Freitag, 2. Mai 2008

Dark Green Car

Ich denke immer mal wieder dran, wenn ich den Song „Dark Green Car“ von den Mummydogs höre:
Irgendwann stand plötzlich so ein altes Love-Mobil bei Markus hinterm Haus. Keine Ahnung, wie das da hinkam. Es war ein dunkelgrünes Opel-Blitz-Wohnmobil, und ausrangierte Wohnmobile der 70er hatten nichts gemein mit dem, was man heutzutage unter Wohnmobil versteht. Es war nicht die auf dem (geliehenen) Foto links abgebildete offizielle Camper-Variante, sondern ein zur mobilen Wohnstatt umgebauter Transporter ohne Dachaufbau und ohne die Fenster. Es war aber genauso grün.
Irgendwie musste Markus’ Vater an das Ding gekommen sein und hatte es auf dem Grundstück des eigenen Teilzeitbauernhofs unter einem Baum geparkt, wo es trotzig vor sich hin rostete. Wer weiß, wo der Wagen schon überall gewesen war … Der Innenraum erschien uns damals gewaltig groß, obwohl kaum etwas anderes darin war als eine Etagenbettpritsche mit Schaumstoffmatratzen zweifelhafter Herkunft. Die braunen Flecken an den Wänden erkannten wir Kinder damals nicht als das, was sie waren. Heute weiß ich es besser und muss schaudern. Es waren Zeugnisse der bewegten Vergangenheit des Love-Mobils und der Hippie-Orgien, die vermutlich mal auf den Matratzen stattgefunden hatten. Nicht dass Markus’ Vater irgendetwas damit zu tun gehabt hätte, Herrgott, nein, der verabscheute Hippies und ihre Umtriebe traditionell und ließ seinen Sohn und dessen Freundin in seinem Haus erst dann in einem gemeinsamen Zimmer schlafen, nachdem sie sich verlobt hatten. Das war aber erst viele Jahre später.
Jedenfalls war uns unklar, wie der Opel Blitz auf Markus’ weitläufige Bauernhof-Spielgründe gekommen war, aber das konnte uns ja egal sein, und wir nahmen die Kiste in Beschlag. Zuerst unternahmen wir Fahrten. Jeder durfte mal ans Steuer und kuppeln und schalten und „brummbrumm“ machen. Wir fuhren natürlich nicht in echt. Der Wagen war ja kaputt und hatte sowieso kein Benzin mehr intus. Später baute Markus, der Bastler, an die Hecktür einen Holzverschlag, eine echte Hütte, erweiterte somit das Areal und machte es schön höhlenartig. Die Hütte wurde mit ausgemusterten Sesseln ausgestattet und auch sonst mit allerhand Sperrmüll-Kram angefüllt. Ich steuerte irgendein Weltraum-Poster bei. Vor der Hütte baute Markus eine Feuerstelle und installierte einen Grillschwenker und einen Stapel stets trockenen Holzes. Daneben, auf der kleinen Wiese zwischen dem Opel Blitz und dem Wirtschaftsweg, der das Terrain begrenzte, legte er einen Fußballplatz an, obwohl der offizielle Fußballplatz nur einen Steinwurf entfernt war. An dem standen allerdings Schilder mit „Betreten verboten“ und so. Aber ich schätze, es ging Markus ohnehin mehr ums Basteln um des Bastelns willen. Er zimmerte Tore zusammen, fertigte sogar eine Tribüne an und machte mit Kalk oder Gipsstaub Spielfeldmarkierungen. Der Kalk war garantiert giftig, die Holztribüne splittrig, an den Torgehäusen standen ganz gewiss Nägel heraus, der bröckelnde Lack des Opel Blitz war hundertpro ungesund, die Sperrmüllmöbel dienten Insekten als Bau und Brutplatz, und dass man Brotscheiben am Lagerfeuer nicht pechschwarz grillt, weil man davon Krebs bekommt, wussten wir damals auch noch nicht. Und die ein oder andere Zigarette soll an diesem Feuer damals auch geraucht worden sein.
Ich scrabbelte einen Namen für das so entstandene Anwesen, und er wurde ranchartig am Eingang angebracht. Villa Irmusajut. Das seltsame Wort bestand aus den Anfangsbuchstaben unserer Vornamen, wobei ich leider nicht mehr alle Beteiligten zusammen bekomme. Irmgard, Ralf, Markus, Ulrike, Annette, Joachim, Thomas … Ich weiß nicht mehr, wer S und das zweite U waren. Andererseits überrascht es mich heute, dass es kein zweites M gab. Wer gerade nichts zu tun hat, kann aus den Buchstaben ja mal ein ästhetisch ansprechenderes Wort scrabbeln. Mir fiel damals nichts Besseres ein, und ich entschuldige mich dafür.
Das war unser Hauptquartier, Ausgangsbasis für die hochmobilen Erkundungen der Umgebung. Unsere Fahrräder waren aufgerüstet mit Spielkarten, die an den Speichen ratterten, ein oder zwei von uns hatten Bonanza-Räder mit Fuchsschwänzen, meins verfügte über allerhand Aufkleber und einen Mercedes-Stern. Markus hatte seins selbst zusammengeschweißt, mit elf oder zwölf Jahren. Außerdem fertigte er uns aus Holzbohlen Gewehre, die manche von uns anmalten oder mit Xyladecor (Asbest!) bestrichen, um sie dann cool mit schwarzem Duct-Tape zu umwickeln und tolle Zebramuster zu erzeugen. Irgendwann kam auch die Zeit der Schwerter. Ich hatte einen echten Prügel, steinhartes Holz und über den Griff zwecks Abfederung der Schläge den ausgemusterten Gumminippel einer Melkmaschine gezogen, der da wunderbar draufpasste. Dass das Ding zuvor sanft einen empfindlichen Kuheuter umschmiegt hatte, kam mir gar nicht in den Sinn. Als Schilde benutzten wir gerne große, ausrangierte hölzerne Glättkellen, deren Unterseite ich mit einem Wappen bemalte und dem Feind entgegenstreckte, damit er sich an ihm abreagieren konnte, bis ich mit meinem Melkmaschinenschwert aus der Deckung stieß und ihn niedermachte. Der improvisierte Fußballplatz von Irmusajut wurde so auch schon mal zum Turnierplatz. Es gab blaue Flecken, es gab Beulen, es gab Blut. Als Lanzen dienten Weinbergstöcke. Glücklicherweise hatte uns irgendein Elternteil darauf hingewiesen, dass wir mit dem flachen oberen Ende zustoßen sollten, nicht mit dem angespitzten unteren. Andernfalls würde ich jetzt vielleicht nicht hier sitzen. Oder ich säße im Gegenteil immer noch im Besserungsheim Helenenberg. Wenn gerade niemand Lust auf Turniere hatte, haute ich einfach dem Opel Blitz ins grüne Blech.
Ja, der duldsame, stumme Opel Blitz schaute sich das alles jahrelang aus blinder werdenden Scheinwerferaugen an, während ihm die Vegetation von unten in den Motorraum wuchs. Irgendwann verloren wir das Interesse an ihm und an uns selbst. Leute kamen und gingen, es gingen mehr als kamen, „Irmusajut“ wurde getilgt, es hieß dann eine Zeitlang nur noch „Villa“. Der Opel Blitz war schließlich komplett vergreist, nur noch Rost und Dreck und scharfkantiges Blech, und grün war er auch nicht mehr, eher braun, bevor er ganz verschwand.
Heute steht auf dem Areal Markus’ Eigenheim – das er natürlich von oben bis unten ganz allein gebaut hat.