Donnerstag, 8. Mai 2008

Katzen

Einmal brachten Markus und ich eine tote Katze mit in die Schule. Wir hatten sie von der Straße gekratzt und wollten sie im Sachkundeunterricht vorführen.
Die Kleintiere auf dem Dorf hatten ein Leben, das man mit „intensiv, aber mitunter recht kurz“ umschreiben kann. Man ging robust mit ihnen um. Katzen liefen zum Beispiel einfach so mit und blieben unter sich. Kranke Tiere gingen zwangsläufig ein. Niemand bemühte wegen ihnen einen Tierarzt, statt Kastration oder Sterilisation gab es ein Dezimieren der halbjährlichen Würfe mit althergebrachten Methoden, über die ich hier kein Wort verlieren möchte. Die Tierärzte der Region wussten damals noch nicht, wie man das Wort „Kleintiersprechstunde“ überhaupt schreibt. Zu fressen bekamen die Tiere, was die Menschen übrig ließen, oder sie fingen Mäuse. Der einleuchtende Grund ihrer Existenz auf einem Bauernhof.
Obwohl der Straßenverkehr damals noch nicht so stark war, endeten viele als platte Flundern oder mit zerschmetterten Schädeln am Straßenrand. Niemand begrub sie, stattdessen kratzte die Straßenwacht sie ab, schmiss sie in eine Tonne und übergab sie der Tierkörperverwertung. Ich habe einmal mitangesehen, wie eine überfahren wurde – und später eine von unseren eigenen morgens von der Straße entfernt und ordentlich begraben. Auch der Bauernhof-Kater namens Tarzan, dem ich zum ersten Mal überhaupt interessiert beim Vertilgen einer kompletten Maus zugesehen habe, kam schließlich unter die Räder, allerdings war er da schon steinalt. Vermutlich war er nicht mehr flott genug gewesen. Ich fand ihn irgendwann am Straßenrand und begrub ihn, wenn das sonst schon keiner tat.
Ein anderes Mal, Jahre früher, fand ich hinter einer Leitplanke ein anderes Geschöpf, das die Straßenwacht nicht entdeckt hatte. Sehr lange nicht entdeckt hatte. Die Katze war bereits skelettiert. Tote Tiere waren für uns selbstverständlich, aber ein so tolles Exemplar hatte ich noch nie gesehen. Teilweise war die Katze noch in Fell gewickelt, größtenteils aber lag es wie ein Teppich unter ihr. Es war ganz grün und schimmelig. Die Maden waren bereits weitergezogen, Insekten delektierten sich noch an einigen Sehnenresten. Ich zeigte meinen Fund gleich darauf Markus, wir packten ihn ein, warfen ihn inklusive Fell in eine Plastiktüte, und Markus brachte diese am nächsten Morgen mit in die Grundschule. Wir hielten die Tüte dem Lehrer kommentarlos unter die Nase, und der gute Mann öffnete sie. Obwohl Grundschullehrer damals zweifellos noch robuster waren, lief er grün an und sagte erstmal gar nichts. Ich hatte Markus vorgeschlagen, die Überreste in einem der steinernen Tröge zu reinigen, die auf seines Vaters Bauernhof überall herumstanden, aber er hatte es nicht für nötig befunden. Hätte ich wohl selber machen sollen.
Nichtsdestotrotz erkannte der Lehrer unser redliches Bemühen und unsere naturwissenschaftliche Neugier, marschierte in sein Wohnhaus, das direkt neben der Schule lag, und kehrte mit Handschuhen zurück. Dann wühlte er etwas in der Tüte herum, und hielt ab und zu Katzenknochen hoch, die noch mit Sehnen verbunden waren: „Hier seht ihr das Becken. Das hier ist der Schwanz. Hm, ist noch Fell dran. Der Schädel ist eingedrückt, tja. Und das hier … hm, weiß ich auch nicht. So, und jetzt weg damit!“ Er verließ die Klasse und warf die Tüte draußen in eine Mülltonne. Er rief auch unsere Eltern an, war sehr nett und meinte, wir sollten bitte nicht mehr mit Kadavern von der Straße ankommen.
Katzen waren normal, ebenso ihr unvermitteltes Ableben. Man dachte nicht viel über sie nach. Sie waren niedlich, einige scheu, manche waren beinahe gefährlich. Der Respekt vor der Kreatur, die Liebe zum Tier, kam erst nach diesen kaltherzigen Kindheitstagen, die der Analyse dienten, nicht dem Gefühl. Unsere Eltern erlaubten meinem Bruder und mir eine eigene Katze. Ich suchte aus einem Wurf auf dem Bauernhof das scheueste, schwächlichste Tier aus, ein Weibchen. Bereits am ersten Abend lag das Tierchen auf meiner Brust und schnurrte sich einen ab. Und gedieh. Und gedieh. Unter seinen Nachkommen war jener schwarze Kater, der für meine ganz frühen Gedichte verantwortlich zeichnete: Er konnte Schreibmaschine schreiben. Mechanische Schreibmaschine. Er fand es sehr attraktiv, auf die Tasten zu treten und dann nach den hochschnellenden Typen zu hauen. Ich spannte vor einer solchen Spielsitzung ein Blatt Papier ein und ließ ihn schreiben. Ich gab die Texte dann als meine aus und erhielt den Literaturnobelpreis. Erinnert sich heute kaum noch einer dran. Seit der IT-Revolution ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der literarischen Produktion zusammengebrochen, die der Schreibmaschinenkatzen.
Nach dem Ende der eigenen, durchaus unfreiwilligen Zuchtlinie kam dann ein weiteres schwächliches Tier vom Bauernhof zu uns, ein Katzenschnupfen-Kater, der den Schnupfen nie loswurde, aber das beste Katzenleben der Welt führte, auch deswegen, weil er diesmal kastriert wurde. Ich sah zu, wie der Doc ihm die Eier abschnitt. Nach ihm kam Cheech aus dem Tierheim zu uns, zumindest stand der Name auf der Unterseite seines Halsbands. Ich vermute, er war abgegeben worden, weil seine amerikanischen Soldatenherrchen in die Heimat zurückbeordert worden waren. Meine Mutter nannte ihn immer "Männlein". Dieser gewaltige, extrem liebe Kater lebte elf Jahre bei uns und hatte das allerbeste Katzenleben der Welt.
Heutzutage stolziert hier ein stimmgewaltiges Luxusgeschöpf durch die Bude, das die Hälfte des Tages meinen Schreibtischstuhl okkupiert hält und die andere Hälfte des Tages Bruce Willis spielt: Geiselbefreiung aus dem Kleiderschrank.
Es gab zwischen 2000 und 2002, nach Cheech/Männlein, eine katzenlose Zeit, und es hat eindeutig jemand gefehlt.