Mittwoch, 9. Juli 2008

Pferdchen

Urlaub auf dem Lande. Während die Katze entseelt auf dem Wohnzimmerschrank schnarcht, bewegt sich Frauchen mit ihren Nordic-Walking-Stöcken in Richtung Nachbardorf. Sie will über den Rad/Wanderweg „bis zur Schule“, was allen Ernstes sechs Kilometer sind. Ich weise sie entsetzt darauf hin, dass sie auch zurück muss, wären also zwölf Kilometer. Zwar sind die Stöcke gut zur Verteidigung gegen Lustmolche, aber dennoch begleite ich sie vorsichtshalber. Eigentlich eher weniger wegen der Lustmolche, die es hier ohnehin nicht gibt, sondern weil ich selber Lust auf ein Experiment habe. Nach etwa 20 Jahren schwinge ich mich also erstmals wieder aufs Fahrrad. Aufs FAHRRAD!
Ich war ja früher ein echter Fanatiker und Rennrad-Raser, verbrachte Monate, wenn nicht Jahre mit Auskundschaften und Befahren der Straßen der Umgebung – immer so, dass man an einem Tag die Runde schaffte. Ich war es gewöhnt, stundenlang keiner Menschenseele zu begegnen. Als mir ein einziges Mal die Kette riss, war das lustigerweise direkt neben einem Fahrradladen. Ansonsten mied ich Ansiedlungen, weswegen ich bis heute niemals in der Stadt Rad gefahren bin. Da werde ich paranoid, verabscheue andere Radfahrer, Autos und Fußgänger. Ich brauche Ellenbogenfreiheit. Vereinsmäßig organisiert war ich auch nie, ein albernes Trikot habe ich nie getragen. Es waren nur das Pferdchen und ich.
Man glaubt es kaum, ich hatte damals dank des Pferdchens eine ziemlich gute Kondition und womöglich sogar die Ansätze von Beinmuskulatur.
Nur einmal bekam ich Angst, als ich in den Mesenicher Weinbergen eine extreme Steigung erklomm (ja, so was packte ich damals!) und dann wieder runter musste. Als ich mich umdrehte und das Gefälle sah, durchfuhr mich kurzzeitig der Gedanke, was wohl geschähe, wenn bei der Abfahrt ein Bautenzug reißt. Sowas wie Rücktritt kennt das Pferdchen ja nicht. Weil mir Leib und Leben damals noch lieb waren, stieg ich zur Bewältigung des Gefälles ab, das Pferdchen neben mir wieherte enttäuscht, aber ich ignorierte es.
Das Pferdchen war damals wie heute ein Motobecane-Straßenrennrad. Es läuft noch wie ein junges Füllen. Es steht im Keller des Elternhauses und musste heute nur aufgepumpt werden. Na ja, nicht ganz aufgepumpt. In diese Reifen sollen 8 atü oder so, und zu einer solchen Kraftanstrengung bin ich nicht mehr in der Lage. Aufgepumpt wurde einfach nur bis zum Reifenstatus „subjektiv bretthart“.
Die Lebensgefährtin schwang ihre HiTech-Stöcke made in Scandinavia, ich fuhr nebenher. Obwohl ich persönlich von Frauchens Tempo durchaus überrascht war, fand Pferdchen das natürlich nicht so toll. „Fuuußgänger!“, seufzte es und vollführte Bocksprünge. Ab und zu ließ ich ihm seinen Lauf, aber nach einem saftigen Spurt kehrten wir dann wieder zurück zu Frauchen, die unbeirrt von unseren Kapriolen ihren Rhythmus marschierte.
Tatsächlich schafften wir es bis zur Grundschule. Ich machte "Brrr!", wir verlangsamten und bewunderten die hübschen Bauernhäuser und Anwesen im Dorfkern, pausierten entspannt auf ein paar Sandsteinblöcken, umrundeten noch zu dritt die neue Sportanlage, ich gab dem Pferdchen am Fluss etwas zu saufen, dann traten wir gemächlich den Rückweg an. Zeitweise führte ich das Pferdchen zu Fuß am Zügel, und wir ließen uns von Rentnern auf alten Gurken und Großfamilien überholen. Das Pferdchen zuckte unruhig. „Ja, ja, ich weiß“, sagte ich zu ihm in unserer alten Telepathensprache, „du würdest die Luschen jetzt gerne erschrecken, indem du ohne vorheriges Klingeln mit vierzig Sachen an ihnen vorbeibretterst und Nachbilder auf ihren Netzhäuten erzeugst. So haben wir das früher gemacht, aber du hast lange im Keller gestanden und ich bin jetzt ein Forty-something. Außerdem können wir die Frau mit den Stöcken nicht allein hier in der Pampa zurücklassen.“ Es verstand meine Predigt und akzeptierte schnaubend.
Gegen Ende der zwölf Kilometer warf ich mich dann doch noch mal in den Sattel, ließ es flitzen und sogar – was mich eminent überraschte – zwei heftige Steigungen nehmen, in denen die meisten Forty-somethings erwiesenermaßen absteigen und schieben.
Yippie, morgen geht’s über den Radweg in die andere Richtung.