Samstag, 31. Mai 2008

Hormone auf dem Dorfe

Natürlich gab es auf dem Dorf auch die notorischen Casanovas, die in jungen Jahren auf jedem Festchen herumstanden, in der Hand das Bier, den freien Arm um ein Mädel geschlungen, meistens jedes Mal ein anderes. Sie taten dann ziemlich breitbeinig und steckten die flache Handfläche in die Gesäßtasche der jeweils Eroberten, um das Revier ganz eng abzugrenzen. Wahrscheinlich hatten sie zuvor bloß ein bisschen geknutscht und sich gegenseitig Passfotos in die Geldbörsen gesteckt, beeindruckend sah das dennoch aus, wie sie da standen und ihre Paarbindung signalisierten. Man wusste: Hier nimmt etwas ordnungsgemäß seinen Lauf.
Etwas anders verhielt es sich mit den jugendlichen Nerd, der auf dem Dorf automatisch in eine schizophrene Situation geriet. Einerseits hätte er ja schon gerne gewollt, weil die Hormone zwickten, andererseits wollte er doch vielleicht eher nicht, weil die Postpubertät tückischerweise genau die Zeit ist, in der sich der Nerd von der Dorfmentalität entfernt und zur Auffassung gelangt, dass er hier eventuell doch nicht so ganz endgültig dauerintegriert werden möchte. Zumindest nicht so vorschnell.
Es gab durchaus Auswahl, und manche Dorfmädchen waren ausnehmend hübsch. Jedoch: Sie duldeten zwar schüchterne Zuwendungen des Nerd, träumten aber letztlich vom Breitbein-Casanova, aus dem im Sinne der Dorfkultur mal was werden würde. Derjenige, der sich auf Dorffesten der Umgebung ein wenig die Hörner abstieß, um dann mit ihr (und nur mit ihr) am Kai des Ehehafens sesshaft zu werden. Man kannte sich seit der Grundschule, beobachtete sich über die Jahre hinweg aus den Augenwinkeln, registrierte den Fortgang der Dinge, bis man sich irgendwann auf einem Festchen beschlabberte und sich fortan gegenseitig in die Gesäßtasche griff. Das war soweit ziemlich berechenbar. Der Nerd hingegen war nicht berechenbar, weswegen er zwar als exotische Zierde im Bekanntenkreis durchging, als mehr aber auch nicht.
Ich hatte eine Zeitlang mal dieses Trio im Auge. Sie traten stets als solches auf: die Hellblonde, die Mittelblonde und die Dunkelblonde. Die Hellblonde war eine Zugezogene und ein bisschen strange. Bildungsbürgerlicher Background, Klavierstunden und aus Prinzip keinen Fernseher. Stattdessen eine Neigung zu den schönen Künsten. Befremdlich. Aber eben auch ein bisschen geheimnisvoll. Die Mittelblonde war brav und berechenbar, aber überaus angenehm gewachsen. Ich erinnere mich, während irgendeines Jugendgottesdiensts mal die ganze Zeit ihre Brüste angestarrt zu haben. Die Dunkelblonde war die jüngste und netteste, allerdings mit undisziplinierter Gesprächsführung (= plapperplapper) und viel eher noch Mädchen als junge Frau.
Ich glaube, Dorfmädchen sind Instinktwesen und wissen ziemlich genau, was sie wollen. Sie wollen etwas robust Familiäres. Nett sein zu Nerds ist okay, ein bisschen mit so einem zusammensitzen geht auch in Ordnung, aber bitte nicht mehr als das.
Postpubertierende Dorf-Nerds sind ihnen evolutionär unterlegen und wissen mitnichten, was sie wollen. Sie müssen erst das Minenfeld ergründen und mitten darauf Experimente anstellen. Ich führte das Trio aufs Minenfeld und unterzog es einem solchen Experiment, dem letzten Dorf-Sozialisierungsexperiment, um mir sicher sein zu können, ob an den Mädels was dran war oder nicht. Bei negativem Ausgang wollte ich keine Dorfmädchen mehr behelligen. Es wurde ein Videonachmittag daraus, irgendwann im Winter. Auf dem Videorecorder zur Aufführung gebracht wurde Gremlins, der erste Teil. Ich dachte bei mir, das müsste den Mädchen doch gefallen: komödiantisch, eigentlich sogar saukomisch, nicht wenig anarchisch und bizarr und selbstverständlich voller Anspielungen, die ich den Damen ja klugscheißerisch erläutern könnte.
Es ging nicht nur negativ aus, das Experiment, es wurde ein Desaster, und danach kam ich mir echt dreckig vor. Die Hellblonde konnte zwar Klavierspielen, verstand aber wenig von Filmen. Ihr kultureller Background war mir keine Stütze, um die beiden anderen von ihrem Entsetzen zu befreien. In der Szene, in der Phoebe Cates die Geschichte von ihrem Vater erzählt, der als Weihnachtsmann im Schornstein stecken bleibt und dort verhungert, hat die Mittelblonde geheult, während ich über die zynische Anekdote breit grinste und die Mädchentränen gar nicht bemerkte. Aber zum Trauma wurde allen dreien die Sequenz, in der zur Eliminierung der garstigen Kobolde allerhand Küchengeräte zum Einsatz kommen: Mikrowelle, Abfallzerkleinerer, Mixer. Die Mädchen waren geschockt von so viel entsetzlichem Splatter und den grünlichen Innereien an der Küchenwand. Ich hatte einige Zeit zuvor erst einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und war beinahe versucht, die Dunkelblonde in die stabile Seitenlage zu betten, damit sie nicht an ihrem Erbrochenen erstickte. Das war ja alles nicht Sinn des Videonachmittags gewesen. Wir wollten zusammen lachen, so ähnlich hatte ich das zumindest angekündigt. Stattdessen versetzte ich den Testobjekten einen Schock. Ich verstand die Welt nicht mehr. Kein Wunder, denn wir reden hier von Gremlins und nicht von Zombie oder Blutgericht in Texas. Und den anarchischen Charakter des Films, die dekonstruktivistische Weihnachtsbotschaft, haben die drei auch nicht recht verstanden. Selbstredend hatte ich keine Gelegenheit, mit meinem Wissen über die ganzen lustigen Anspielungen zu protzen. Die Mädchen waren so blass um die entzückenden Näschen, dass sie gar nicht mehr aufnahmefähig schienen.
Ich entließ sie danach schweigend in den frühen Winterabend und dachte lange nach über diesen merkwürdigen Ausgang. Das Sozialisierungsexperiment des Nerd war zu radikal konzipiert, und er hatte endgültig verschissen.
Die Hellblonde ist irgendwann weggezogen. Heirat, Kind, Pianistinnenkarriere – was weiß ich. Viele Jahre später tauchte sie an der Uni auf, als mein Studium kurz vor dem Abschluss stand und ihres nach einer Berufsausbildung erst begann. Ich saß mit meinem Kumpel in der Raucherecke, zog an der Kippe, nickte zu der vorbeirennenden Blonden hin und meinte cool: „Auf die war ich mal scharf.“ Woraufhin wir sie fachmännisch ausdiskutierten. Ich verzichtete fortan darauf, sie anzusprechen, denn ich fürchtete, sie würde spontan vom Gremlins-Trauma überfallen und sich so heftig erschrecken, dass ihr der dicke Jahrestage-Schuber, den sie gerade im Arm hielt, auf die Füße klatschte.
Wenn ich heute am Haus der Mittelblonden vorbeigehe und durchs offene Fenster höre, wie sie mit durchdringender Stimme Ehemann und Kindern Anweisungen erteilt („Mileeeenaa!!!“), dann bekreuzige ich mich und danke ihrem Schöpfer für ihre Instinkte, die sie den richtigen Ehemann wählen ließen. Als ich mich etwas später noch mal an die Dunkelblonde heranpirschte und sie zu Indiana Jones in Kino einladen wollte, lehnte sie mit der Begründung ab, sie hätte Angst vor Schlangen, und sie wisse, in dem Film gäbe es Schlangen. Als ich ihr mitteilte, dass Indiana Jones ebenfalls Angst vor Schlangen hätte und sie sich doch sehr gut ihm identifizieren könne, half das nichts. Kurz darauf ging sie mit dem anderen Typen, dem Breitbeiner, fünfmal hintereinander in den ersten Otto-Film. Sie haben sich so was von amüsiert und steckten sich bald gegenseitig die Hände in die Gesäßtaschen.