Mittwoch, 30. Juli 2008

Entropy Tango

Diese Wohnung ist zu groß. Heute wegen Rabimmel zur Tür gerannt. Wir haben die erste Wohnungstür im Haus; gleich zur Haustür gehen bringt also mehr, als umständlich den elektrischen Haustüröffner zu betätigen. Als ich ankam, befand sich der Paketbote bereits wieder am unteren Absatz der Eingangstreppe und hatte die Benachrichtigungskarte schon abgeladen. Er gab mir das Paket dann doch noch.
Dabei hatte ich morgens schon so eine Ahnung, habe geheime Doping-Mittel (im Erprobungsstadium) eingeworfen, die Laufschuhe umgeschnürt, die Jogginghose angezogen, das Tight-Fit-Shirt, das eine gute Aerodynamik verleiht, und mich bereits um halb acht in Startstellung begeben. Als der Schuss dann krachte bzw. es rabimmelte, schoss ich mit sexy knirschenden Knochen und schmerzverzerrtem Gesicht aus der Hocke hoch, nahm zufriedenstellend schnell Fahrt auf, traf aber die Türöffnung zum Nebenzimmer nicht richtig und streifte die Wand, was mich straucheln ließ, von der Ideallinie wegkatapultierte und in den aufgeklappten Wäscheständer beförderte, der zusammenging wie ein Klappstuhl und mich sozusagen in sich aufnahm. Ich warf aus liegender Position mit Wäschestücken um mich, Frauen-Slips, Herren-Holzfällerhemden und meinem Batman-Kostüm, und versuchte meine Beine aus dem Gewirr der Stangen und Metallgelenke zu befreien. Es gelang mir nicht, jedoch stand ich bald wieder aufrecht, den Oberkörper bis runter zur Hüfte zwischen den Stangen des Wäscheständers verklemmt. Das erwies sich als Problem bei der nächsten Türöffnung, denn ich stand zwar aufrecht, der Ständer jedoch befand sich quasi im rechten Winkel zu meiner Körperhaltung, um nicht zu sagen horizontal. Er hinterließ Schrammen an der Wand, als ich erneut losrannte und mit ihm gegen die Ränder des Durchgangs knallte und zurückgeschleudert wurde auf den Schreibtisch der abwesenden Lebensgefährtin und von dort in die Pflanzen auf dem Fensterbrett. Zufälligerweise hat der junge Efeu, der dort steht, in den letzten Wochen einen enormen Wachstumsschub erlebt und wickelte sich mir um Kopf, Hals und Oberarme, als wollte er mir zeigen, wie lieb er mich hat. Während ich das zu regeln versuchte, lief mir die Katze zwischen die Beine, lachte mich aus, schrie „Clouseau! Clouseau!“ oder etwas, das ähnlich klang, und machte sich aus Spaß erst über die Schnürsenkel der Laufschuhe her, kletterte dann mit starkem Kralleneinsatz an meinem Bein hoch, um auf Höhe der Knie eingehakt nach der herabhängenden Kordel der Jogginghose zu angeln.
Als ich schließlich nach dem Durchwühlen mehrerer Schubladen den Wohnungstürschlüssel fand, aufschloss und mit Wäscheständer, Batman-Kostüm, Katze und Efeu vor dem Paketboten stand, erwies der sich als verständnisvoll. Er sei nur Aushilfe, sagte er, und studiere eigentlich an der Düsseldorfer Kunstakademie Performance Art. Er schlug als Titel meiner Installation „Entropy Tango“ vor. Ich klärte ihn darüber auf, dass es den Titel schon anderswo gibt, aber vielen Dank jedenfalls.

Dienstag, 29. Juli 2008

Hitze

Kaum ist die Flucherei über den Regen und die Schafskälte verklungen, geht es los mit den Klagen über die Schwüle. Sie arbeitet sich bei einigen Zeitgenossen ziemlich weit bis obenhin vor. Ich bin in den Untergrund geflohen und den Hinweg in die Innenstadt mit der Bahn gefahren, den ersten Teil noch oberirdisch und in einem heißen Waggon. Ein Typ telefoniert lautstark und schamlos. Er gehe jetzt ins Bett, meint er gerade, da bremst die Bahn vor der Kurve zum Barbarossaplatz und rollt dabei etwa zehn Zentimeter zurück. Ich hab’s nicht mal gemerkt, der Typ hingegen brüllt euphorisch ins Telefon: „Die Bahn fährt rückwärts! Sie fährt rückwärts! Harhar!“ Dann erklärt er dem Gesprächspartner fünf Minuten lang, warum eine Bahn rückwärts fährt, wenn der Fahrer die Bremse nicht ordnungsgemäß betätigt. Er scheint richtiggehend Ahnung zu haben von so was. Die Bahn fährt übrigens schon lange wieder vorwärts, aber der Typ gibt weiter lautstarke Hydraulik- und Pneumatik-Vorlesungen über Rückwärtsfahren. Station Poststraße, unterirdisch, Verbindung bricht ab. Der Typ steigt aus, alle atmen durch. Ich vermute, er ist der Enkel von Ernst Stavro Blofeld und brütet eine Erpressung aus, die etwas mit der Sabotage des ÖPNV zu tun hat. Vielleicht war das ein geglückter Test, und morgen oder übermorgen fahren plötzlich alle Bahnen rückwärts und er und sein Großvater verlangen 100.000 Mark in kleinen Scheinen, bis man sie darüber aufklärt, dass man inflationsbedingt heutzutage mindestens 1.000.000 verlangt und dann bitte auch in Euro.
Summer in the City. Schwitziges Getümmel. Schon mal gemerkt, wie viele Menschen oben an Rolltreppen abrupt stehenbleiben, um sich schnaufend zu orientieren, während man selbst von der Technik direkt in sie hineinbefördert wird? Man fühlt sich so hilflos. Marx Brothers, übernehmen Sie. Vor dem Hard Rock Café ruft jemand laut „Obama!“ und explodiert. Keine Verletzten, nur desinteressierte Blicke. Lediglich ein Königspudel bellt, und der hölzerne Elefant vor dem gegenüberliegenden Antiquitäten-und-Kunstkrempel-Laden wischt sich die Stirn und geht nach drinnen.
Auf dem Rückweg die lange Tour zu Fuß, immer durch die Sonne. Der Schweiß läuft mir in die Augen. Erst ist da dieser Typ, der die Abfallkörbe nach Pfandflaschen durchsucht. Ich bleibe interessiert in einiger Entfernung stehen und schaue zu, wie er das Gesicht über den Korb beugt und schnüffelt. Ja, schnüffelt. Dann greift er mit dem Arm hinein, es gibt einen Ruck, er schreit auf und schaut entsetzt drein, von drinnen ertönen reißende Geräusche und ein Schnauben, und schließlich wird er am Arm komplett in den Mülleimer gezogen. Ziemlich bizarr, wie der breite Typ durch das viel zu kleine Loch ins Innere befördert wird. Es knackt und blubbert. Keinen der zahlreichen Passanten interessiert es. Ich trete neugierig etwas näher heran, werfe vorsichtig meine Kippe in die Kippenritze des Abfallkorbs, luge aus einem gewissen Abstand durch das große Loch, erkenne aber nichts außer McDonald’s-Abfall und Servietten. Nicht mal eine Pfandflasche.
Dann gibt’s dieses Gör, das eisschleckend am Rand des Bürgersteigs nahe der Hauswand steht und genau in dem Augenblick einen Schritt zur Seite tut, in dem ich an ihm vorbei will … wenigstens bekleckert es dabei seinen eigenen Latz mit Erdbeer und nicht meinen. Die Eiskugeln spritzen gegen die Wand wie Blut in einem Splatterfilm, dabei war ich unbewaffnet. Einige Meter weiter kommen mir zwei ältere Damen mit Gehhilfen entgegen, exakt auf gleicher Höhe, als vollführten sie da gerade ein Wettrennen. Das bisschen Platz zum Durchschlüpfen, das ich ansteuere, wird urplötzlich von einem rasenden Radler mit Scream-Maske eingenommen, dessen Vektor sich mit meinem kreuzt, um nicht zu sagen: kollidiert. Es hilft nur a) ein beherzter Sprung in die nächste Baustelle oder b) ein Satz frontal auf die Gehhilfe der einen Dame oder c) die Materialisation eines Wurmlochs. Ich lande also kurzzeitig auf Planet-876, dem sonnenfernen mit den Eislandschaften, finde es durchaus erfrischend, kann mich aber an kaum etwas erinnern, denn es währt nur eine Sekunde und ich torkele etwa fünf Meter hinter den Gehhilfendamen wieder zurück auf den irdischen Bürgersteig der Severinstraße und in die Hitze.
Weiter unten sagt ein Passant urplötzlich: „Du bist so geil! Du bist so geil!“. Dabei steckt er rhythmisch die Zunge in die eine Backe und simuliert Oralverkehr. Ich weiß nicht, ob er womöglich mich damit meint oder doch eher mit sich selbst spricht. Er sieht jedenfalls so aus wie jemand, der hauptsächlich mit sich selbst spricht und dem es auch ein echtes Bedürfnis ist, viertelstündlich Hand an sich zu legen. Mir fällt vor Schreck die Kippe aus dem Mundwinkel, ich gehe schnell weiter, denn ich will nicht zusehen müssen, wie er auf der Straße masturbiert. Beim beunruhigten Blick über die Schulter stelle ich fest, dass er beim Orion-Shop reingeht. Die haben da am Eingang eine scharfe neue Nacktschnalle in Überlebensgröße angeklebt, mit schön feuchten Lippen und die Scham von einem „Nur 9,99“-Preisschild verdeckt, vermutlich meint er die.
Und weiter unten, in der Nähe der Severinstorburg, zwängt sich der Pfandflaschensammler von eben aus einem Abfallkorb, ein fettiges Dönertütchen auf dem Kopf, und schaut sich verwirrt um.
Es ist die Hitze …

Montag, 21. Juli 2008

Algernon Blackwood

Die Katze hat's gerade aus dem Regal geschmissen, deswegen komme ich drauf. Darin enthalten sind zwei signifikante Schauererzählungen, Die Weiden und Der Wendigo, wobei letztere ungelogen der gruseligste Text der gesamten Literaturgeschichte ist. Eine Jagdgesellschaft verfällt in den kanadischen Wäldern dem Irrsinn. Idyll und Geheimnis und Kosmos, Naturschrecken, Psychoterror und phantastische Grundstruktur in wunderschönster Vollendung, und das schon 1910. Robert Aickman hielt den Wendigo für Blackwoods bestes Werk, Lovecraft befand seinerseits, dass Die Weiden die größte Schauergeschichte in englischer Sprache sei. Bevor ich diese Dinger erneut lese, muss ich mir erst Windeln kaufen gehen. Die Erfahrungen von damals sind mir noch in peinlicher Erinnerung. Blackwood rules!

Radfahren

Heute in der Medizin-Kolumne des KStA: Exzessives Radfahren verursacht Erektionsstörungen.
Ich bin entsetzt. Da fahre ich auf dem Land die letzten Tage exzessiv Rad, und unmittelbar nach der Rückkehr kommt mir dieser Arztmensch mit so was an! Hättest du das nicht früher kundtun können, Mann?
Gequetschte Eier, Lähmungserscheinungen, kribbelnde Prostata - verdammt, ich glaube, ich spür's schon ...

Samstag, 19. Juli 2008

Erwachsenwerden kommt später

Es wurde soeben festgestellt, dass ich für die heiße Jahreszeit mangelhaft ausgestattet bin, weswegen ich statt Kaufhof mal diesen Dienst hier in Anspruch genommen habe.
Die vorgegebenen Motive sind mir meist zu dämlich, aber immerhin ist das T-Shirt-Designer-Tool hochgradig flexibel. Auch Puristisches ist erlaubt, meines Erachtens ästhetisch sogar Pflicht. Den Sinn des Universums, des Lebens und allem in einem Wort zusammenzufassen - gar nicht so einfach. Ich habe fünf Shirts gebraucht, um das Wichtigste loswerden zu können.
Die ältere Konkurrenz ist hier zu finden. Sie ist etwas günstiger, bietet mehr Shirt-Typen, liefert womöglich schneller, verfügt aber über weniger Schrifttypen im Generator, was von Fall zu Fall ästhetisch maßgeblich sein kann.

Schaukel

Erstmals den Dorf-Spielplatz besichtigt. Es gibt eine Rutsche, einige Wippen, eine kleine Kletterwand und so weiter. Und es gibt eine große Ringschaukel. Und weit und breit keine Kinder. Also legen wir beiden Spaziergänger uns an einem lauen Abend einfach mal Gesicht nach oben in die Ringschaukel, lassen sie ein bisschen schwingen und schauen hinauf in die Wolken. Wenn sich diese Entspannungstechnik erstmal herumspricht, gehen alle Yoga-Therapeuten schlagartig pleite. Ringschaukeln an alle Straßenecken!

Freitag, 18. Juli 2008

Eifelsteig

Wir sind dann anderntags noch das von versteinerten Trollen, verholzten Feenwesen, rennenden Kindern und nassen Hunden dominierte Butzerbachtal hochgewandert. Sehr hübsch. Auf der Hängebrücke wird einem schummrig. Wenn man oben im Tal eine Schleife macht, gelangt man zu den „Pützlöchern“, einer der zahlreichen Klippen mitten im Wald, die für die Römer interessant genug war, sie auf der Suche nach Kupfer zu durchsieben. Gefährlich aussehende Schächte, die tief runtergehen. So ganz hat man das Areal noch nicht erforscht, eventuell wohnt weiter unten noch ein Cthulhu oder Yog-Sothoth und lässt versklavte Elfen für sich schuften. Danach noch hoch zur Burg Ramstein, der malerischen Ruine eines Bergfrieds, der ganz allein auf einem schmalen Felsen steht.
Die Wege drumherum gehören zur Wanderroute „Eifelsteig“.
Zum Abschluss gab’s dann noch im „Schnitzelparadies“ ein Kylltal-Schnitzel. Später mit Sauerstoffschock ins Bett gekippt.

Dienstag, 15. Juli 2008

Böses Wortgeflecht

Da sitzt man nichtsahnend am (Urlaubs-) Frühstückstisch, schlürft am vorzüglichen Kaffee, blättert in der Regionalzeitung, der Tag mag kommen, planlos, offen, wunderschön, und da steht es wieder, dieses böse Wortgeflecht, das irgendwer vergessen hat einer Generation von Nachwuchszeitungsschreibern und -redakteuren zu verbieten und das einen gleich wieder aggressiv macht und jede Urlaubsbemühung des übersensiblen Lektoratsmitarbeiters torpediert. Dieses wirre, total umständlich zu schreibende Nichtwort, dieses MUND-ZU-MUND-PROPAGANDA.
Die Begrifflichkeit existiert nicht nur nicht, sie ergibt keinen Sinn. Küsst euch meinetwegen intensiv, wiederbelebt euch untereinander am Baggersee, aber bitte sprecht euch nicht gegenseitig in den Mund! Das ist ziemlich eklig, wenn man euch beim Frühstück dabei zusehen muss.

Samstag, 12. Juli 2008

Novum!

Sehr schön! Der schicke Internet-Auftritt des Dörfchens wurde inzwischen durch eine Neuerung in Natura ergänzt – eine noch schickere Infotafel mitten im Ort! Die erste touristische Infotafel überhaupt! Früher standen an dieser Stelle die Altglas- und Kleidercontainer.
Daneben hat man eine wirklich sehr tolle, neuwertige Holzbank gesetzt, die jedoch leider heftig harzt. Mal sehen, ob auf die Gemeinde bald Klagen zukommen, bei denen es um die Erstattung von touristischen Hosenreinigungskosten geht.
Die dreiseitige Infotafel bietet eine Karte des Dorfs, auf der alle Höhepunkte verzeichnet sind: Kirche, Feuerwehrgerätehaus, Gemeindehaus, Fußballplatz, Bolzplatz (den ich am angegebenen Standort irgendwie nicht entdecke), Beachvolleyball-Anlage, naturbelassener Erlebnisspielplatz, Dorfbrunnen, Jakobusbrunnen. Die Berücksichtigung des Pfarrhauses als „Pfarrhaus“ ist etwas verwirrend, denn es handelt sich eindeutig um ein reichlich unbewohntes Ex-Pfarrhaus. Außerdem ist die Straße, in der mein Elternhaus steht, missverständlich eingezeichnet. Beinahe so, als sei der Zeichner dieses Plans noch nie dagewesen. Den schönsten Brunnen hat man indes ganz vergessen, vielleicht deshalb, weil das Ding kein offizieller Brunnen ist, sondern irgendwie schon immer da stand, wahrscheinlich seit der Frankenzeit: Unter dem Kirchturm entspringt eine Quelle mit dem klarsten, kältesten Wasser der Welt. Es wird zuallererst, bevor es irgendeinen Brunnen speist, zu einer Viehtränke unterhalb der Kirche geführt, wo es sich in zwei uralte Steinbassins ergießt, klarer als Glas und eisig kalt. Wir Messdiener haben da früher immer das Wasser für die Wandlung geholt, und seine Kälte hat die Zahnnerven des Priesters zum Zwicken gebracht. Ein "Autsch!" mitten im heiligen Sakrament.
Schön ist dieses Bassin sicher nicht, aber es ist rustikaler und authentischer als diese Allerweltsbrunnen.
Dann gibt es an der Tafel noch eine Karte mit ausgedehnten Wanderwegen, an der es absolut nichts auszusetzen gibt, sowie eine Ortsbeschreibung, die exakt die gleiche ist wie im Internet, inklusive der Schreibfehler und Fotos. Unter anderem werden Freiwillige Feuerwehr und Jugendgruppe der „Kulturszene“ zugerechnet, was auch in Ordnung geht. Hier ist schließlich jeder Kulturszene, der regelmäßig ein Glas Bitburger Premium Pils in die Hand nimmt.

Freitag, 11. Juli 2008

Siegfried, Genoveva und Golo

Im achten Jahrhundert nahm sich Pfalzgraf Siegfried die holde Genoveva zur Frau, machte ihr flott ein Kind und verschwand erst mal auf Kampfesmission. Sex and death, die Kernbotschaft des Mittelalters. Haushofmeister Golo bezichtigte Genoveva derweil des Ehebruchs, so dass diese mit ihrem Baby in die Wälder floh und in einer Höhle Zuflucht suchte. Die beiden lebten von dem, was sie im Gehölz fanden, und zweigten bei einer Hirschkuh Milch ab. Jahrelang suchte Pfalzgraf Siegfried seine Holde und fand sie und das Kind schließlich etwas haarig und verwuschelt, aber soweit intakt. Den Haushofmeister entließ er, Golo lebt heute von Hartz IV.
Wir waren gestern bei allertollstem Wetter mal zum Ort des Geschehens, weniger eine klassische Höhle, als vielmehr eine beeindruckende Höhlung oder Auswaschung im roten Sandstein. Erst seit 1910 ist sie halbwegs bequem begehbar, denn erst da schlugen die wackeren Leute vom Heimatverein Stufen in den Stein. Seitdem haben da ein paar Generationen ihre Einritzungen hinterlassen. Das alles liegt mitten im tiefsten Forst, der das Dorf Kordel im Kylltal umgibt, und man muss eine gewisse Wanderleistung erbringen, um bis hin zu gelangen.
Beobachtung am Rande: Der Wikipedia-Text zu der Höhle ist komplett von der Hinweistafel vor Ort abgeschrieben. Man erkennt es daran, dass der Text behauptet, das mit Siegfried, Genoveva und Golo habe sich 75 n. Chr. zugetragen. Steht man vor der Tafel, erkennt man, dass jemand an der Zahl 75 eine Null abgeknibbelt hat. Es war natürlich 750 n. Chr. Wenn schon abschreiben, dann bitte richtig.
Danach ging’s noch bis zur benachbarten „Hochburg“, einem in der Bronzezeit teilbefestigten Felsplateau, an dessen einer Seite es derart beängstigend und völlig ungesichert bergab geht wie kaum irgendwo in der ganzen Großregion. Im Mai feierte hier eine Dame, die in der Woche darauf nach Amerika oder so auswandern wollte, mit ein paar Freundinnen ihren Abschied. Die Damenclique fertigte ein Lagerfeuer DIREKT AUF DER KLIPPE, trank vermutlich ein paar Likörchen und rollte sich DIREKT AUF DER KLIPPE in die Schlafsäcke. Die Gastgeberin musste des Nachts wohl mal eben notdürftig. Alles, was man von ihr hörte, war ein Rascheln in stockdunkler Nacht. Am nächsten Tag fand die Feuerwehr sie mausetot circa hundert Meter tiefer am Fuß der Klippe. Die Reste des Lagerfeuers sind noch da, ebenso ein paar Trauerdevotionalien mit Foto der Verblichenen und einem Poesiealbum-Spruch in Klarsichtfolie. Ich habe mich lediglich getraut, den Hals so weit vorzurecken, dass ich eine ungefähre Ahnung von der Tiefe bekam. Himmel, was für ein Abgrund!
Auf den Schreck gab’s abends noch ein Kilo Kirschen und Käsegriller im Speckmantel.

Pferdchen Part two

Der Radweg in die andere Richtung ist brandneu. Eingeweiht im April. Es gab jahrzehntelanges Hickhack zwischen der Verwaltung und Umweltschützern, die diese unangetastete Gegend für Lurche und Orchideen reserviert wissen wollten. Problem: Das knapp fünf Kilometer lange Teilstück war die einzige Radweglücke der Region und zwang Radwanderer zwischenzeitlich auf die enge und gefährliche Bundesstraße, weswegen die Radler viel lieber die schicke Radler-Brücke im Nachbardorf benutzten, unser Dörfchen umfuhren und auf dem tollen Radweg auf der Luxemburger Seite weitertrampelten. Es hat sich also kaum je ein Radtourist hierher verirrt, denn auch diejenigen, die aus der anderen Richtung kamen, wussten um diese Lücke und wechselten im dortigen Nachbardorf und am offiziellen Grenzübergang die Seite. „Isolation!“, schrien die Gemeindemenschen. „Wir verkümmern und verblassen! Überall schon Spinnweben! Wir brauchen Durchgangsverkehr! Frisches Blut! Unsere jungen Männer im heiratsfähigen Alter sitzen trübsinnig auf Bänken oder schrauben an Mofas, statt attraktiven blonden Radfahrerinnen hinterher zu spurten. Sie bekommen keine Bewegung, werden dick und impotent und fassen sich schon gegenseitig an!“
Es wurde schließlich nach bestimmt 25 Jahren ein Kompromiss zur Rettung des Genpools gefunden, der vorsah, dass der Radweg an einer ökologisch besonders heiklen Stelle „aufgebockt" wird. Durch ein Gitter fällt Licht auf die Pflanzenwelt untendrunter, und Lurche und solche Viecher können dort unten im feuchten Schatten ganz nett wohnen bleiben. Ab und zu fährt ihnen nur ein Fahrrad übers Dach, jedoch ist das Gitter so konzipiert, dass die Fahrgeräusche flüsterleise sind. Man hört nur von unten die Lurche friedlich schnarchen oder an seltenen Orchideen kauen. Ab und zu weht eine Dunstwolke durchs Gitter hoch, wenn eine Lurchenmutter für ihre Familie gerade die Kartoffeln aufsetzt.
Das Pferdchen jedenfalls ließ sich von mir willig dort entlang prügeln und witterte und schnaubte erregt. Es kannte natürlich nur die olle Bundesstraße weiter oben am Hang, die wir früher nehmen mussten, nicht jedoch diesen hypermodernen, schattigen Waldrandradweg mit Lurchkolonie. Wenn man tiefer in den dunklen Wald blickt, ahnt man, dass sich dort drinnen gruselige Dinge tun, moosige, ächzende Urgeschöpfe leben, die nicht zu unserem Raumzeitkontinum gehören, und schlafende Erlkönige, die bei unserer Vorbeifahrt kurz die Lider heben und wieder wegnippeln. Wir haben einmal, glaube ich, ein Feenwesen vorbeiflattern sehen, das uns genauer studierte, ehe es in Richtung Fluss abbog.
Pferdchen und ich erschreckten mit unseren 40 Sachen zwei Nordic-Walker und hatten unseren Spaß wie früher. An zwei dorfbekannten Rentern flogen wir vorbei wie ein geräuschreduzierter Jet im Tiefflug, und das obligatorische gegenseitige „Tach!“ verwehte der Fahrtwind.
Nur Pferdchens Sattel ist seitdem nicht weicher geworden, also tut mir jetzt ziemlich der Arsch weh. Und wenn ich’s mir recht überlege, habe ich auch verdammt schwere Beine.

Mittwoch, 9. Juli 2008

Pferdchen

Urlaub auf dem Lande. Während die Katze entseelt auf dem Wohnzimmerschrank schnarcht, bewegt sich Frauchen mit ihren Nordic-Walking-Stöcken in Richtung Nachbardorf. Sie will über den Rad/Wanderweg „bis zur Schule“, was allen Ernstes sechs Kilometer sind. Ich weise sie entsetzt darauf hin, dass sie auch zurück muss, wären also zwölf Kilometer. Zwar sind die Stöcke gut zur Verteidigung gegen Lustmolche, aber dennoch begleite ich sie vorsichtshalber. Eigentlich eher weniger wegen der Lustmolche, die es hier ohnehin nicht gibt, sondern weil ich selber Lust auf ein Experiment habe. Nach etwa 20 Jahren schwinge ich mich also erstmals wieder aufs Fahrrad. Aufs FAHRRAD!
Ich war ja früher ein echter Fanatiker und Rennrad-Raser, verbrachte Monate, wenn nicht Jahre mit Auskundschaften und Befahren der Straßen der Umgebung – immer so, dass man an einem Tag die Runde schaffte. Ich war es gewöhnt, stundenlang keiner Menschenseele zu begegnen. Als mir ein einziges Mal die Kette riss, war das lustigerweise direkt neben einem Fahrradladen. Ansonsten mied ich Ansiedlungen, weswegen ich bis heute niemals in der Stadt Rad gefahren bin. Da werde ich paranoid, verabscheue andere Radfahrer, Autos und Fußgänger. Ich brauche Ellenbogenfreiheit. Vereinsmäßig organisiert war ich auch nie, ein albernes Trikot habe ich nie getragen. Es waren nur das Pferdchen und ich.
Man glaubt es kaum, ich hatte damals dank des Pferdchens eine ziemlich gute Kondition und womöglich sogar die Ansätze von Beinmuskulatur.
Nur einmal bekam ich Angst, als ich in den Mesenicher Weinbergen eine extreme Steigung erklomm (ja, so was packte ich damals!) und dann wieder runter musste. Als ich mich umdrehte und das Gefälle sah, durchfuhr mich kurzzeitig der Gedanke, was wohl geschähe, wenn bei der Abfahrt ein Bautenzug reißt. Sowas wie Rücktritt kennt das Pferdchen ja nicht. Weil mir Leib und Leben damals noch lieb waren, stieg ich zur Bewältigung des Gefälles ab, das Pferdchen neben mir wieherte enttäuscht, aber ich ignorierte es.
Das Pferdchen war damals wie heute ein Motobecane-Straßenrennrad. Es läuft noch wie ein junges Füllen. Es steht im Keller des Elternhauses und musste heute nur aufgepumpt werden. Na ja, nicht ganz aufgepumpt. In diese Reifen sollen 8 atü oder so, und zu einer solchen Kraftanstrengung bin ich nicht mehr in der Lage. Aufgepumpt wurde einfach nur bis zum Reifenstatus „subjektiv bretthart“.
Die Lebensgefährtin schwang ihre HiTech-Stöcke made in Scandinavia, ich fuhr nebenher. Obwohl ich persönlich von Frauchens Tempo durchaus überrascht war, fand Pferdchen das natürlich nicht so toll. „Fuuußgänger!“, seufzte es und vollführte Bocksprünge. Ab und zu ließ ich ihm seinen Lauf, aber nach einem saftigen Spurt kehrten wir dann wieder zurück zu Frauchen, die unbeirrt von unseren Kapriolen ihren Rhythmus marschierte.
Tatsächlich schafften wir es bis zur Grundschule. Ich machte "Brrr!", wir verlangsamten und bewunderten die hübschen Bauernhäuser und Anwesen im Dorfkern, pausierten entspannt auf ein paar Sandsteinblöcken, umrundeten noch zu dritt die neue Sportanlage, ich gab dem Pferdchen am Fluss etwas zu saufen, dann traten wir gemächlich den Rückweg an. Zeitweise führte ich das Pferdchen zu Fuß am Zügel, und wir ließen uns von Rentnern auf alten Gurken und Großfamilien überholen. Das Pferdchen zuckte unruhig. „Ja, ja, ich weiß“, sagte ich zu ihm in unserer alten Telepathensprache, „du würdest die Luschen jetzt gerne erschrecken, indem du ohne vorheriges Klingeln mit vierzig Sachen an ihnen vorbeibretterst und Nachbilder auf ihren Netzhäuten erzeugst. So haben wir das früher gemacht, aber du hast lange im Keller gestanden und ich bin jetzt ein Forty-something. Außerdem können wir die Frau mit den Stöcken nicht allein hier in der Pampa zurücklassen.“ Es verstand meine Predigt und akzeptierte schnaubend.
Gegen Ende der zwölf Kilometer warf ich mich dann doch noch mal in den Sattel, ließ es flitzen und sogar – was mich eminent überraschte – zwei heftige Steigungen nehmen, in denen die meisten Forty-somethings erwiesenermaßen absteigen und schieben.
Yippie, morgen geht’s über den Radweg in die andere Richtung.

Freitag, 4. Juli 2008

Gerissene Strategie

Ich habe hier gerade eine Autorin, die ich an den Haaren fassen und mit dem Kopf gegen die Wand knallen möchte. Oder in den Allerwertesten treten. Meine dunkelsten, zittrigsten Phantasien kreisen gar um ein Erschießungskommando, das ich selbst befehlige.
Kann es sein, dass ich mich im Job emotional zu sehr engagiere?
Mag sein, aber ich fürchte, Gewalteinwirkung bringt nicht wirklich etwas, denn der Feind ist unsichtbar, dezentral organisiert und besteht sowieso nur aus Bits und Bytes.
Die Theorie ist nicht neu, die nämlich, dass es in Wirklichkeit immer weniger Schriftsteller gibt, vor allem in den USA, dafür aber immer smartere, vom Militär ausgetüftelte und von dort entflohene Künstliche Intelligenzen, die sich menschliche Pseudonyme geben und in Windeseile Textbausteine aneinander klammern. Die Elektronenhirne vernetzen sich zunehmend untereinander und übernehmen die Macht, Hinz und Kunz bleiben völlig ahnungslos und schlafen tief und fest, während ihr von fremden Mächten übernommener Radiowecker ihnen hypnotische Signale eingibt, was sie morgen in der Großbuchhandlung alles zu kaufen haben.
Eine KI prüft in Millisekunden zwei Millionen Bücher mit den höchsten Verkaufsrängen und streicht interessante Stellen an, eine weitere macht Cut-and-Paste, eine dritte verändert und vereinheitlicht die Namen, die nächste prüft großflächig auf Widersprüche. Die Kollegin lädt derweil eine Website hoch mit einer fingierten Autorinnenbiographie, bildmanipulierten Autorinnenfotos aus dem Phantombildgenerator sowie einem Blog. Die nächste KI betätigt sich als Rezensentin, gibt sich den Namen „Harriet Klausner“ und bespricht den ganzen Kram auf speziell dafür eingerichteten Plattformen immer nur positiv und mit voller Punktzahl. Und dann werden die Stapel an die kleinen proto-biologischen Leseroboter Hinz-73XC und Kunz-29OX ausgeliefert, die mit Hilfe unzähliger Trojaner und gekaperter Accounts bei Amazon.com fünf Sterne vergeben, Tag und Nacht.
Das Motiv für diese Unterwanderung? Ganz klar, Gutachter sollen in den Wahnsinn getrieben werden, damit es bald keine vorderste Frontlinie mehr gibt und die Menschheit komplett verdummt und bequem vom Planeten geschubst werden kann, bevor sie noch ein verständnisloses „Häh?“ zu äußern in der Lage ist.
Ausrottung durch Bücher, was für eine gerissene Strategie.


Mittwoch, 2. Juli 2008

Dachhase

Katzen nannte man früher auch schon mal "Dachhasen".
Im Nebenhaus wohnt einer, ganz oben. Durch eine Luke steigt er regelmäßig heraus und balanciert in knapp zwanzig Metern Höhe und ohne Netz durch die schmale Regenrinne rund ums Haus, vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Habe erstmal nachts vom Balkon aus nur einen flauschigen Schemen gesehen, von dem ich mir einbildete, dass er panisch miaut, es war aber wohl nur irgendein quietschendes Kind in einiger Entfernung. Ich unterließ also den Anruf bei der Tierrettung. Nee, der Dachhase miaut nicht, kennt keine Panik und keine Furcht, nur tagsüber starrt er fassungslos auf mich und meinem Balkon herab, als könnte er nicht glauben, dass so weit unten überhaupt noch Leben existiert. Ich habe ihm mehrfach mitgeteilt, dass er bitte vorsichtig sein soll da oben und dass, wenn er mir gehörte, ich gerade einen Herzanfall erleiden würde.

Dienstag, 1. Juli 2008

Verunfallt

Der schwerste Unfall, den ich hatte, war einer mit dem Fahrrad. Im Sommer, leicht bekleidet und natürlich völlig ohne jedweden Körperschutz wurde ich auf der Dorfstraße unsicher wegen eines Autos, das hinter mir fuhr und mich arg knapp überholte. Ich fuhr ganz rechts, nahezu in den Gully. Als der Wagen vorbei war, kam ich aus dieser Scheißrille nicht mehr heraus und legte mich scheppernd flach. Zuerst war ich etwas benommen, dann rappelte ich mich auf, schob das Rad zum nahen Bauernhof und machte während des Humpelns die Schadensanalyse am eigenen Fleisch.
Der Lenker, dessen Gummihandgriff schon vorher ramponiert war und durch den blankes Metall schimmerte, hatte sich neben dem Hüftknochen ins Fleisch gebohrt und war wieder rausgeflutscht. Es war ein richtig tiefer, ausgefranster Riss, ein echtes Loch. Die wenigen Leute die mich heute so weit nackisch zu sehen bekommen, denken, es sei eine Blinddarmnarbe. Nee, sage ich, da hatte ich einen kompletten Fahrradlenker im Leib, lange bevor in Carpenters Fürsten der Dunkelheit erstmals jemand im Film von einem Fahrrad durchbohrt wurde. Das haben die von mir geklaut.
Der Arm war lädiert und zerschrammt, und er schwoll zudem in rapidem Tempo an und ließ sich bald nicht mehr beugen. Man vermutete einen Bruch, aber es erwies sich im Krankenhaus bloß als mächtiger Bluterguss in Ellenbogennähe. Eine drollige Wunde gab es auch auf der Schulter, genau auf dem Knochen, der dort oben einen Hubbel verursacht. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, jedenfalls war dort die Haut bis zum Knochen abgeschrammt. Es war nicht rot, es war eklig gelb – der blanke Knochen schaute raus und grinste. Außerdem waren Knie und Oberschenkel ziemlich zerschrammt, im Gesicht schwoll das Auge zu und wurde blau. Mein Vater musste von einem Familienfest in Euren nach Hause gerufen werden, um mich ins Krankenhaus zu fahren.
Als ich aus der Ambulanz heimkehrte, sah ich aus wie ein Wrack. Überall Verbände und Jod. Irgendwie gefiel mir das, denn es war äußeres Zeichen dramatischer Begebenheiten, ein Signal dafür, dass man etwas durchlebt hatte, dass man verdammt noch mal ein Kerl war. Es existieren noch Fotos oder Dias von einem Familienausflug zur Burg Eltz, auf denen ich stolz mit diesem Ambulanz-Equipment zu sehen bin. Dann fragen immer alle: „Warste im Kriech?“ Sag ich: „Yep."
Zweiter Unfall. Ich ziehe im Laufschritt meinen kleinen Bruder oder irgendwen sonst auf einem Schlitten die Straße herab. Einen Schlitten … die Straße … herab … ziehen. Ziemlich blöde Idee, die nicht gerade von physikalischem Instinkt zeugt. Es kommt, wie es kommen muss. Der Schlitten ist bald sehr viel schneller als ich, ich lasse ihn jedoch nicht los, er brettert mir in die Hacken, und ich rutsche aus. Wer hätte auch ahnen können, dass es auf Schnee glatt ist? Pralle mit dem Kopf gegen Nachbars Mäuerchen, reiße mir die Wange auf, von unterm Auge bis ans Kinn. Buchstäblich knapp am Kieferbruch vorbeigeschrammt. Es blutete wie verrückt, und es kam erstmals eines von diesen Spraypflastern zum Einsatz. Ich sah zwei Wochen lang aus wie ein Stammgast von Captain Blackbeard’s Spukkaschemme, aber es blieb nicht mal eine Narbe. Kann also so schlimm nicht gewesen sein.