Donnerstag, 1. Mai 2008

Kinderschreck

Als ich noch auf dem Dorf wohnte, zu Studentenzeiten und so, ging ich oft spazieren. Meiner Mutter sagte ich stets, ich ginge „nach der Fruuscht kucken“. Fruuscht ist Dialekt, heißt Frucht, heißt Korn. Die Wendung stammte von meinem Opa, einem Bauern, der die eigenen Spaziergänge damit motivierte, dass er sich den Zustand seines Getreides auf dem Feld anschauen wollte. Ich traf ihn häufig tatsächlich bei seiner Fruuscht, und wir hielten ein Schwätzchen.
Jedenfalls war ich an diesem speziellen Tag erst bis ans Ende der Straße gekommen. Auf der Einfahrt des letzten Hauses spielte dieses junge Mädchen namens Verena oder Sibylle mit einem Ball oder einer Puppe, mir den Rücken zugewandt. Da auf dem Dorf jeder jeden kennt und ich darauf konditioniert worden war, Respektbezeugungen zu zeigen, sagte ich deutlich vernehmbar „Tach“ oder „Hi“ zu der jungen Verena und dachte mir nichts dabei. Richtig wäre es gewesen, wenn das Mädchen „Hallo“ gesagt oder ein „Tach“ zurückgegeben hätte. Aber hier lief etwas falsch. Stattdessen fror Verena oder Sibylle mitten in der Bewegung ein und wurde steif wie ein Pfahl. Dann drehte sie ganz langsam den Kopf herum und starrte mich an. In ihrem kreidebleichen Gesicht stand derartige Panik und Angst geschrieben, dass ich unwillkürlich stehen blieb und mich ein Schaudern überfiel. Verena starrte mich weiter an und war kurz vorm Hyperventilieren. Dann, wie von der Tarantel gestochen, sprang sie auf und schrie ganz schrecklich laut in die entzückend friedliche Landidylle hinein: „Hilfe! Hilfe! HILFE!!! HÜÜÜLFE!!!!“ Sie warf die Puppe oder den Ball weg und rannte los in Richtung Haustür, weiterhin kreischend und nach „MAMA!!!“ brüllend. Sie erreichte dabei Phonzahlen, die ich noch nie bei einem Menschen gehört hatte, nicht mal bei Robert Plant von Led Zeppelin. Ich wusste nicht so recht, wie mir geschah, und ging peinlich berührt weiter. In der Haustür erkannte ich noch einen Schemen, der das Mädchen mit hektischen Bewegungen in Empfang nahm. Es war offenbar Mama Marieluise, die mir nun nachschaute. Verenas oder Sibylles Gekreische und panisches Geheule verfolgten mich noch bis an Ende der nächsten Straße, und ich war ernsthaft irritiert. Kannte das Girlie mich nicht, obwohl ich traditionell drei Häuser weiter wohnte? Sah ich so schlimm und unbürgerlich aus? War es der Totenkopf-Anstecker an meiner Army-Jacke? Was hatten ihre Eltern ihr bloß über mich und meine Neigungen erzählt? „Halt dich fern von dem, er hört laute Musik und rasiert sich nicht!“ War ich vielleicht Mister Hyde und fraß in meiner Zweitidentität kleine Mädchen? Davon war mir bislang nichts bekannt.
Als ich von meinem Gang zur Fruuscht zurückkehrte und wieder an dem Haus vorbeiging, war dort alles ruhig. Kurz darauf kam Verenas oder Sibylles Vater zu uns die Straße hoch - er hatte mich zurückkehren sehen – und entschuldigte sich für das Verhalten seiner Tochter. Sie hätte tags zuvor im Fernsehen etwas über einen Kindermörder gesehen, und das hätte sie doch sehr beschäftigt. Ach so.
Verena oder Sibylle ist heute eine wohlgestalte junge Frau mit Designer-Täschchen und Lippenstift, glaube ich, aber womöglich träumt sie ab und an noch von dem großen, schmalen, schlurfigen, unrasierten bösen Werwolf in Army-Jacke und mit Totenkopf-Anstecker, der plötzlich in ihrem Rücken auftaucht und die Zähne zu einem „Tach!“ fletscht.

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