fünfmal hintereinander in den ersten Otto-Film. Sie haben sich so was von amüsiert und steckten sich bald gegenseitig die Hände in die Gesäßtaschen.

Freitag, 30. Mai 2008

Freundlichen Kuss in die Wange

Ich erhalte schon wieder Zuwendung, diesmal von ziemlich weit her. Ach, diese Präpositionen und reflexiven Verben und Pronomen ...

Des guten Tages!
Ich will Sie kennenlernen, wenn Sie nicht widersprechen.
Aber lassen Sie mir zuerst zu, vorgestellt zu werden. Mich nennen Ekaterina, mir 28 Jahre, ich war verheiratet niemals. Ich habe das Institut beendet eben ich habe die Hochschulbildung. Ich lebe in der Stadt Kazans mit den Eltern. Ich bin sicher, dass Sie wenn oder daruber horten. Viele Menschen sagen, dass die schonsten Madchen in meiner Stadt leben. Ich suche den Menschen, der mich gern haben wird und, solchen welche ich zu respektieren ist. Ich das sehr gesellige und interessante Madchen. Ich horte daruber viel, dass viele Madchen die Liebe durch das Internet gefunden haben, ich dachte lange und hat sich entschieden, zu versuchen. Ich hoffe, was wenn Sie mir in die Antwort schreiben Sie, so konnen wir die guten Freunde werden und wer wei? kann grosser sein???? Wenn Sie sich fur mich interessiert haben, eben wollen Sie mich wissen ist es besser, so schreiben Sie mir auf meine Adresse elektronischer Post bitte: (getilgt). Ich werde auf Ihren Brief mit der gro?en Ungeduld warten. Ich schicke Ihnen den freundlichen Kuss in Ihre Wange. Ihre neue Freundin Ekaterina.

Donnerstag, 29. Mai 2008

Leiden an der Welt

Wir verspürten damals eine Art Hassliebe zu Grufties. Einerseits fanden wir sie faszinierend, andererseits aber auch reichlich lächerlich. Beim Konzert von Fields of the Nephilim rückten die saarländischen Fans mit ihren Lederkutten und -mänteln und ihren breitkrempigen Outback-Hüten aus dem Australia-Shop an, öffneten den Kofferraum ihres Golf und entnahmen ihm Mehltüten. Dann schnitten sie die Tüten auf und überschütteten sich mit dem Zeug. Der ganze Bürgersteig und viele Autos waren danach voller Mehl. Warum sie das taten? Weil die Bandmitglieder der Nephilims immer so aussahen, als kämen sie mit Leidensmiene gerade aus einem alttestamentarischen Italo-Western und seien noch ganz staubig. Irgendwer hatte im Selbstversuch herausgefunden, dass man diesem Outfit nahe kam, wenn man Mehl über schwarzes oder braunes Leder kippte und eventuell noch ein bisschen einrieb. Die Stadtreinigung kam während des Konzerts und machte den Bürgersteig sauber, aber danach war wieder alles voll, weil die Fans sich vor der Heimfahrt kräftig abklopften, damit am nächsten Tag der Staubsauger nicht so viel Arbeit mit den Sitzpolstern von Papas Golf hatte.
Wir fanden das zur Pose reduzierte Leiden an der Welt ganz unterhaltsam, die Abgrenzungsstrategie, den hohlen Mythos, kurzum: die substanzielle Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Eine Zeitlang gingen wir gerne zu Gruftie-Konzerten.
In der Region operierte damals eine Amateur-Schwarzkerzen-Band, die wir genauer studierten. Man kam an ihr sowieso kaum vorbei, denn sie ergab sich einem selbstauferlegten Erfolgsdruck, tat omnipräsent und wollte unbedingt ins Gespräch kommen. Sie propagierte sich selbst sogar in Klokabinen von regionalen Indie-Discos mittels dicken schwarzen Eddings, beweinte in pathetischen Presse-Statements die mediokre Welt und die Banalität aller Musik, um hingegen die eigenen Kreationen als anspruchsvoll tiefempfundenen Dichterfürsten-Output zu beweihräuchern. Ihr Sänger sah auf der Bühne (und im Leben) immer aus wie ein blondierter Lord Byron beim Kacken, der Bassist forderte nach Konzerten das Publikum zu Zugaberufen auf, der Gitarrist trug eine Mönchskutte, die geliehene Nebelmaschine verursachte bei den Konzertbesuchern Asthma, und die Düsen des Geräts waren im Betrieb lauter als die Musik. Bei einem Konzert in einem sehr großen Gemeindehaus trauten wir uns nicht zu lachen, denn wir waren zu dritt und in der Minderheit. Der Rest des Publikums war immerhin zu viert, und wir vermuteten, dass es sich um Fans handelte. Wenn man noch die Bandmitglieder dazu zählte, war das schon eine gewaltige Überzahl. Also lachten wir nicht, lächelten nicht mal, sondern lauschten ergriffen. Als die Nebelmaschine einsetzte und man nichts mehr sah, lächelten wir doch insgeheim, aber nur so lange, bis der Hausmeister hereinstürmte und meinte, sie hätten ja gar keine Erlaubnis für den Einsatz des Nebelwerfers, umgehend die Fenster öffnete und damit das Konzert beendete, denn die mediokren Bürger in der Nachbarschaft wollten schließlich schlafen, Mensch!
Als dann ein Redakteur des Stadtmagazins meinem übergewichtigen Kumpel mit dem dicken Karbunkel auf der Nase die Gelegenheit gab, das erste 5-Track-Tape der Band mal zu rezensieren, ergriff er sie. Seine Wortwahl war nicht ganz glücklich, zugegeben, aber ein Faschist, wie man ihn kurz darauf rief, war er ganz sicher nicht. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Das Tape hat er sogar gehört, während einer Autofahrt. Es liegt vermutlich noch heute irgendwo im Straßengraben. Das Songmaterial kannten wir ja schon von den Konzerten, das peinliche Getue und Gewese der Band auch, dennoch bemühte er sich um Objektivität. Als er in seinem Text statt der Bezeichnung „die Grufties“ die Benennung „diese Kreaturen“ benutzte, riet ich ihm noch, Anführungszeichen zu verwenden. Er meinte: „Ach was, die wissen schon, wie das gemeint ist.“
Taten sie nicht. Sie gingen in der nächsten Ausgabe des Magazins vielmehr zur Tätigkeit des Leserbriefschreibens über, ein Redakteur (ein anderer als der Auftraggeber) distanzierte sich im Editorial von dem Artikel, bezichtigte den Autor faschistischer Tendenzen und tat sehr betroffen, denn das Magazin sei ja eigentlich gar nicht faschistisch, sondern im Gegenteil sogar links. Irgendwelche Eltern von Bandmitgliedern drohten mit Anwälten. Außerdem wunderten sich alle, wieso eine kleine Musikkritik zu einem blöden Tape das Top-Thema des Jahres in linken Amateur-Postillen, den Golfkrieg von 1991, von den Leserbriefseiten verdrängen konnte.
Die Band und die regionale Gruftie-Fraktion wollten nun den Autor in die Finger bekommen, um ihm mal den Marsch zu blasen, aber er kam von außerhalb und entzog sich dem Zugriff. Ich hörte von eifrigen Recherchen, konspirativen Zusammenkünften, Informationen, die gegen Bargeld ausgetauscht wurden. Einmal kamen sie ihm ziemlich nahe, als er gegen meinen Rat abends in die Stadt rollte, um mit mir einen zu trinken. Jemand, der ihn vom Sehen kannte, wies einen zufällig anwesenden Gruftie auf ihn hin, und der organisierte ein schwarzes Rollkommando. Es existierten damals noch keine Handys, also dauerte es ziemlich lange, bis sie sich aus ihren Särgen gewühlt oder das Lesezeichen in ihren Maupassant-Band gesteckt hatten, und so bekamen wir etwas Zeit, die Lokalität zu verlassen und uns über feuchten Asphalt, in dem sich die Natriumdampflampen spiegelten, davonzumachen. Gerade rechtzeitig, denn das Gruftie-Kommando bog schnaubend um die Ecke und betrat das Lokal. Wir beschleunigten unsere Schritte, gingen Umwege zu seinem Auto, hörten hinter uns Stiefelsohlen auf Kopfsteinpflaster, sahen groteske Silhouetten über Hauswände huschen und vernahmen aufgeregte Stimmen. Aus einem offenen Fenster drang die Melodie einer Zither. Wegen seines Übergewichts und der ungewohnten Anstrengung war der Autor ganz rot angelaufen und ging zu Schnappatmung über. Erst als er sicher in seinem Auto saß und die erste Kurve Richtung Heimatdorf bewältigt hatte, atmete ich durch. Sie kriegten ihn nicht an diesem Abend und nicht an folgenden.
So blieb es bei einer lobenden Erwähnung seiner Person auf dem ersten Mini-Album der Band: Auf den Labels der selbstverlegten Platte befanden sich auf der einen Seite die „Special Thanks“, auf der anderen die „Special Fuck Offs“. Unter den Fuck Offs prangte der Name des Autors schön groß an erster Stelle. Ich besitze das Label noch. Nicht die Platte, die habe ich weggeschmissen, nur das abgeknibbelte Label habe ich behalten. Der Autor hat die Platte auch gekauft, wie ich gehört habe, und sie als Belegexemplar archiviert.
Die Band wurde in späteren Jahren allen Ernstes zu einer mittelgroßen Institution im lustigen Paralleluniversum der Grufties, aber erst nachdem sie die Region verlassen hatte. Von den damaligen Musikern blieb nur Lord Byron übrig.

Montag, 26. Mai 2008

Mastkur

Anfang letzter Woche die Katze aufs Land zwangsevakuiert. Etwas verweilt und von Vater mehrfach begrillt worden. Dann kleine Reise ins Münsterland zwecks Goldener Hochzeit der Quasi-Schwiegereltern. Abends Mehrgang-Edelfresschen im rustikalen Waldhotel, der gewaltigste Spargelteller, den ich je gesehen habe. Tags darauf in Telgte den umfangreichsten Heringstopf der Welt mit Speckkartoffeln und so. Zurück aufs Land, Katze wieder abholen. Mittagessen im gutbürgerlichen Restaurant, weil Vater Geburtstag hat. Die Portionen dort sind offenbar deutlich größer geworden, auch die dünnen Fritten wurden durch die dicken, englischen ersetzt. Nachmittags zwei Stücke Erdbeerkuchen, abends Grilleinladung bei einer Familie im Dorf. Zum Abschluss noch mal Grillen daheim. In Köln leeren Kühlschrank vorgefunden und erst mal zum Plus gewatschelt und gerollt. Aufrechter Gang war nicht mehr drin.
Jeden Tag während der Abwesenheit kam der DHL-Mann und hinterließ Benachrichtigungskarten oder vor der Haustür gestapelte Päckchen. Jeden Tag. Um die Speck-, Spargel- und Frittenringe wieder loszuwerden, werde ich nun in den Volksgarten laufen gehen und dabei Gutachten verfassen. Das sieht zugegebenermaßen ein bisschen seltsam aus, mit dem auf den Bauch geschnallten Laptop, aber anders werde ich der Dinge nicht mehr Herr.

Dienstag, 20. Mai 2008

Müllentsorgung

Auf dem Dorf wird natürlich auch Müll produziert. Früher haben manche bei Nacht und Nebel ihre Hinterlassenschaften an einem lauschigen Plätzchen abgeladen, das "Backes Graben" genannt wird. Ein kleines Plateau, eher ein Vorsprung am Eingang zu einem bewaldeten Bachtal, an einer selten frequentierten Kreisstraße gelegen und schlecht einsehbar. Man konnte bei trockenem Wetter sogar mit dem Auto bis vorn an den Vorsprung fahren und sein Zeug gleich aus dem Kofferraum hinab ins Tal schmeißen. Backes Graben wurde zur wilden Müllkippe. Auch damals gab es schon regelmäßige Müllabfuhr und Mülltonnen (es waren die hellgrauen aus Metall), und in Backes Graben landete zumeist das, was nicht in die Tonne passte oder durfte oder sollte. Mit anderen Worten: Hier landete das Interessante.
Der Ort war einer unserer Spielplätze. Wir besorgten uns von dort auch Baumaterial für diverse Baumhausprojekte oder so. Wir sind seitdem vermutlich unrettbar verbleit und verstrahlt. Wer kann schon so genau wissen, was alles dort runtergeschmissen wurde? Einen toten Hund haben wir mal gefunden, eingewickelt in Plastikfolie. Ziemlich großes Tier. Transistorradios, Diaprojektoren, ganze 70er-Jahre-Wohnzimmereinrichtungen, eher wohl 50er-Jahre-Wohnzimmereinrichtungen, die zu Hause inzwischen von 70er-Designs ersetzt worden waren. Nierentisch und Stehlampe, Peter-Alexander-Platten, Bilderbücher, kaputte Schlitten, Altöl, die Schieferschindeln ganzer Dächer, die wir mit Vorliebe wie Frisbees weiter hinab ins Tal segeln ließen, bis sie lautstark an Baumstämmen zerschellten. Autobatterien, Super-8-Filmrollen, Autotüren und Reifen, Reifen, Reifen. Und Schlachtabfälle. Und Insektenschwärme. Zudem NSDAP-Parteibücher mit herausgerissenen Fotos und geschwärzten Namen. Jemand hatte sie bis in die 70er aufbewahrt, weil man ja nicht wissen konnte, ob die Zeit vielleicht nicht doch noch mal zurückkehrt. Nun, in den 70ern ließ derjenige die Hoffnung dann wohl fahren. Ich riss mir ein zerfleddertes, feuchtes Buch unter den Nagel, das ich eine ganze Zeit lang besaß und erst in späteren Jahren überhaupt erst verstand: ein von Baldur von Schirach herausgegebenes Gesangbuch für das fröhliche Beisammensein der Hitlerjugend. Zu meiner Ehrenrettung muss ich jedoch festhalten, dass ich nie, auch damals als Knabe nicht, versucht habe, den Quatsch nachzusingen. Ja, und ein paar Paletten alter Gebetbücher wurden hier auch entsorgt, nachdem das Bistum eine neue Ausgabe des Gotteslob unter die Leute gebracht hatte.
Es gab weiter unten am Hang so einen grünlichen Tümpel, in den Regenwasser lief, Wasser also, das durch Schichten von Müll gesickert war. Jemand schwor Stein und Bein, aus dem Tümpel rage eine leblose grünliche Hand mit sechs Fingern. Noch weiter unten, am Ausgang des Tals, gab es einen alten Wehrmachtsbunker (die Gegend war Westwall), und einige sagten, das Munitionsdepot dieses speziellen Bunkers hätte sich weiter oben befunden, mehr so am Eingang zum Tal, also in etwa da, wo wir gerade standen. Unter dem Müll zu unseren Füßen vielleicht, aus dem jahrzehntelang unaufhörlich Batteriesäure auf die Granaten getröpfelt war ...
Nachdem wir den Müll größtenteils durchsucht und das Interesse an dem Ort verloren hatten, kehrte ich, präpubertär und melancholisch, manchmal noch allein dorthin zurück. Ich hatte nämlich etwas Bedeutsames gefunden, das ich mit den anderen nicht teilen wollte, das ich aber genauso wenig mit nach Hause nehmen konnte, wo meine Eltern es bemerkt hätten. Es war ein Karton mit Nacktheften. Ich schätze heute, es handelte sich um eine stattliche Sammlung von Praline oder St.Pauli-Nachrichten, traditionsbewusste Periodika, die es ja damals schon lange gab. Der Vollidiot, von dem sie stammten, hatte sie in einen Karton gepackt, auf dem sich ein riesengroßer Aufkleber mit einer Postadresse befand. Seiner Postadresse. Ich weiß noch, wem sie gehörten. Er ist inzwischen verstorben.
Ich war präpubertär und buchstäblich unbeleckt. Was ich dort sah, ließ Ahnungen erblühen. Die nackten Menschen darin waren nicht einfach nur nackt, nein, sie vollführten aneinander eigentümliche Handlungen und sprachen zueinander in Sprechblasen. Es war natürlich nichts anderes als Die Erotik-Foto-Love-Story: Bernd und Nina beim Jodelkurs, Folge 17-28. Ich fand das durchaus interessant, was der blonde Bernd und die blonde Nina da vor, während und nach dem Jodeln so mit sich anstellten und was sie für verruchte Sprechblasen-Dialoge von sich gaben. Nina: "Vom Jodeln werde ich immer ganz feucht zwischen den Brüsten." Bernd: "Dann zieh doch das Dirndl aus und geht auf den Balkon an die frische Luft." Bernd und Nina wohnten in Stadtlage, und immer wenn Nina so auf den Balkon trat, gab es auf der Hauptverkehrsstraße unten einen mächtigen Stau. Tatsächlich schienen sich die beiden in Kleidung recht unwohl zu fühlen, und wenn sie so richtig anfingen zu jodeln, dann konnte man die Sprechblasen förmlich HÖREN.
Es war zweifellos besser als das Zeug in der Bravo, aus dem man ohnehin nie recht schlau wurde. Ich nahm den Karton, versteckte ihn unter einem Strauch und kehrte ab und an zurück, um weiterzulesen und zu -starren. In späteren Heften wurden Bernd und Nina durch Berthold und Chantal ersetzt, sie braunhaarige Studentin, er blonder Kfz-Mechaniker, und sie lernten sich kennen, als sie ihren 2CV in seine Werkstatt brachte, weil "die Einspritzpumpe verstopft" war. Wie es mit den beiden ausging, weiß ich nicht, weil die letzten Folgen der Serie fehlten.
Das Areal oben an Backes Graben wurde irgendwann mit Erde zugeschüttet und planiert, einfach über den Müll drüber. Bernd und Nina, Berthold und Chantal wurden mit begraben. Wer weiß, vielleicht dringt in stillen, nebligen Nächten noch ein vereinzelter, orgiastischer Jodler aus dem Erdreich.
Schließlich standen da eines Tages ein undurchdringlicher Zaun und ein Schild "Schutt abladen verboten". Heute ist das kleine Plateau vollständig zugewachsen. Selbst wenn man so viel kriminelle Energie aufbringen würde - die Vegetation würde einen gar nicht bis hin lassen. Vielleicht ist das ganze Unterholz ja auch mutiert, beißt um sich und zieht einen hinunter zu den Autobatterien, toten Tieren und Peter-Alexander-Platten.

Freitag, 16. Mai 2008

Lieber DHL-Tieflader ...

Könntest Du eventuell mal Dein Navigationsgerät auf eine andere Adresse programmieren? Du musst nicht jeden Tag hierher kommen. Es gibt bestimmt eine Menge Leute, die sich freuen würden, auch mal ein Manuskript zu erhalten, und sei es auch noch so kacke. Schau mal, wenn Du fünfzig Meter früher bremst (oder fünfzig Meter weiter fährst, hängt von der Richtung ab, aus der Du kommst) und dann vorsichtig in den Volksgarten einfährst, findest Du dort eine Unmenge an völlig manuskriptlosem, halbnacktem Studentenvolk, das überhaupt nichts zu tun hat, außer sich gegenseitig die Welt zu erklären. Du könntest natürlich auch mal auf halber Strecke eine Reifenpanne simulieren und einige der Manuskripte in die Hecke schmeißen. Ich verrat’s jedenfalls nicht.
Liebe Postfiliale …
Ich weiß, Sie mögen es nicht so sehr, wenn ich vor Ihrer Tür campiere, aber es handelt sich bei mir nicht um einen Obdachlosen, sondern es hat zu tun mit der Effizienz von Arbeitsabläufen. Ich möchte nur möglichst unmittelbar nach Öffnung meine Pakete aufgeben, da ich meinen täglichen Termin mit einem Tieflader nicht verpassen darf.
Liebes Bankkonto …
Ich weiß, Du schwillst gerade ziemlich an. Werde aber bitte nicht leichtfertig. Die Lebenshaltungskosten steigen, gerade erst gab es eine Nebenkostennachzahlung und eine Strom-Erhöhung. Katzenfutter ist teurer geworden, und man kriegt bei Praktiker keine Prozente darauf. Zudem hat die Kommune St. Tropez die Gebühr der Jacht-Liegeplätze erhöht, und die Versicherung für den Scheiß-Maybach ist auch wieder gestiegen.

Donnerstag, 15. Mai 2008

Frey nochmal

Noch ein Wörtchen zu A.M. Frey.
Was ihn neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit so reizvoll und beinahe spektakulär macht, ist seine Bekanntschaft mit Hitler. Er und „der Gefreite aus Braunau“ dienten in einem bayerischen Regiment und kannten sich. Frey war Sanitäter und verarztete den Kameraden mehrfach. Die Überlebenden wollten sich später dazu nicht äußern oder gingen in Hitlers Bewegung auf und hatten kein Interesse an einer ungeschminkten Darstellung von Hitlers frühen Jahren. Nicht so Frey, der zudem auch noch Schriftsteller war und die Bewegung mit jeder Faser verachtete. Seine Darstellungen des Kameraden Hitler sind an Pointiertheit kaum zu überbieten und auch als historische Quelle erstklassig, zugleich sind sie realistisch.
In der Frey-Biographie von Stefan Ernsting wird Derartiges ausführlich zitiert, und Perlentaucher hat 2007 Textproben geliefert, die man ebenso amüsiert wie interessiert studieren kann. Gerade in Zeiten, in denen ausführlich diskutiert wird, ob man über Hitler lachen darf oder nicht, ist so etwas von allerhöchstem Interesse: Es ist keine Comedy, sondern die ungeschminkte Erbärmlichkeit des heroischen Duckmäusertums.

Phantastik im Schlamm

Angesichts des Auffindens von A.M. Frey überfiel mich eine kleine Melancholie angesichts der zu hebenden Schätze der Vergangenheit.
Deutsche Phantastische Literatur zwischen 1890 und 1930. Es gab immer mal wieder Bemühungen, Werke dieser boomenden Epoche und dieser Ausrichtung neu zugänglich zu machen. Leo Perutz und Gustav Meyrink sind seit einiger Zeit sehr gut dokumentiert, und ihre Bücher wurden bei Verlagen regelrecht durchgereicht. Meyrinks Werk findet man heute bei dtv, nachdem es zuvor bei Ullstein war. Perutz hortet man ebenfalls bei dtv, zuvor bei Knaur. Es gab immer mal wieder einzelne Sondereditionen, auch HCs, zum Beispiel bei Paul Zsolnay oder Langen Müller.
Hanns Heinz Ewers ist da schon weniger präsent geblieben, sieht man von einigen TB-Ausgaben von Alraune ab. Der Area Verlag hat einen Sammelband zusammen mit Der Zauberlehrling auf Lager.
Viele andere Autoren blieben über die Jahre Special-Interest-Reihen zur Auswertung überlassen. Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte hat seine aktuelle Neuauflage bei einem Esoterik-Anbieter erlebt. Die Verlage Festa und Blitz bemühten sich immer mal wieder um Neuauflagen vergessener Autoren: Franz Spunda, A.M. Frey, Karl Hans Strobl, aber eine Systematik war da nie drin. Es blieb bei einzelnen Anstrengungen. Verlage wie Bastei oder Insel/Suhrkamp haben in ihren einschlägigen Reihen und unter Herausgebern wie Michael Görden oder Franz Rottensteiner immer mal wieder Schätze vom Schlamm befreit, aber die Zeiten, in denen solche verlegerischen Verspieltheiten buchhalterisch tragbar waren, sind vorbei. Nicht vergessen werden darf Dumonts Bibliothek des Phantastischen unter der Ägide von Frank Rainer Scheck, in der allerdings wenig Deutsches erschien. Dennoch: Unvermittelt tauchten in solchen Reihen Spunda, Frey, Alexander Lernet-Holenia, Paul Scheerbart, Otto Soyka oder Willy Seidel auf.
In den heutigen Zeiten findet man allerhand im „Projekt Gutenberg“. Wenn ich die Zeit hätte, würde ich das alles mal durchforsten.
Obwohl jemand wie E.T.A. Hoffmann das, was man als „Phantastische Literatur“ bezeichnen kann, maßgeblich miterfunden hat, waren die deutschen Autoren mehrere Generationen später nicht gerade die internationale Speerspitze der Gattung. Dennoch hatten sie einige bemerkenswerte Gestalten in ihren Reihen. Nachdem er jahrzehntelang vergessen war, erfreut sich Leo Perutz bei Literaturwissenschaftlern, Medien und Publikum inzwischen wieder großer Beliebtheit. Maßgeblich in seinen Texten ist ein Mix aus Kriminal-, Historien-, Gesellschafts- und Schauerroman, und immer wieder verwirbelt er die Identitäten seiner Figuren, so dass man davon ausgehen kann, dass es sich mit den Fakten nie so verhält, wie es einem anfangs suggeriert wird. Mein persönlicher Favorit heißt Zwischen neun und neun und liest sich, als hätte Arthur Schnitzler einen satirischen Thriller geschrieben, der einem am Ende buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht. Ein unverschämt moderner, zeitloser Roman. Das Spätwerk Nachts unter der steinernen Brücke gilt indes als Perutz’ bedeutendster Nachlass.
Gustav Meyrink in seiner Gänze ist zu okkultistisch und verschroben für das ganz große Publikum von heute, allerdings zeigt er sich oft genug in der Lage, sich den eigenen Hemmschuh, der die Bezeichnung „esoterische Didaxe“ trägt, vom Fuß zu schütteln und in den Spurt überzugehen. Der Golem ist eines der am schönsten hingeflüsterten Geheimnisse der deutschen Literatur, die Erzählungsbände Des deutschen Spießers Wunderhorn und Fledermäuse gehen zumeist ab wie ein Zäpfchen, Walpurgisnacht hat mehr Grobheiten als Qualitäten, darf aber als Beleg dafür gelesen werden, dass auch ein Esoteriker mal Amok laufen kann. Als ich damals meinem Literaturprofessor das Thema meiner Magisterarbeit vorstellte, schaffte er sich Der weiße Dominikaner von 1921 drauf und meinte, das sei der schrecklichste Roman, den er jemals gelesen hätte. Er wollte mich wohl warnen, weil er glaubte, ich sei ein Meyrink-Enthusiast und hätte die Absicht, den Autor jenseits aller wissenschaftlichen Kriterien zu rehabilitieren oder abzufeiern. Ich glaube, er war dann ziemlich beruhigt, als ich speziell diesen Roman als „in jeder Hinsicht bizarr gescheitert“ bewertete.
Die Nähe zu okkultistischen Modellen, die nicht immer klare Grenzziehung zwischen Fiktion und Esoterik, die bis zur strukturellen Auflösung reicht und häufig ins Unnennbare überwechselt, und die allgemeine Mythophilie der Epoche machen überhaupt viele Werke dieser Zeit zu eigenartigen, oft nicht mehr ganz nachvollziehbaren Texten, die im besten Fall extreme Dichte aufweisen, im schlimmsten komplette Wirrnis. Manches müsste man heute als kommentierte Ausgabe vorlegen, um sowohl die Zeitkontexte wie auch die okkultistischen Zutaten zu verstehen, ohne eigene Nachforschungen anstellen zu müssen. Aber welcher Herausgeber macht sich solche Mühe bei mittelprächtigen oder gescheiterten Texten? In den Museen der Welt kann man sich die Bildenden Künstler des Jugendstils, des Expressionismus und weiterer Strömungen der Epoche von fachkundigen Menschen erklären lassen, die Hintergründe solcher eigentümlichen Romane erklärt einem hingegen kaum jemand außerhalb literaturwissenschaftlicher Fachpublikationen. Dabei sind sie genauso Abbild der Ära und ihrer aus bürgerlicher Frustration und politischer Instabilität geborenen Hinwendung zu überzeitlichen Ordnungen.
Bestsellerschreiber Hanns Heinz Ewers hat man oft ziemlich gehasst, zu Lebzeiten wie in den danach folgenden Jahrzehnten einer zumeist dünnen Rezeption. Aber gerade die vielgescholtene Explizität seiner Darstellungen und der unverhohlene Unterhaltungsanspruch weisen weit in die Zukunft, und so etwas wie Alraune scheint beinahe der Startschuss der modernen Horror-Literatur zu sein.
A.M. Frey gehört zweifellos der großen Leserschaft anempfohlen, eventuell auch Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen von Willy Seidel, dem manche eine Lovecraft-Nähe nachsagen. Im Zeitalter der Verschwörungstheorien könnten Franz Spunda (Baphomet) und Karl Hans Strobl (Eleagabal Kuperus) belegen, dass es ähnliches auch schon früher gab.
In ihrer Epoche erweisen sich die Biographien der Autoren als mindestens genauso spannend und tragisch wie manche ihrer Romane. Ewers zum Beispiel ist ein schillerndes Kaleidoskop ästhetischer und ideologischer Unstetigkeit, jemand, der eine der ersten Kabarettbühnen mit begründete, Dekadenz und Individualismus predigte, unablässig als Reisejournalist die Welt umkurvte, mit einem überzeugten Demokraten wie Walter Rathenau befreundet war, aber später die Nähe zu Goebbels suchte, von Hitler per Handschlag in die NSDAP aufgenommen wurde und Gerüchten zufolge als anonymer Ghostwriter das „Horst-Wessel-Lied“ schrieb. Zugleich blieb er ein Freund der Juden und verhalf durch seine Kontakte einer Menge Menschen zur Flucht.
Strobl war stets ein Deutschnationaler, ein polternder Sudetendeutscher und Tschechenfeind, der früh mit den Nazis paktierte und den die Sowjets deswegen im hohen Alter nach dem Krieg zum Steineklopfen jagten.
Perutz und Frey, der eine Jude, der andere Pazifist und Nazi-Hasser, emigrierten unter zum Teil dramatischen Umständen und kehrten gar nicht mehr oder nur unwillig und auf Zeit zurück. Meyrink erlebte die „Machtergreifung“ nicht mehr, hatte sich aber schon lange zuvor auf seinen „mystischen Solipsismus“ (J.C. Meister) zurückgezogen. Anfällig für den Faschismus war er ohnehin nie, im Weißen Dominikaner gibt es schon 1921 eine Passage, die mit aller Klarheit deutlich macht, dass er solche Ideologien dem „Bösen“ zurechnet. Die Bücher von Meyrink, Perutz und Frey landeten am 10. Mai 1933 selbstverständlich mit auf den Scheiterhaufen der Barbaren und bewegten sich nach dem Krieg stetig unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. Einerseits hatte man die Nase voll von „Mythischem“ und „Irrationalem“, denn damit hatten die Nazis einen auf ihre Art gewaltig zugeschmissen, andererseits verspürte die neue, anpackende Republik kein nachhaltiges Interesse an Ausflüssen aus dem Unterbewussten, an Verbotenem, Groteskem, Bizarrem. Das Vergessen griff um sich, der Schlamm legte sich über eine Gattung.
Tauchfahrten dorthin lohnen sich sehr wohl, und wer die Zeit findet, sollte mal runtersteigen. Wenn irgendetwas spektakulär Glitzerndes aufgefunden wird, bitte Bescheid sagen.

Mittwoch, 14. Mai 2008

MySpace

Hier die MySpace-Seite eines meiner deutschen Lieblingsschriftsteller. Wusste noch gar nicht, dass er eine hat. Kommt auch recht verblüffend, denn er ist seit 51 Jahren tot. Dahinter steckt der Autor seiner 2007 erschienenen Biographie. Es lohnt sich sehr, die Informationen auf der Website zu lesen – und natürlich die Biographie selbst.
Die zentralen Romanwerke des Autors sind der Kriegsroman Die Pflasterkästen, der Erste Weltkrieg aus der Perspektive eines Sanitäters, sowie Solneman der Unsichtbare von 1914, eine zeitlose phantastische Groteske, die irgendwie zwischen Heinrich Mann und den satirischen Spießer-Aggressionen Gustav Meyrinks oszilliert. Eine der ganz wenigen Gemmen deutscher Phantastik. Der Blitz Verlag hat zudem vor Jahren einen Band mit scheißgruseligen Erzählungen herausgegeben, der nach wie vor lieferbar ist und nicht mal zehn Euro kostet: Spuk des Alltags.
Alexander Moritz Frey wird irgendwann wiederentdeckt und dann offiziell bei dtv oder Fischer dem großen Publikum wieder zugänglich gemacht werden, da habe ich keine Zweifel. Als Schriftsteller und als Mensch mit Charakter hat er das auch verdient.

Dienstag, 13. Mai 2008

Jenny

Die dritte im Bunde der pubertären Schwärmschnallen meiner Generation ist die allseits beliebte Jenny Agutter. Bei ihr jedoch stellte sich der angenehme Nebeneffekt ein, dass der lechzende Pubertierende auch auf manche Feinheiten der Schauspielkunst hingewiesen wurde, denn sie ist ein anderes Kaliber als Erin oder Caroline. Jenny ist eine mehrfach ausgezeichnete britische Schauspielerin mit ellenlanger Filmographie, die um das Jahr 1976 in einigen Großproduktionen einen ersten Karrierehöhepunkt erreichte. Jenny war nicht nur Nebendarstellerin, sondern wurde für unterstützende Hauptrollen neben großen Stars besetzt. Es entstanden Der Adler ist gelandet, Equus, Der Mann mit der eisernen Maske und Flucht ins 23. Jahrhundert. Vor allem letzterer machte auch Jenny zur unvergesslichen Trash-Ikone. In einem betont kurzen lindgrünen Leibchen spielt sie eine Liebessklavin (lechz!), mit der Michael York sich einen netten Abend machen möchte, aber stattdessen zieht er sie in eine Revolte gegen das dystopische System hinein – oder sie zieht ihn hinein, weiß ich im Moment nicht mehr. Erwähnenswert die Sequenz, wenn die beiden Flüchtigen in die vom Roboter bewachten Eishöhlen geraten und Jenny entzückenderweise ihr Leibchen ablegt, um in einen Pelz zu schlüpfen. Leider, leider jedoch lässt die Kamera uns das nur erahnen und zeigt stattdessen Michael York mit nacktem Oberkörper beim Kleiderwechsel. Die Szene gibt es bei Youtube, habe jetzt keine Lust, den Link zu suchen.
Bis Mitte der 70er hatte Jenny bereits ein paar Preise eingeheimst, nachdem sie sich um 1969 herum als junges Ding wohl auch mal in der Peripherie von Hawkwind und den Psychedelikern von der Portobello Road aufgehalten hatte, was für die Tochter eines Offiziers sicher mächtig skandalös war. Ihre Stärke ist eine großäugige mädchenhafte Unschuld, die schnell in Melancholie umschlagen kann. Mit zunehmendem Alter ging das nicht verloren, aber es gesellte sich eine Art natürliche Souveränität hinzu, die Jenny zum Beispiel dazu befähigte, völlig glaubwürdig Landhaus-Ladys und so was zu spielen. Solche wie Caroline oder Erin kann man sich beim besten Willen nicht als Landhaus-Ladys vorstellen, nein.
Jenny spielt 1981 die nette Krankenschwester in American Werewolf (1981), wo sie zu meiner moralischen Entrüstung recht schnell mit dem amerikanischen Werwolf-Touristen in die Kiste springt. Ja, Jenny hat im Gegensatz zu Erin und Caroline sehr wohl unzüchtige Szenen gedreht, denn Jenny ist eine professionelle Schauspielerin, die so etwas kann. Sie trat in vielen, vielen Produktionen auf und verlegte sich dann irgendwann aufs Fernsehen, wo sie zuvor schon des Öfteren aufgetaucht war: Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann, Magnum, Der Equalizer. Zuletzt sah ich sie als gereifte Dame in einer Elizabeth-George-Verfilmung. Im Handjob-Sozialdrama Irina Palm spielt sie wohl auch mit.
Eine Produktion von 1981 sollte noch erwähnt werden, weil sie weithin unbekannt ist. The Survivor ist die erste James-Herbert-Verfilmung überhaupt, die seines gleichnamigen zweiten Romans, der in Deutschland mal unter dem Titel Todeskralle (brrr) erschien. Der Film ist gut gemeint und wirr und zu Recht unbekannt, obwohl der Plot der beste ist, den der frühe Schlachthaus-Herbert zustande gebracht hat, und Jenny spielt an der Seite des Zeffirelli-Jesus-Darstellers Robert Powell.

Montag, 12. Mai 2008

Caroline


Caroline Munro weigerte sich aus moralischen Gründen, Nacktrollen zu spielen, und da war sie ganz konsequent und lehnte lukrative Angebote ab. Dafür hatte sie eine Vorliebe für Bikinis oder gönnte sich das tiefste Dekollete der damals bekannten Welt. Der Blick des Zuschauers wurde von schamlosen Filmproduzenten und Kameraleuten unentwegt genau auf diese Stelle (ach was, dieses riesige AREAL) vor der Hütte gelenkt. Eine dunkelhaarige Schöne aus Britannien, das war Caroline Munro, eine großartige Nebendarstellerin in bedeutenden Filmen und zuvor heiß umschwärmtes Spind-Model, nachdem eine landesweite Whiskey-Plakatwerbung sie bekannt gemacht hatte. 1970 trennte sie sich von ihrem Freund, dem Songwriter Colin Blunstone, der daraufhin die bittersüße Ballade "Caroline Goodbye" veröffentlichte. Zwischen den Zeilen liest man da heraus, dass Caroline wohl mehr auf Karriere stand als auf Colin. Ihren frühesten kleinen Filmauftritt findet man in der irren Erstverfilmung von Casino Royale (1967). Danach spielte sie, ebenfalls in den Credits nicht erwähnt, in zwei Filmen die verstorbene Frau des allseits beliebten Dr. Phibes. Keine Sprechrolle.
Mir fiel sie zum ersten Mal auf als lächelnde, angemessen knapp bekleidete Killer-Charge in Der Spion, der mich liebte (1977), wo sie Roger Moore mit dem Hubschrauber jagt, bis der sie mit einer Rakete aus seinem tauchenden Lotus Esprit aus der Luft pflückt. (Man sollte eben vorher nachdenken, für wen man arbeitet, und wenn der größenwahnsinnige Curd Jürgens einen anheuert, dann sollte einem schon klar sein, dass früher oder später die Konfrontation mit James Bond unausweichlich wird und man diese unmöglich überleben kann.) Caroline war in ihrem Bikini ein bisschen verrucht, aber wie alle Bond-Girls noch verhältnismäßig harmlos.
Etwas später, Freitagabends im ZDF, verliebte ich mich schließlich hemmungslos in sie aufgrund ihres leichtlebigen Auftritts in dem schon älteren Dracula jagt Mini-Mädchen (1973), wo sie als wildes Hippie-Girl auf dem Altar einer Kirche geopfert werden soll und ihr Dekollete wirklich sehr tief blicken lässt. Und wenn das Kunstblut aus dem Kelch über ihre Brüste schwappt, sich mit dem Angstschweiß vermischt ... Hui, das ließ einen untenrum schon irgendwie sanft erbeben. Und kurz darauf tritt Christopher Lee an sie heran und beißt sie. Diese Szene bzw. ein nachgestelltes Standbild wird gerne als typisiertes Dracula-Poster verkauft: Lee beißt zu, die von der Altarszene noch blutbeschmierte, vollbusige Caroline wirft in schmerzhaft-orgiastischer Pose den Kopf nach hinten und scheint einen poetischen Orgasmus zu erleben, der schon nicht mehr von dieser Welt ist. Selbstverständlich besitze ich dieses Poster, hänge es aber aus Rücksicht auf die Mitmenschen nicht auf. Ich habe mir den raren Film mal als VHS besorgt, inzwischen ist er als DVD längst überall verfügbar und nicht mehr rar.
Caroline absolvierte noch einige imponierende Bikini-Nebenauftritte in mittelordentlichen britischen Filmen wie Sindbads gefährliche Abenteuer (Caroline ist ein besonders reizender Naturalismus mitten unter staksenden Harryhausen-Monstern), Der sechste Kontinent oder Captain Kronos, Vampirjäger, letzterer an der Seite von Horst „Bastian“ Janson. Ein mehr als mittelordentlicher Film im Übrigen, aber schrecklich erfolglos damals in der Spätphase der Hammer Studios. Wird heute als britischer Vorläufer von Blade und Co. betrachtet. Dann lockte jemand Caroline mit schönen Versprechungen nach Italien und bot ihr Hauptrollen an. In den besten Filmen der Welt. Vor Star Crash – Sterne im Duell (1978) hat mich in der fünften Klasse bereits ein Mitschüler gewarnt – in der fünften Klasse! Ich ging trotzdem ins Kino. Ja, so was lief damals im Kino, denn es herrschte gerade Krieg der Sterne-Boom und alles mit Raumschiffen drin wurde verwertet. Sogar der Pseudo-Porno Flesh Gordon, der auf dem Planeten, na ja, Porno spielte. Star Crash ist keinesfalls Porno, nein, er ist einfach nur ungemein befremdlich. Der Regisseur heißt Luigi mit Vornamen, was an und für sich schon ein schlechtes Zeichen ist. Es gibt den Film als DVD, man sollte ihn sich gönnen. Die Handlung, Star Wars für Bewusstseinsminimalisten, ist unerheblich, man starrt ohnehin dauernd in Carolines von Leder umschlungenen Ausschnitt, bewundert in Ganzkörperaufnahmen ihre Figur und leckt sich in einem unbewussten Reflex die Lippen wund. Sie spielt die Weltraumagentin Stella Star – ein Name wie geschaffen für Trashisten -, und an ihrer Seite befindet sich neben einem Androiden ein talentierter Jungdarsteller, auf den noch Großes zukommen sollte. Den blondgelockten Sternenprinzen mit dem - ja! - Laserschwert spielt ein am kalifornischen Strand mit Drogen betäubter und in einer Kiste durch den Zoll nach Italien geschmuggelter Darsteller namens David Hasselhoff.
Neben ihm und Weltenretterin Caroline spielt hier auch der ehrenwerte Christopher Plummer mit und verkörpert den sonnigen Sternenkaiser. In Plummers Brieftasche befand sich damals ein so großes Loch, dass all seine Gagen immer durchrutschten, und da hatte er gegen eine Handvoll Lire nichts einzuwenden, die den Riss im Geldbeutel zu verstopfen halfen. Italienische Produzenten bezahlten seinerzeit grundsätzlich in bar.
Die Tricktechnik von Star Crash entspricht ungefähr Buck Rogers, allerdings nicht der 1979er-Neuauflage von Glen Larson, sondern den Serials aus den 30ern. Und in Star Crash wird mit Tricks nicht gekleckert, sondern geklotzt. Und das auch noch in Farbe. In viel zu viel Farbe. Noch ein Grund mehr, den Blick ausschließlich auf Caroline fixiert zu halten und alles drumherum zu ignorieren. Die Sterne in dem Film sind grün, rot, gelb, blau – Glühlampen aus dem Partykeller von Regisseur Luigi. Er und Caroline haben sie höchstpersönlich dort rausgeschraubt und in Kartons zu Requisiteur Ermano getragen, den alle nur „Il confidentale“ nannten. Ich hoffe, Luigi hat Caroline, als sie allein da unten im Partykeller waren, nicht unsittlich an die Brüste gefasst. Italiener sind da ja bekanntlich wenig zurückhaltend.
Caroline drehte noch ein paar weitere Filme, einen mit Luigi und noch einen mit seinem berühmten Kumpel Jess Franco, schipperte zwischenzeitlich auch mal nach Amerika und trat in noch mehr herausragenden Horrorfilmen und im Fernsehen auf. In dem berüchtigten Maniac (1980) von William Lustig übernahm sie eine größere Rolle. Der damals von der seriösen Kritik verteufelte Schlitzerfilm ist mit den Jahren zu einem harschen kleinen Low-Budget-Klassiker gereift, der totale urbane Trostlosigkeit ausstrahlen würde, wäre da nicht unsere entzückende Caroline. (Was sie allerdings an einem Narbengesicht wie Joe Spinell - übrigens schon der Bösewicht in Star Crash - findet, das entzieht sich unserer Kenntnis.) Zwischendurch hat Caroline sich auch mal als Pop-Diva versucht und Liedchen geträllert. Wollte aber kaum jemand hören.
Sie ist stolz auf ihre diversen Engagements, firmiert unter dem Titel "The First Lady of Fantasy", unterhält eine Website, besucht Filmfestivals und Conventions und taucht in irgendwelchen Horrorfilm-Dokus als sie selbst auf.
Ach was, ich werde jetzt doch mal dieses alte scharfe Dracula-Poster rauskramen und übers Bett hängen …

Samstag, 10. Mai 2008

Döner

Am Chlodwigplatz gibt’s einen recht drolligen Dönerladen. Am Ende der Prozedur fragt einen die Frau hinter der Theke, wie viel das Gericht kostet. Sie teilt einem nicht etwa den zu entrichtenden Preis mit, sondern fragt einen allen Ernstes, wie viel es kostet. Das hat damit zu tun, dass die Frau neu ist, keine Ahnung von den Preisen hat und der Aushang so weit oben hängt, dass sie die Preise nicht sieht. Also fragt sie den Kunden danach, weil der von seiner Position aus viel besser erkennen kann, was es kostet. Außerdem bereitet sie nicht das zu, was bestellt wird, sondern etwas ganz anderes. Da ich generell maulfaul bin, dieses andere Gericht identifizieren konnte und auch gerne esse, gab ich sogar ehrlich Antwort und sagte: „Ich schulde Ihnen 5,50. Wenn Sie das zubereitet hätten, was ich bestellt habe, hätte ich Ihnen 4,50 geschuldet."

Donnerstag, 8. Mai 2008

Katzen

Einmal brachten Markus und ich eine tote Katze mit in die Schule. Wir hatten sie von der Straße gekratzt und wollten sie im Sachkundeunterricht vorführen.
Die Kleintiere auf dem Dorf hatten ein Leben, das man mit „intensiv, aber mitunter recht kurz“ umschreiben kann. Man ging robust mit ihnen um. Katzen liefen zum Beispiel einfach so mit und blieben unter sich. Kranke Tiere gingen zwangsläufig ein. Niemand bemühte wegen ihnen einen Tierarzt, statt Kastration oder Sterilisation gab es ein Dezimieren der halbjährlichen Würfe mit althergebrachten Methoden, über die ich hier kein Wort verlieren möchte. Die Tierärzte der Region wussten damals noch nicht, wie man das Wort „Kleintiersprechstunde“ überhaupt schreibt. Zu fressen bekamen die Tiere, was die Menschen übrig ließen, oder sie fingen Mäuse. Der einleuchtende Grund ihrer Existenz auf einem Bauernhof.
Obwohl der Straßenverkehr damals noch nicht so stark war, endeten viele als platte Flundern oder mit zerschmetterten Schädeln am Straßenrand. Niemand begrub sie, stattdessen kratzte die Straßenwacht sie ab, schmiss sie in eine Tonne und übergab sie der Tierkörperverwertung. Ich habe einmal mitangesehen, wie eine überfahren wurde – und später eine von unseren eigenen morgens von der Straße entfernt und ordentlich begraben. Auch der Bauernhof-Kater namens Tarzan, dem ich zum ersten Mal überhaupt interessiert beim Vertilgen einer kompletten Maus zugesehen habe, kam schließlich unter die Räder, allerdings war er da schon steinalt. Vermutlich war er nicht mehr flott genug gewesen. Ich fand ihn irgendwann am Straßenrand und begrub ihn, wenn das sonst schon keiner tat.
Ein anderes Mal, Jahre früher, fand ich hinter einer Leitplanke ein anderes Geschöpf, das die Straßenwacht nicht entdeckt hatte. Sehr lange nicht entdeckt hatte. Die Katze war bereits skelettiert. Tote Tiere waren für uns selbstverständlich, aber ein so tolles Exemplar hatte ich noch nie gesehen. Teilweise war die Katze noch in Fell gewickelt, größtenteils aber lag es wie ein Teppich unter ihr. Es war ganz grün und schimmelig. Die Maden waren bereits weitergezogen, Insekten delektierten sich noch an einigen Sehnenresten. Ich zeigte meinen Fund gleich darauf Markus, wir packten ihn ein, warfen ihn inklusive Fell in eine Plastiktüte, und Markus brachte diese am nächsten Morgen mit in die Grundschule. Wir hielten die Tüte dem Lehrer kommentarlos unter die Nase, und der gute Mann öffnete sie. Obwohl Grundschullehrer damals zweifellos noch robuster waren, lief er grün an und sagte erstmal gar nichts. Ich hatte Markus vorgeschlagen, die Überreste in einem der steinernen Tröge zu reinigen, die auf seines Vaters Bauernhof überall herumstanden, aber er hatte es nicht für nötig befunden. Hätte ich wohl selber machen sollen.
Nichtsdestotrotz erkannte der Lehrer unser redliches Bemühen und unsere naturwissenschaftliche Neugier, marschierte in sein Wohnhaus, das direkt neben der Schule lag, und kehrte mit Handschuhen zurück. Dann wühlte er etwas in der Tüte herum, und hielt ab und zu Katzenknochen hoch, die noch mit Sehnen verbunden waren: „Hier seht ihr das Becken. Das hier ist der Schwanz. Hm, ist noch Fell dran. Der Schädel ist eingedrückt, tja. Und das hier … hm, weiß ich auch nicht. So, und jetzt weg damit!“ Er verließ die Klasse und warf die Tüte draußen in eine Mülltonne. Er rief auch unsere Eltern an, war sehr nett und meinte, wir sollten bitte nicht mehr mit Kadavern von der Straße ankommen.
Katzen waren normal, ebenso ihr unvermitteltes Ableben. Man dachte nicht viel über sie nach. Sie waren niedlich, einige scheu, manche waren beinahe gefährlich. Der Respekt vor der Kreatur, die Liebe zum Tier, kam erst nach diesen kaltherzigen Kindheitstagen, die der Analyse dienten, nicht dem Gefühl. Unsere Eltern erlaubten meinem Bruder und mir eine eigene Katze. Ich suchte aus einem Wurf auf dem Bauernhof das scheueste, schwächlichste Tier aus, ein Weibchen. Bereits am ersten Abend lag das Tierchen auf meiner Brust und schnurrte sich einen ab. Und gedieh. Und gedieh. Unter seinen Nachkommen war jener schwarze Kater, der für meine ganz frühen Gedichte verantwortlich zeichnete: Er konnte Schreibmaschine schreiben. Mechanische Schreibmaschine. Er fand es sehr attraktiv, auf die Tasten zu treten und dann nach den hochschnellenden Typen zu hauen. Ich spannte vor einer solchen Spielsitzung ein Blatt Papier ein und ließ ihn schreiben. Ich gab die Texte dann als meine aus und erhielt den Literaturnobelpreis. Erinnert sich heute kaum noch einer dran. Seit der IT-Revolution ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der literarischen Produktion zusammengebrochen, die der Schreibmaschinenkatzen.
Nach dem Ende der eigenen, durchaus unfreiwilligen Zuchtlinie kam dann ein weiteres schwächliches Tier vom Bauernhof zu uns, ein Katzenschnupfen-Kater, der den Schnupfen nie loswurde, aber das beste Katzenleben der Welt führte, auch deswegen, weil er diesmal kastriert wurde. Ich sah zu, wie der Doc ihm die Eier abschnitt. Nach ihm kam Cheech aus dem Tierheim zu uns, zumindest stand der Name auf der Unterseite seines Halsbands. Ich vermute, er war abgegeben worden, weil seine amerikanischen Soldatenherrchen in die Heimat zurückbeordert worden waren. Meine Mutter nannte ihn immer "Männlein". Dieser gewaltige, extrem liebe Kater lebte elf Jahre bei uns und hatte das allerbeste Katzenleben der Welt.
Heutzutage stolziert hier ein stimmgewaltiges Luxusgeschöpf durch die Bude, das die Hälfte des Tages meinen Schreibtischstuhl okkupiert hält und die andere Hälfte des Tages Bruce Willis spielt: Geiselbefreiung aus dem Kleiderschrank.
Es gab zwischen 2000 und 2002, nach Cheech/Männlein, eine katzenlose Zeit, und es hat eindeutig jemand gefehlt.

Dienstag, 6. Mai 2008

Wörter auf Rädern

Soeben ein Manuskript aus dem Stapel zu Ende gebracht, da klingelt es, der DHL-Mann steht mit einem Tieflader vorm Haus. Geladen hat er vier neue Manuskripte. Wörter auf Rädern. Okay, herein damit ins Hochparterre, hoffentlich hält der Kran. Och, der hält schon, damit hab ich neulich ein Nashornpaar an den Zoo geliefert.
YA-Kram, Urban Vampirschlampen-Fantasy sowie irgendwas Unidentifizierbares. Und alles scheißdick. Früher gab es mal Manuskriptseitenformat, da waren 400 Seiten noch 400 Seiten. Heute tauchen immer mehr „ökonomisch“ ausgedruckte Texte auf, die Speicherplatz und Tinte sparen wollen. Es sind immer noch 400 Seiten, aber elend eng gedruckt. Entspricht im normalen Format dem doppelt bis dreifachen. Dieser SF-Roman sieht vielleicht nach 400 Seiten aus, ist in Wirklichkeit aber 1200 Seiten dick. Nicht umsonst definieren die Amis und Briten ihre Texte traditionell nicht nach Seitenzahl, sondern nach Wörtern. 45.000, 93.000, 172.000, 8.567.000. Ist bezogen aufs Deutsche allerdings auch eine Milchmädchenrechnung, denn in einer Übersetzung werden wegen der expliziteren deutschen Syntax daraus locker ein Drittel mehr.
Irre viele Wörter. Zu viele. Dieser sinnlose Text hier spuckt seinerseits schon wieder 184 von ihnen hinaus in die Welt ...

Springprozession

Apropos Katholische Jugendgruppe. Am Dienstag nach Pfingsten des Jahres 198x fanden wir uns unvermittelt wieder mitten in der Echternacher Springprozession.
Zuerst fuhren einige Eltern uns am Abend zuvor mit Autos bis nach Ferschweiler, wo wir auf einen größeren Trupp Nachtwanderer stießen, um uns diesem anzuschließen. Für uns Jugendliche war es ein großes Abenteuer. Mit Taschenlampen über Waldwege und durch Schluchten bis ins luxemburgische Städtchen Echternach. Was uns unsere Gruppenleiterinnen nicht erzählt hatten: Wir waren, ohne zuvor irgendetwas unterschrieben zu haben oder ideologisch geschult worden zu sein, ab Ferschweiler Mitglieder von Pax Christi, der katholischen Friedensbewegung. Tatsächlich war ein Trierer Studentenpfarrer, der ab und zu in unserer Gemeinde aushalf, Sektionsleiter der hiesigen Friedensbewegten, und er hatte unsere Gruppenleiterinnen gefragt, ob wir denn bei diesem Quasi-Sternmarsch mitmachen wollten. Ob sie Flagge zeigen wollten bei so einem wichtigen religiösen Fest. Uns hingegen fragte niemand, ob wir uns unter dem Banner der Friedenswilligen sammeln wollten. Wahrscheinlich wurde man früher auf diese oder ähnliche Weise spontan Parteimitglied. Es hätte genauso gut ein Flagellantenorden sein können, dem wir uns da anschlossen, oder das Opus Dei. Aber hey, was soll’s? Es gibt Schlimmeres als betende Pullistricker mit Alkoholabneigung und Affinität zur Lagerfeuerklampfe und falschem Gesang.
Es wurde dann irgendwann Morgen, wir blieben unter uns, statt im Wohlfühlgewimmel von Pax Christi aufzugehen. Das waren schließlich alles Großstädter. Wir näherten uns Echternach und waren von den ganzen nächtlichen Abenteuern bereits redlich erschöpft, als wir uns zur Prozession formieren mussten. Zudem wurde es brütend warm. „Hier sehen Sie die Abordnung von Pax Christi! Applaus! Applaus! Mann, sehen die abgekämpft aus! Wie viele von ihnen werden die kommende Tortur wohl überstehen?“
Diese Prozession ist originär. Es gibt sie sonst nirgendwo. Sie richtet sich an den Heiligen Willibrord, einen englischen Mönch, der im Jahr 698 hier ein Kloster gründete und in der Krypta der Abteikirche begraben liegt. Die Ursprünge der Prozession sind unklar. Hat es mit der traditionellen Abgabe des Zehnten am Pfingstdienstag zu tun, den die Bauern damals eventuell vor Freude tanzend darbrachten? War es eine Prozession der Kranken und Bekloppten, sie sich in einem stilisierten Veitstanz der Krypta näherten? Ist es ein Restbestand der Geißlerzüge aus der Zeit der Großen Pest ab 1348? Weiß man nicht genau. Heute ist es jedenfalls ein Grenzraum-Event.
Es nehmen Springpilger daran teil und Musikkapellen. Immer eine Pilgergruppe, dann eine Musikgruppe. Letztere spielen immer denselben Polka-Marsch, zu dessen Takt sich die Pilger bewegen. Sie bilden Reihen, und die nebeneinander Springenden fassen sich an Taschentüchern. Viele tragen einheitliche Kleidung, viel Weiß (= Unschuld). Sie hüpfen zur Musik gemächlich einige Schritte vor und erzeugen eine Art Wippen oder Zeitlupenschleudern. Früher gab es wohl eine Frequenz „Drei Schritte vor und zwei zurück“, die aber für Chaos sorgte und die Sache gewaltig in die Länge zog. Ich glaube, wir von Pax Christi waren eingekeilt zwischen dem Musikverein Mummelbach und dem aus Lumpersbach, vor uns sprangen die Heiligen Ritter von der Unbefleckten Jungfrau vom Großen Blech, hinter uns die Betschwesternkompanie der Katholischen Gewerkschaft der Rosenkranzmanufaktur Bettingen/Saarland. Es war, wie gesagt, sehr heiß, wir schwitzten und rochen authentisch nach Mittelalter und früher Neuzeit und schnaubten gar sehr. Einige von uns hatten Schaum vorm Maul, aber das waren meistens die Hardcore-Mitglieder von Pax Christi, die so etwas Authentisches zum ersten Mal erlebten und ausflippten. Einer landete später sogar in der Psychiatrie, wie es hieß. Neurotischer Großstädter eben.
Man hatte uns gewarnt, nach der Hitze draußen sei es am Zielort, der Krypta, ziemlich kalt, und das könnte zu Kreislaufproblemen führen. Ich glaube, Irmgard brach mal wieder zusammen und hielt den ganzen Laden ungebührlich auf. Kann auch sein, dass ich mich irre. Tatsache war, dass auch ich da unten statt eines Heiligen nur Sternchen sah. Andererseits: Vielleicht waren die ja auch der Heilige. Wir sprangen an ihm vorbei und lösten uns schließlich prustend auf. Unsere Eltern kamen uns abholen, ich fiel im abgedunkelten Kinderzimmer ins Bett und nippelte zu größtenteils religionsfernen Klängen von The Alan Parsons Project ab.
Nächste Woche Dienstag geht’s richtig ab in Echternach. Die Stadt feiert den 1350. Geburtstag ihres Heiligen, und es werden Myriaden von hüpfenden Gratulanten erwartet, die durch die Straßen schleudern.

Sonntag, 4. Mai 2008

Rennen

In der fünften oder sechsten Klasse mussten wir bei Herrn Wohlenberg, dem besten Deutschlehrer des Planeten, mal einen Aufsatz über unser Lieblingshobby schreiben. (Exkurs Herr Wohlenberg: eine klapperdürre, ledrige, extremkettenrauchende Hutzelmumie, schrecklich anzusehen und mit einer genialen Ironie gesegnet, der ich so nie wieder begegnet bin.)
Herr Wohlenberg verstand meinen Aufsatz nicht so recht, denn ich berichtete ihm von einer auf dem Dorf gerade angesagten Sportart, die er sich so ganz nicht vorstellen konnte. Meine deskriptiven Fähigkeiten waren damals noch nicht so ausgebildet, dennoch gab Herr Lehrer mir eine Zwei.
Unser Dorf-Sport war so verdammt aufregend, dass ich mich nicht in der Lage sah, meine Euphorie angemessen in Worte zu kleiden. Es war alles zu physisch und schnell und jenseits aller Worte: Nachdem unsere steile Straße endlich asphaltiert worden war, fuhren wir sie mit Rollschuhen herab. Es war die Prä-Inliner-Ära, und Rollschuhe schnürte man sich (normalerweise) noch um die eigenen Schuhe. Ich war eine Flasche im Rollschuhlaufen und fiel dauernd aufs Bürzel oder schlug mir die Knie auf. Wenn damals jemand mit Knie- oder Ellbogenschonern angekommen wäre, hätten wir ihn als Lusche verlacht, ich eingeschlossen, während ich mir gerade zugleich lachend und vor Schmerz schreiend den Schorf von den Knien knibbelte. Aber das war alles scheißegal, denn wir benutzten die Rollschuhe völlig anders als normal. Wir verwendeten nur einen, frisierten ihn, indem wir die Verschlüsse nach hinten klappten oder gleich ganz abschnitten, setzten uns mit unseren Kinderärschen auf ihn drauf und ließen ihn rollen. Gesteuert wurde mit den ausgestreckten Beinen oder dem Schwung des Oberkörpers. Wir mussten alte Schuhe benutzen, denn beim Steuern und Bremsen gab es eine Menge Abrieb und die Sohlen waren in Nullkommanix durch. In der Straße gab es eine verdammt steile und enge Kurve, in der heute noch Autofahrer manchmal Probleme bekommen. Sie war der Knackpunkt eines solchen Rennens. Wer sie als Erster erreichte, die Ideallinie erwischte und die anderen ausbremste, hatte fast schon gewonnen. Fast, denn nach der Kurve kam eine rauschhafte Gerade, danach eine weitere, sanftere Kurve und schließlich die Zielgerade. Gerade, Kurve, Gerade, Kurve, Zielgerade. Tempo, Fahrtwind, der Geruch von Gummi. Ein Traum.
Extrem spannend war vor dem Start stets die Frage, ob uns von unten ein Auto entgegenkommen würde oder nicht. Und wenn ja, in welchem Tempo es ankommen würde. Und ob wir es früh genug sehen würden. Interessant war auch, wie es dem Sieger erging, wenn er unten am Ende der Straße zu zaghaft bremste und im 90-Grad-Winkel die Bundesstraße kreuzte. Und ob da gerade eventuell gerade ein Schwerlasttransporter oder vielleicht auch nur ein Patrouillenwagen des Bundesgrenzschutzes angebraust kam. Damals gab es noch nicht so viel Verkehr, und wir überlebten diese Halsbrechaktionen regelmäßig. Wenn doch mal ein Auto kam, wichen wir über die Bordsteine aus, hoben dabei auch schon mal ab, landeten auf einer Wiese, kullerten einen Abhang hinunter oder wickelten uns um Weinbergstöcke. Demnächst wird am Kurvenausgang eine Leitplanke installiert, weil unten am Hang jetzt ein Eigenheim steht und die Gemeinde verhindern will, dass ein von oben herabkommendes Auto denen auf den Mittagstisch kracht. Nie, niemals ist irgendwer an dieser Stelle runtergesegelt, außer natürlich einzelne Teilnehmer der damaligen Rollschuhrennen. Dort stand noch kein Haus, man flog direkt in die Trauben. Klatsch.
Eigenlob stinkt, ich weiß, aber ich habe immer gewonnen. Ich war der Champ, bis irgendwann mein Rollschuh kaputt ging oder ich keine alten Schuhe mehr zum Bremsen besaß. Ich erinnere mich, dass damals sogar mein wilder Schulkumpel Hans-Günther aus dem Nachbardorf manchmal vorbeikam und mitfuhr. Hans-Günther hat es schließlich doch erwischt, aber erst sehr viel später, als eine saudumm überholende Amerikanerin auf der B51 ihn und sein Motorrad auf die Hörner nahm und er die kurze Flugreise ohne Wiederkehr antrat.
Etwas später kam die Zeit der Skateboards, aber sie fand ohne mich statt. Die mit den vermögenderen Eltern bekamen eins gekauft, andere bastelten sie sich selbst - aus einem zerlegten Rollschuh, einem Brett und Nägeln. Irgendwer landete mal in einem Haufen Brennnesseln, es gab hier und da Verbände an Armen und Beinen zu besichtigen. Der Nachteil an diesen Teufelsdingern war: Man nahm am Hang mehr Geschwindigkeit auf und stürzte tiefer als von einem einfachen Rollschuh, auf dem man draufsaß. Entsprechend gab es drastischere Verletzungen. Schlimm ging es für das Mädchen namens Stefanie aus: Sie hat den letzten ihrer Stürze nicht überlebt.

Samstag, 3. Mai 2008

Mystischer Ort

Der aufregendste und zugleich idyllischste Spielplatz der Welt ist meines Erachtens ein Heuboden. Der kombinierte Heu/Strohboden.
Man muss der urbanen Konsumentengeneration, die glaubt, Kühe seien generell lila und trügen coole Sonnenbrillen, weil sie auf Schokolade und Milchtüten so abgebildet werden, einen Exkurs vorausschicken. Heu ist getrocknetes Gras und dient als Futtermittel. Stroh besteht aus Getreidehalmen und dient im Stall als Unterlage für Kühe. Es verwandelt sich tagtäglich in Mist, wenn die Kühe drauf kacken und strullen.
Bei der Getreideernte fährt der Mähdrescher übers Feld und massakriert das Getreide. In seinem rätselhaften mechanischen Inneren trennt er Korn von Halmen, schüttet das Korn über einen Ausguss in einen nebenher fahrenden Wagen, presst die Halme hingegen zu Ballen, umwickelt sie mit Seil und kackt sie am anderen Ende aufs abgeerntete Feld. Tags darauf kommt der Bauer mit dem Traktor und einem Wagen und einigen Helferlein und sammelt die Ballen ein. Dann fährt er sie auf seinen Hof, parkt den Wagen neben dem Stall und der vertikal verlaufenden Förderkette mit den Transportzacken, schmeißt diese an und beginnt damit, die Strohballen abzuladen. Die Kette befördert sie nach oben und lässt sie auf dem Heu/Strohboden verschwinden, wo irgendein Helferlein sie schichtet.
Wenn das alles erledigt ist, wieder Ruhe einkehrt und der Staub sich legt, ist der Strohboden überm Stall voll mit Ballen. Es riecht toll, ist schummrig, und der große Speicherraum wird zu einem exquisiten Labyrinth. Diese geheime, unberechenbare Landschaft verändert sich zudem ständig, weil der Bauer täglich hinaufklettert und durch eine Luke Ballen herunterschmeißt, da er neues Stroh für die Kühe braucht. Das alte haben die ja vollgekackt und in Mist verwandelt.
Der Mist wird übrigens über ein klappriges Förderband mit Schaufeln, das hinter den Kuhärschen verläuft, nach draußen transportiert und landet auf dem Misthaufen. Von dort sickert die Flüssigkeit in ein Reservoir unter dem Haufen. Man nennt das dann Jauche. Von Zeit zu Zeit füllt der Bauer mittels einer Pumpe einen Fassanhänger mit Jauche und bringt diese auf den Feldern als Dünger aus. Dann riecht es meistens streng auf dem Land, und die Touristen aus der Stadt halten sich die Nase zu und brabbeln etwas davon, sie hätten sich die gute Landluft aber anders vorgestellt. Blödis.
Der Heuboden ... Man wird, sofern die eigenen, ungefähr gleichaltrigen Cousinen Bauerstöchter sind, frühzeitig initiiert und darf mit hoch zum mystischen Ort. Mit vier, fünf Jahren spätestens. Man erreicht den Heu/Strohboden vom Stall aus über eine heubedeckte Leiter und findet sich sofort, nachdem man den Kopf durch die Öffnung gesteckt hat, in einer anderen, stilleren Welt wieder, fast wie in einem Bergmassiv, durch dessen Luft Staubteilchen driften und von Sonnenstrahlen, die durch Schlitze, Ritzen und die große Öffnung für die Transportkette fallen, illuminiert werden. Wie eine Freeclimbing-Halle ohne Erwachsene, ohne Sicherheitsleinen, ohne Sturzhelme, dafür mit berauschendem Geruch. Unten drunter befindet sich der Stall mit den Kühen, ihre Dünste ziehen herauf, die ihrer Ausscheidungen, die ihres Kraft- oder Grünfutters, und vermischen sich mit dem Duft des Strohs und des Heus. Man hört bloß gedämpft kauende Kühe, ab und zu muht eine unmotiviert, pisst einen Strahl ins Stroh oder klatscht einen Fladen hin. Manchmal schnaubt der Zuchtbulle in der abgetrennten Box und tritt gegen seine Tür, wenn ihm gerade danach ist. Oben herrscht eine Zeitlang stille Andacht, ehe die Toberei losgeht.
Es gibt Ballen bis unter die hohe Decke und in den teils offenen Dachstuhl, aber nie so diszipliniert und eng gestapelt, dass man nicht zwischen ihnen durchrennen, darauf herumklettern oder Höhlenbildungen untersuchen könnte. Natürlich ist das scheißgefährlich, denn so etwas kann einstürzen. Ein, zwei Ballen tun einem nichts, aber zwanzig, dreißig, eine ganze Lawine aus Ballen, während man gerade in einer Höhle steckt? Es bleibt uns überlassen, das zu checken und die Gefahren zu erkennen oder auch nicht. Heu gibt es auch da oben. Heu ist weicher und liegt lose aus, nicht gepresst. Man springt metertief von Strohballen ins Heu. Dabei muss man aufpassen, dass es auch hoch genug liegt, denn der Boden ist aus nacktem Beton, und mit dem möchte man keine Bekanntschaft schließen. Ich lernte ihn einmal kennen und prellte mir bei einer Heu-Arschbombe ganz gehörig den Steiß. Arztbesuch. Tut manchmal heute noch weh, eventuell ein Haarriss im Steißknochen.
Attraktiv ist auch die Transportkette, die von draußen vertikal hereinkommt, unter der Decke in die Horizontale abknickt und durch den ganzen Raum verläuft, damit sie Ballen in jede Ecke transportieren kann. Sie verfügt über ein orangefarbenes Sicherheitsgestänge, fest in der Decke verankert, an dem man sich entlanghangeln kann, um sich dann aus großer Höhe ins Heu fallen zu lassen. Es gibt einen älteren Teil des Heubodens, abgetrennt von dem neueren, durch einen alten, gratigen Mauerdurchbruch zu erreichen, für den festes Schuhwerk zu empfehlen ist. Da gibt es kein Fenster, es ist noch schummriger, es riecht noch intensiver, die Mauern sind uralt, man sieht nicht mal, wohin man springt. Ideal zum Verstecken und Verweilen und zum Verschüttgehen und nie wieder Auftauchen.
Wir mussten im Frühjahr und im Herbst ein wenig aufpassen, wenn die Katzen hier ihre Jungen warfen. Wir machten einen weiten Bogen um sie und behandelten sie stets wie wertvolles Porzellan, die kleinen Geschöpfe, denn schließlich waren sie Geistesverwandte. Irgendwann purzelten sie über verschlungene Pfade runter in den Stall und legten ihrerseits zwischen den Kühen los mit dem Getobe.
Natürlich ist so ein Heuboden auch toll zum Knutschen oder für Doktorspiele. Ich muss gestehen, gewisse präpubertäre Fantasien diesbezüglich gehegt zu haben, ohne sie jedoch so recht zu verstehen. Wir waren einfach noch zu jung dafür, und als man in das entsprechende Alter kam, hatte der Heuboden für uns schon keine wirkliche Relevanz mehr. Die Aktivitäten hatten sich anderswohin verlagert. Glücklicherweise hatten wir wenigstens unsere ersten, verbotenen Experimente mit Filterzigaretten nicht da oben durchgeführt.
Später soll sich da mal tagelang ein von der Polizei gesuchter Krimineller versteckt haben, ehe er abhaute und sich im Saarland umbrachte. Würde gerne mal wissen, wie der mystische Ort heute aussieht, nachdem der Bauer seinen Hof aufgegeben hat. Der Bauer, mein Patenonkel, wohnt da noch, aber die ganze bäuerliche Infrastruktur und die ganzen Utensilien sind außer Betrieb und leer geräumt.

Freitag, 2. Mai 2008

Dark Green Car

Ich denke immer mal wieder dran, wenn ich den Song „Dark Green Car“ von den Mummydogs höre:
Irgendwann stand plötzlich so ein altes Love-Mobil bei Markus hinterm Haus. Keine Ahnung, wie das da hinkam. Es war ein dunkelgrünes Opel-Blitz-Wohnmobil, und ausrangierte Wohnmobile der 70er hatten nichts gemein mit dem, was man heutzutage unter Wohnmobil versteht. Es war nicht die auf dem (geliehenen) Foto links abgebildete offizielle Camper-Variante, sondern ein zur mobilen Wohnstatt umgebauter Transporter ohne Dachaufbau und ohne die Fenster. Es war aber genauso grün.
Irgendwie musste Markus’ Vater an das Ding gekommen sein und hatte es auf dem Grundstück des eigenen Teilzeitbauernhofs unter einem Baum geparkt, wo es trotzig vor sich hin rostete. Wer weiß, wo der Wagen schon überall gewesen war … Der Innenraum erschien uns damals gewaltig groß, obwohl kaum etwas anderes darin war als eine Etagenbettpritsche mit Schaumstoffmatratzen zweifelhafter Herkunft. Die braunen Flecken an den Wänden erkannten wir Kinder damals nicht als das, was sie waren. Heute weiß ich es besser und muss schaudern. Es waren Zeugnisse der bewegten Vergangenheit des Love-Mobils und der Hippie-Orgien, die vermutlich mal auf den Matratzen stattgefunden hatten. Nicht dass Markus’ Vater irgendetwas damit zu tun gehabt hätte, Herrgott, nein, der verabscheute Hippies und ihre Umtriebe traditionell und ließ seinen Sohn und dessen Freundin in seinem Haus erst dann in einem gemeinsamen Zimmer schlafen, nachdem sie sich verlobt hatten. Das war aber erst viele Jahre später.
Jedenfalls war uns unklar, wie der Opel Blitz auf Markus’ weitläufige Bauernhof-Spielgründe gekommen war, aber das konnte uns ja egal sein, und wir nahmen die Kiste in Beschlag. Zuerst unternahmen wir Fahrten. Jeder durfte mal ans Steuer und kuppeln und schalten und „brummbrumm“ machen. Wir fuhren natürlich nicht in echt. Der Wagen war ja kaputt und hatte sowieso kein Benzin mehr intus. Später baute Markus, der Bastler, an die Hecktür einen Holzverschlag, eine echte Hütte, erweiterte somit das Areal und machte es schön höhlenartig. Die Hütte wurde mit ausgemusterten Sesseln ausgestattet und auch sonst mit allerhand Sperrmüll-Kram angefüllt. Ich steuerte irgendein Weltraum-Poster bei. Vor der Hütte baute Markus eine Feuerstelle und installierte einen Grillschwenker und einen Stapel stets trockenen Holzes. Daneben, auf der kleinen Wiese zwischen dem Opel Blitz und dem Wirtschaftsweg, der das Terrain begrenzte, legte er einen Fußballplatz an, obwohl der offizielle Fußballplatz nur einen Steinwurf entfernt war. An dem standen allerdings Schilder mit „Betreten verboten“ und so. Aber ich schätze, es ging Markus ohnehin mehr ums Basteln um des Bastelns willen. Er zimmerte Tore zusammen, fertigte sogar eine Tribüne an und machte mit Kalk oder Gipsstaub Spielfeldmarkierungen. Der Kalk war garantiert giftig, die Holztribüne splittrig, an den Torgehäusen standen ganz gewiss Nägel heraus, der bröckelnde Lack des Opel Blitz war hundertpro ungesund, die Sperrmüllmöbel dienten Insekten als Bau und Brutplatz, und dass man Brotscheiben am Lagerfeuer nicht pechschwarz grillt, weil man davon Krebs bekommt, wussten wir damals auch noch nicht. Und die ein oder andere Zigarette soll an diesem Feuer damals auch geraucht worden sein.
Ich scrabbelte einen Namen für das so entstandene Anwesen, und er wurde ranchartig am Eingang angebracht. Villa Irmusajut. Das seltsame Wort bestand aus den Anfangsbuchstaben unserer Vornamen, wobei ich leider nicht mehr alle Beteiligten zusammen bekomme. Irmgard, Ralf, Markus, Ulrike, Annette, Joachim, Thomas … Ich weiß nicht mehr, wer S und das zweite U waren. Andererseits überrascht es mich heute, dass es kein zweites M gab. Wer gerade nichts zu tun hat, kann aus den Buchstaben ja mal ein ästhetisch ansprechenderes Wort scrabbeln. Mir fiel damals nichts Besseres ein, und ich entschuldige mich dafür.
Das war unser Hauptquartier, Ausgangsbasis für die hochmobilen Erkundungen der Umgebung. Unsere Fahrräder waren aufgerüstet mit Spielkarten, die an den Speichen ratterten, ein oder zwei von uns hatten Bonanza-Räder mit Fuchsschwänzen, meins verfügte über allerhand Aufkleber und einen Mercedes-Stern. Markus hatte seins selbst zusammengeschweißt, mit elf oder zwölf Jahren. Außerdem fertigte er uns aus Holzbohlen Gewehre, die manche von uns anmalten oder mit Xyladecor (Asbest!) bestrichen, um sie dann cool mit schwarzem Duct-Tape zu umwickeln und tolle Zebramuster zu erzeugen. Irgendwann kam auch die Zeit der Schwerter. Ich hatte einen echten Prügel, steinhartes Holz und über den Griff zwecks Abfederung der Schläge den ausgemusterten Gumminippel einer Melkmaschine gezogen, der da wunderbar draufpasste. Dass das Ding zuvor sanft einen empfindlichen Kuheuter umschmiegt hatte, kam mir gar nicht in den Sinn. Als Schilde benutzten wir gerne große, ausrangierte hölzerne Glättkellen, deren Unterseite ich mit einem Wappen bemalte und dem Feind entgegenstreckte, damit er sich an ihm abreagieren konnte, bis ich mit meinem Melkmaschinenschwert aus der Deckung stieß und ihn niedermachte. Der improvisierte Fußballplatz von Irmusajut wurde so auch schon mal zum Turnierplatz. Es gab blaue Flecken, es gab Beulen, es gab Blut. Als Lanzen dienten Weinbergstöcke. Glücklicherweise hatte uns irgendein Elternteil darauf hingewiesen, dass wir mit dem flachen oberen Ende zustoßen sollten, nicht mit dem angespitzten unteren. Andernfalls würde ich jetzt vielleicht nicht hier sitzen. Oder ich säße im Gegenteil immer noch im Besserungsheim Helenenberg. Wenn gerade niemand Lust auf Turniere hatte, haute ich einfach dem Opel Blitz ins grüne Blech.
Ja, der duldsame, stumme Opel Blitz schaute sich das alles jahrelang aus blinder werdenden Scheinwerferaugen an, während ihm die Vegetation von unten in den Motorraum wuchs. Irgendwann verloren wir das Interesse an ihm und an uns selbst. Leute kamen und gingen, es gingen mehr als kamen, „Irmusajut“ wurde getilgt, es hieß dann eine Zeitlang nur noch „Villa“. Der Opel Blitz war schließlich komplett vergreist, nur noch Rost und Dreck und scharfkantiges Blech, und grün war er auch nicht mehr, eher braun, bevor er ganz verschwand.
Heute steht auf dem Areal Markus’ Eigenheim – das er natürlich von oben bis unten ganz allein gebaut hat.

Donnerstag, 1. Mai 2008

Kinderschreck

Als ich noch auf dem Dorf wohnte, zu Studentenzeiten und so, ging ich oft spazieren. Meiner Mutter sagte ich stets, ich ginge „nach der Fruuscht kucken“. Fruuscht ist Dialekt, heißt Frucht, heißt Korn. Die Wendung stammte von meinem Opa, einem Bauern, der die eigenen Spaziergänge damit motivierte, dass er sich den Zustand seines Getreides auf dem Feld anschauen wollte. Ich traf ihn häufig tatsächlich bei seiner Fruuscht, und wir hielten ein Schwätzchen.
Jedenfalls war ich an diesem speziellen Tag erst bis ans Ende der Straße gekommen. Auf der Einfahrt des letzten Hauses spielte dieses junge Mädchen namens Verena oder Sibylle mit einem Ball oder einer Puppe, mir den Rücken zugewandt. Da auf dem Dorf jeder jeden kennt und ich darauf konditioniert worden war, Respektbezeugungen zu zeigen, sagte ich deutlich vernehmbar „Tach“ oder „Hi“ zu der jungen Verena und dachte mir nichts dabei. Richtig wäre es gewesen, wenn das Mädchen „Hallo“ gesagt oder ein „Tach“ zurückgegeben hätte. Aber hier lief etwas falsch. Stattdessen fror Verena oder Sibylle mitten in der Bewegung ein und wurde steif wie ein Pfahl. Dann drehte sie ganz langsam den Kopf herum und starrte mich an. In ihrem kreidebleichen Gesicht stand derartige Panik und Angst geschrieben, dass ich unwillkürlich stehen blieb und mich ein Schaudern überfiel. Verena starrte mich weiter an und war kurz vorm Hyperventilieren. Dann, wie von der Tarantel gestochen, sprang sie auf und schrie ganz schrecklich laut in die entzückend friedliche Landidylle hinein: „Hilfe! Hilfe! HILFE!!! HÜÜÜLFE!!!!“ Sie warf die Puppe oder den Ball weg und rannte los in Richtung Haustür, weiterhin kreischend und nach „MAMA!!!“ brüllend. Sie erreichte dabei Phonzahlen, die ich noch nie bei einem Menschen gehört hatte, nicht mal bei Robert Plant von Led Zeppelin. Ich wusste nicht so recht, wie mir geschah, und ging peinlich berührt weiter. In der Haustür erkannte ich noch einen Schemen, der das Mädchen mit hektischen Bewegungen in Empfang nahm. Es war offenbar Mama Marieluise, die mir nun nachschaute. Verenas oder Sibylles Gekreische und panisches Geheule verfolgten mich noch bis an Ende der nächsten Straße, und ich war ernsthaft irritiert. Kannte das Girlie mich nicht, obwohl ich traditionell drei Häuser weiter wohnte? Sah ich so schlimm und unbürgerlich aus? War es der Totenkopf-Anstecker an meiner Army-Jacke? Was hatten ihre Eltern ihr bloß über mich und meine Neigungen erzählt? „Halt dich fern von dem, er hört laute Musik und rasiert sich nicht!“ War ich vielleicht Mister Hyde und fraß in meiner Zweitidentität kleine Mädchen? Davon war mir bislang nichts bekannt.
Als ich von meinem Gang zur Fruuscht zurückkehrte und wieder an dem Haus vorbeiging, war dort alles ruhig. Kurz darauf kam Verenas oder Sibylles Vater zu uns die Straße hoch - er hatte mich zurückkehren sehen – und entschuldigte sich für das Verhalten seiner Tochter. Sie hätte tags zuvor im Fernsehen etwas über einen Kindermörder gesehen, und das hätte sie doch sehr beschäftigt. Ach so.
Verena oder Sibylle ist heute eine wohlgestalte junge Frau mit Designer-Täschchen und Lippenstift, glaube ich, aber womöglich träumt sie ab und an noch von dem großen, schmalen, schlurfigen, unrasierten bösen Werwolf in Army-Jacke und mit Totenkopf-Anstecker, der plötzlich in ihrem Rücken auftaucht und die Zähne zu einem „Tach!“ fletscht.