Sonntag, 29. Juni 2008

Hochwasser


Eines der aufregendsten Ereignisse war das Hochwasser. Schneeschmelze in Ardennen und Eifel, dazu ein paar ergiebige Regenfälle, fertig war die Flutwelle. Nun ja, nicht von Roland Emmerich inszeniert, sondern langsam und behäbig, aber auf dem Höhepunkt ganz schön drastisch. Die Häuser im unteren Dorf soffen ab. Wir wohnten weiter oben, und als Kind waren mir die Flutopfer eigentlich ziemlich schnurz, denn ich musste dringend die Gummistiefel anziehen und eigene Bekanntschaft mit dem Ungeheuer schließen.
Der Fluss war bald fünfmal so breit wie sonst, ergoss seine braunen Massen über Auen, Äcker und Wiesen und schuf Seenplatten, in denen Strömungen und Strudel herrschten und die den Fluss sogar aufs Zehn- oder Fünfzehnfache seiner Größe anschwellen ließen. Von den steinernen Staumauern und Fischtreppen war bald nichts mehr zu sehen außer einem Gekräusel an der Oberfläche, aber auch das verschwand, je höher das Wasser stieg. In unmittelbarer Nähe war der Fluss sehr laut, besonders im unteren Dorf, wo der Schall vom gegenüberliegenden Luxemburger Waldhang zurückgeworfen wurde. Das idyllische Tal wurde zum Ungeheuer. Die Landschaft hatte sich drastisch verändert, Land war Wasser, die Relationen stimmten nicht mehr. Die begehbare Welt war kleiner geworden, unsicherer, zugleich hatte sich jedoch etwas faszinierend Großes über sie gelegt. Man kannte dieses Wasser ja eigentlich, es war einem normalerweise freundlich gesonnen, aber dass es sich plötzlich so aufplustern und brüllen konnte und sich dabei so schnell bewegte … irritierend. Alles war durcheinander, ordnungslos.
Weiter draußen, wo die Strömung herrschte, sah es richtig gefährlich aus, tödlich sogar. Eine Menge großer Dinge schwammen da in der Entfernung vorbei. Es hätten Ungeheuer sein können oder Tierkadaver oder ertrunkene Menschen. Häusertrümmer, Autos, Wohnwagen von den Campingplätzen flussaufwärts. Ich nahm das Fernglas mit, identifizierte aber immer nur Baumstämme oder große Plastikteile. Bäume in Ufernähe ächzten unter den Wellen, Enten und Schwäne schwammen stoisch an Stellen, an denen sonst Menschen spazieren gingen und das Idyll genossen. Dutzende von Habichten saßen auf den Bäumen in Wassernähe und inspizierten aufmerksam die Gegend, denn Heerscharen von Mäusen und Ratten taumelten gerade aus ihren überfluteten Gängen – das Tosen des Flusses war die Essensglocke für Raubvögel.
Wirklich faszinierend wurde es jedoch dann, wenn das Wasser zurückging. Ich weiß nicht, wie viele Stunden der Kindheit ich damit verbracht habe, einsam am Ufer entlangzuwandern, den Blick immer auf den Boden gerichtet. Der Fluss hatte die Angewohnheit, eigenartige Dinge mitzubringen und dazulassen. Mit quatschenden Gummistiefeln ging es durch vom Wasser gesättigtes Erdreich, ein bisschen wie Wattwandern, nur dass alle paar Meter spannende Dinge glitzerten. Einmal fand ich einen Dolch, einen Hirschfänger komplett mit Lederscheide. Nicht so ein Kinderding vom Rummel, sondern ein echtes Jagdmesser mit brisanter Sägezahnung am oberen Klingenrand. Dann waren da diese total seltsamen WÜRFEL. Viele, viele gleichförmige Würfel mit knapp zehn Zentimetern Kantenlänge, von brauner Farbe und aus einem geheimnisvollen Material, das irgendwie ein Mittelding aus Steckschaum und bröseligem Holz zu sein schien, jedenfalls schwimmfähig. Die Dinger lagen überall herum und gaben mir Rätsel auf. Wo kamen die her? Es gab damals noch kein Star Trek – The Next Generation, sonst hätte ich den Einfluss von Borgs vermutet. Miniatur-Borg-Schiffe haben weiter oben am Fluss eine Invasion versucht und sind kläglich ertrunken, mit all den kleinen Cyborgs drin. Erst groß herumtönen von „Widerstand ist zwecklos“ und dann in einem Provinzfluss ersaufen.Idioten. Später klärte mich ein Erwachsener darüber auf, dass die Würfel wahrscheinlich aus dem Monsanto-Werk bei Echternach kamen. Welchem Zweck sie bei Monsanto dienten, blieb allerdings verborgen. Vermutlich waren sie das Ergebnis von frühen Gen-Experimenten an holländischen Tomaten.
Zwischen dem Konkreten und dem Wunderlichen ging die Phantasie auf Reisen, und als ich mal neben einem zertrümmertem Klohäuschen stand, wurde daraus die Fluchtkapsel eines Raumschiffs und daraus wiederum eine siebenseitige Geschichte über einen Jungen, der beim Stöbern in Hochwasser-Überbleibseln einen gleichaltrigen Jungen vom Planeten Tunguska oder so findet, der ein Prinz ist und vor Oppositionellen auf der Flucht. Dann ist er zur Erde gesaust (versehentlich), in den Fluss geplumpst (versehentlich) und wird von unserem irdischen Helden entdeckt, der mit ihm zusammen gegen die Oppositionellen Putschisten antritt, die ihm an den Pelz wollen. Diese Geschichte war die direkte Folge des Genusses zu vieler Bücher aus dem Schneider Verlag. (Kann irgendwer mein Glück fassen, als ein, zwei Jahre später ausgerechnet bei uns dieser Film mit dem Titel Jan vom goldenen Stern gedreht wurde, in dem es darum geht, dass ein außerirdischer Prinzenknabe aus Versehen bei uns aufschlägt und viele Abenteuer erlebt? Mannomann!)
Ich tat bei den Strandräuber-Ausflügen auch etwas für die Natur. Nachdem das Wasser sich zurückgezogen hatte, entstanden isolierte Teiche und Pfützen auf den Äckern, und darin schwammen immer mal wieder Fische, die keine Chance hatten zu überleben. Ich sammelte sie auf, was nicht einfach war bei den zappelnden Viechern, trug sie zum Fluss und warf sie hinein. Manche schwammen jedoch auch schon mit dem Bauch nach oben – vermutlich zu wenig Sauerstoff in ihrer Pfütze oder zu viele geheime Zusatzstoffe von Monsanto. Einen, der tot war, habe ich spaßeshalber mit meinem neuen Hirschfänger seziert.
Natur und Unnatur gleich nebeneinander oder miteinander verknäult. Abgerissene Äste und Plastikplanen, Schuhe, tote Kleintiere, Schüsseln, Kisten, Matratzen, Schlitten, Muscheln, Ruderboote, Reifen, Radios, Feuerzeuge, einmal ein Wählscheiben-Telefon ohne Hörer, Rinderschädel, Schweineschädel, Markisen – eine Menge Zeug eben.
Als der Fluss wieder normal war, reinigten die Bauern ihr Land, manchmal lag das Zeug aber auch noch Äonen herum, trocknete im Sommer und verrottete oder zerbröselte. Ich wünsche es den betroffenen Menschen gewiss nicht, aber wenn heute so ein richtig fettes Hochwasser käme, würde ich glatt extra deswegen hinfahren, um das noch mal zu erleben. Vielleicht würde ich dann endlich die erste Campingurlauberleiche finden. Den außerirdischen Prinzen würde ich heute jedoch eher der Polizei übergeben, damit sie erst mal seine Personalien ermittelt.

Freitag, 27. Juni 2008

Bahndamm

Die allerälteste Erinnerung: Ich befinde mich im Wohnzimmer von Tante Nini und Onkel Klaus. Jemand trägt mich auf dem Arm, einer von den beiden oder einer meiner Eltern, die ebenfalls anwesend sind. Sie alle deuten aufgeregt durch das große Fenster im ersten Stock auf den Bahndamm etwa siebzig Meter entfernt, wo just in diesem Moment eine gewaltige schwarze Dampflokomotive angeschnaubt kommt, auf Schritttempo verlangsamt und in den kleinen Bahnhof einfährt.
Die Strecke wurde 1969 stillgelegt, es muss also vorher gewesen sein. So romantisch waren die Zeiten damals schon nicht mehr, und auf der Strecke fuhren hauptsächlich die dunkelroten Schienenbusse, die man damals noch „Triebwagen“ nannte. Güterzüge, die vornehmlich Holz transportierten, wurden meistens schon von Dieselloks gezogen. Eventuell absolvierte diese mächtige Dampflok eine feierliche Abschlussfahrt, bevor die Strecke dichtgemacht wurde, was auch erklären würde, warum die Erwachsenen so aufgeregt waren. So ein Ding sahen sie auch nicht mehr alle Tage. Ich wäre da etwa zweieinhalb Jahre alt gewesen.
Die zweite Erinnerung: Ein riesengroßes gelbes Ungeheuer scheint schräg über dem Bauernhof meines Opas Metall aus dem Boden zu reißen und macht dabei ziemlichen Lärm. Ich habe Angst davor und werde von einer meiner Cousinen beruhigt. Von einem Mädchen, herrje! Es war ein Schienenkran der Streckendemontierer, der losgeschraubte Schienen anhob und auf seine Ladefläche hievte. Die Strecke verlief direkt neben dem Bauernhof, mittels Erdreich und Mauerung etwa auf Höhe des ersten Stocks angehoben, und sofort darauf folgte die Brücke, mittels derer die Züge die Dorfstraße überquerten. Zwischen der Seitenwand des Hauses und der Bahnmauer war gerade mal ein mannbreiter, dunkler Durchgang zu Silo, Ställen und Wiesen, in dem es irre STILL war.
Dieser Bahndamm stand noch lange und wuchs zu, eigentlich bis heute, nur im Dorfkern wurde er abgetragen, über die Länge des Bauernhofs. Die nutzlose Brücke mit ihren rostigen Eisengeländern, Spielplatz für eine Generation unvorsichtiger Dorfkinder, wurde schließlich im Rahmen einer Dorferneuerung gesprengt. Wir mussten damals alle hinter dickes Mauerwerk und die Köpfe einziehen. Weiter hinten, auf Höhe des Sportplatzes, nahmen wir die Hecken in Besitz, bauten Höhlen und machten Liebe bis zur Besinnungslosigkeit. Nein, machten wir nicht. Wir hockten auf jungen Bäumen, unternahmen Experimente mit geklauten Filterzigaretten, imitierten im Gedenken an die Bahnstrecke Lokomotivgeräusche und tauschten Panini-Bildchen von Günter Netzer und Wolfgang Overath aus. Es war vermutlich gerade 1974.

Donnerstag, 26. Juni 2008

Speiseplan


Mir liegen dauernd Gerichte auf der Zunge, die ich, wie mir immer wieder auffällt, nach dem Tod meiner Mutter nie wieder essen werde, weil niemand mehr da ist, der sie einem zubereitet. Natürlich gibt es Myriaden von Dingen, die vermisst werden, nachdem ein vertrauter Mensch „heimgegangen“ ist, aber die sind zumeist persönlicher Natur und haben auf einem Weblog und im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Aber übers Essen vergangener Tage darf man reden und es verherrlichen. Es wäre im Sinne meiner Mutter.
Man könnte sich selbst an den Speisen versuchen, aber natürlich kriegt man sie nie so hin. Es gab in Kindheit und Jugend eine Art lockeren Speiseplan mit Standardgerichten, die zum Teil zurückgingen auf alte katholische Bauern-Zeitpläne und sich natürlich auf eigene Schlachtung stützten. Ganz früher kam das Fleisch schon mal direkt vom Bauernhof und von Mutters Vater und Bruder, später dann immerhin vom lokalen Metzger, für den man die Hand ins Feuer legte. Er bevorzugte einfache Wurstsorten, jenseits von „Kräutern der Provence“ oder toskanischem Pipifax. Bei Schlachtungen schauten wir zu, denn sie fanden mitten im Dorf statt, nicht im sicht- und schallgeschützten Kämmerlein und durchgeführt von anonymen polnischen Schlachtgesellen. Das Krachen des Bolzenschussgeräts hallt mir manchmal noch in den Ohren. Bis zuletzt schlachtete der Cousin meiner Mutter vor Weihnachten seine Kaninchen mittels Genickbruch und brachte sie in einer Plastikschüssel vorbei. Immerhin war der Kopf schon ab.
Freitags gab’s Fisch, klar, in früheren Jahren von Nachbarn oder Verwandten noch selbst im Fluss gefangen. Die Erbsen und das meiste andere Gemüse kamen aus dem eigenen Garten. Die Erbsen waren die besten der Welt. Wir Kinder haben beim Pellen geholfen und sie mengenweise roh aus den Schalen gegessen. Salat wurde zum Teil von der Wiese aufgelesen. „Mausohren“ heißen draußen in der Welt „Rapunzeln“ und kosten da allen Ernstes Geld, genauso wie all das Obst, das bei uns einfach so an den Bäumen und Sträuchern hing. Augustäpfel von der Pfarrwiese, Kirschen aus Nachbars Garten. Und natürlich die Unmengen von Brombeeren, die die Dorffrauen zur Herstellung von Marmelade und mit Unterstützung der Kinder eimerweise selbst pflückten und sich dazu tief ins Gebüsch wagten, um sich die Bauernfrauenhände zu zerstechen. Wir Kinder sahen danach noch lädierter aus.
Samstags gab es traditionelles Arme-Leute-Essen, weil der Bauer an und für sich ja sonntags zum Lob des Herrn richtig zulangte. Es gab an Samstagen oft etwas, das man bei uns „Kniedeln“ nennt, eine Dialektform von Knödel, jedoch sind es keine Knödel, sondern eine aus Mehl und Eiern gefertigte Pampe, die löffelweise ins heiße Wasserbad kommt und sich zu Klumpen verfestigt. Ähnlich wie Spätzle, aber in Klumpenform und fester in der Konsistenz. Dann noch zerlassene Butter, angebratenen Speck und Maggi drüber, und die sättigende Armenspeisung ist fertig. Meine Oma väterlicherseits hat diese Dinger auf eine Art hinbekommen, die unübertrefflich war. Irgendetwas hat sie reingemischt, von dem niemand sonst was wusste. Das Geheimnis hat sie ihrerseits mit ins Grab genommen.
Das zweite Samstagessen war „Rauchfleisch“. Draußen in der Welt nennt man es geräucherten Bauchspeck. Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Sauerkraut hieß „Kappes“, Rotkohl hieß „roter Kappes“. Oder es gab simpelste und schmackhafteste Pellkartoffeln: Salz, Butter, Maggi drauf. Irre. Ich würde deren Konsistenz nie so hinbekommen. Sonntags gab es Braten, an hohen Festtagen wie Weihnachten und Ostern und Erstkommunion ein Vier-Gänge-Menü mit Suppe, Vorspeise, Hauptgang und Dessert. Es war immer das Gleiche, und genau so sollte es auch bitteschön sein. Die Vorspeise hieß bei uns „gekochtes Rindfleisch“. Ich bekam erst später heraus, dass man es draußen in der Welt als Tafelspitz bezeichnet. Es sind weitere schmackhafte Standardessen wie Rouladen und Koteletts zu nennen. Werde ich alles so nie wieder essen. Windbeutel. Hmm. Der zu Weihnachten selbst geräucherte riesige Schinken, der beste der Welt, den man im freien Handel gar nicht bekommt, und wenn doch, dann kostet er ein Vermögen.
Bin als Dorfchauvi eben immer bekocht worden. Heute gibt’s zwischen den ganzen Buchstabenvernichtungsaufträgen Tiefkühlschiss aus dem Plus. Wir sind nun mal hier keine großartigen Köche, nicht mal Hobby-Brutzler, und müssen uns dieser Tatsache schon seit langen Jahren stellen. Zudem gibt es natürlich gewisse naturgegebene Geschmacksunterschiede. Die Lebensgefährtin würde eher vom Balkon springen, als „Rauchfleisch“ zu essen.

Mittwoch, 25. Juni 2008

Schlafmusik

Die Lebensgefährtin hört beim Aufräumen gerade Norah Jones. Ich komme mir vor wie Grandpa Simpson: schlafe im Stehen ein, während ich darauf warte, dass in dieser Musik IRGENDETWAS passiert. Norah Jones = ein als Musik missverstandenes Sedativ. Wie können Frauen dabei wach bleiben?

Dienstag, 24. Juni 2008

Bus

Nachdem die Bahnlinie, die unser Tal mit dem Rest der Welt verband, stillgelegt worden war (so um 1969), unterhielt die Bundesbahn eine Buslinie. Einheitlich dunkelrote Busse übernahmen mit mehreren Fahrten am Tag die ÖPNV-Verbindung. Mittags fuhren sie gehäuft, wegen der Schulkinder. Die Fahrt von der Stadt bis aufs Dorf dauerte beinahe eine Stunde. Tag für Tag, insgesamt neun Jahre lang in meinem Fall. Nicht unbeträchtliche Teile der Pubertät spielten sich im Bus ab, hauptsächlich in dem 13-Uhr-20er, den man nach der fünften oder sechsten Stunde nehmen musste, um nach Hause zu gelangen.
Es war die Zeit nach der Kindheit, in der man nicht mehr zwangsläufig die Nachmittage miteinander verbrachte und unberührt von hormonellen Einflüssen dem fröhlichen Räuberbandendasein huldigte. Es gab eine Menge Hausaufgaben zu erledigen, es gab Nachmittagsunterricht, der einen von gemeinsamen Aktivitäten fernhielt, es gab vor allem neue Interessen und Cliquenbildungen und ein generelles Ausfasern der ehemals engen Kinderbeziehungen. Die Wege trennten sich so langsam.
Außer im Bus. Dort trafen sich alle wieder, zumindest die Realschüler und Gymnasiasten, die in der großen Stadt zur Schule gingen. Inzwischen hatten sich auch zart die Hormone gemeldet, und dem Jungen war aufgefallen, dass manches Mädchen, das er früher nie als solches wahrgenommen hatte, nun wahrgenommen werden wollte und sollte. Als viel reizvoller erwiesen sich jedoch diejenigen, mit denen man nicht aufgewachsen war und die einem im Bus überhaupt zum ersten Mal begegneten und dann immer wieder, weil eben stets dieselben Gesichter mit eben diesem Bus auf eben dieser Route zu eben dieser Zeit fuhren. Die anderen, die in Nachbardörfern oder sonstwo an der Busroute wohnten und vor oder nach einem selbst ausstiegen und an die man sich automatisch gewöhnte. Es war eine eigene Mikro-Gesellschaft, die sich da entwickelte. Sie wurde einem schnell vertraut, blieb aber doch dynamisch, weil es immer Neuzugänge und Abgänge gab.
Ich erinnere mich an die stille junge Dame, die ein wenig älter wirkte als wir, niemanden kannte im Bus, völlig ohne Anschluss blieb und diesen offenbar auch nicht wirklich wollte. Sie las exzessiv und kaute Lakritz. Jahr um Jahr. Einmal saß ich zufällig neben ihr, und sie bot mir vom Lakritz an. Ich weiß nicht mehr, ob ich eins nahm, sehr wohl weiß ich aber, dass ich damals, eventuell mit vierzehn oder fünfzehn, zu schüchtern war, um aus dieser kleinen Geste etwas zu machen. Nein, mit vierzehn dachte der Dorfknabe noch nicht an das eine, aber man hätte sich ja mal kennenlernen können. Aus der Retrospektive war die junge Dame womöglich die interessanteste unter der Bus-Stammkundschaft. Lange, braune Haare, geschmackvoll ökig, an die Titel der Bücher, die sie las, erinnere ich mich nicht mehr, aber ich bilde mir ein, dass es keine Cora-Hefte waren, sondern mehr so Hesse oder Salinger. Vielleicht las sie sie sogar freiwillig und nicht bloß als Schullektüre.
Die alten Bindungen zu den Dorffreunden waren aber noch da und wurden ein bisschen zum Problem, wenn es um das Knüpfen neuer Kontakte ging. Man hing ständig in drei, vier Sitzreihen auf einem Knubbel, quatschte sich dumm und dämlich und schloss dabei andere aus, deren Bekanntschaft vielleicht reizvoller gewesen wäre, neu und aufregend. Frisches Blut, neue Freunde, mit denen man in die postpubertäre Ära hätte hinüberdriften können, die ein bisschen außenseiterisch veranlagt waren wie man selbst und immer an der Peripherie der Sinneswahrnehmungen existierten, zwei, drei Sitzreihen weiter hinten oder vorne, wie die Lakritz-Kauerin. Aber der Gruppenzwang verhinderte diese Annäherungen, lediglich der Zufall konnte das bewerkstelligen, wenn zum Beispiel mal kein Platz mehr frei war neben den Kindheitskumpels. Ich hatte damals einen Freund, mit dem ich so gut wie immer zusammensaß. Während der Fahrt referierten wir uns ständig gegenseitig Filme, die wir gerade gesehen hatten, oder Bücher, die wir gelesen hatten. Wir waren, glaube ich, im Bus ziemlich berüchtigt wegen unseres Dampfplauderns. Dorf-Intellektuelle im Werden, ein furchtbares Paar. Es war nicht ganz einfach, sich aus dieser Bindung zu lösen, um sich beispielsweise einfach mal neben eine(n) andere(n) zu setzen. Es war Routine, und ein Durchbrechen derselben hätte für einige Irritation gesorgt in der Mikro-Gesellschaft des Busses. Der sitzt doch immer neben dem, warum sitzt er jetzt neben dem Mädchen da und redet mit der? Gab es Streit? Ist da was im Busch? So etwas wollte und konnte man damals einfach nicht zugeben, denn es war nicht cool.
Ich geriet später an diese wirklich sehr nette junge Dame aus dem Nachbardorf. Nach acht Jahren coolen gegenseitigen Ignorierens hatte ich plötzlich eine neue Buspartnerin. Eine hübsche, dunkelhaarige Gymnasiastin mit literarischen Interessen und einem schönen Lachen. Wer hätte das gedacht? Schließlich setzten wir uns wie selbstverständlich jeden Mittag zusammen und kündeten davon, wie es uns in der Schule ergangen war: „Schatz, wie war dein Tag?“
Dieser Kontakt entstand allerdings zu spät, die Wege trennten sich wieder und führten an unterschiedliche Gestade. Irgendwann, ziemlich bald sogar, war nämlich alles vorbei. Das Abitur war absolviert, der Bus fuhr nicht mehr für uns. Wir waren ihm entwachsen. Eine Zeitlang habe ich ihn echt vermisst.
Viele Jahre später sah ich meine Kurzzeit-Buspartnerin mal auf dem Supermarkt-Parkplatz, wie sie ihre Einkäufe und ihre zwei Kinder ins Auto hob. Ich sprach sie nicht an, das hätte sie womöglich irritiert.

Montag, 23. Juni 2008

Lob dem Objekt

Seit fast zehn Jahren hatte ich keine Probleme mehr mit ihm, aber jetzt ist er wieder da! Die Geißel der Menschheit, der Lebensqualitätsruinierer, der Terrorwicht.
Er, der Ohrschmalzpfropfen. Ich bin halbseitig taub wie ein Pfahl, Druck im Ohr, Pfeifen und Gluckern. Alle Menschen scheinen Fische zu sein. Mund auf, Mund zu, aber es kommt nix raus. Zumindest nichts, was ich hören könnte. Ich möchte mich am liebsten vor einen Zug werfen.
Es hat wenig mit mangelnder Hygiene zu tun, sondern mit erhöhter Ohrschmalzproduktion, bei einigen Betroffenen wohl auch mit verengten Gehörgängen. Früher ging ich alle zwei Jahre zum HNO-Arzt, der weichte ihn auf und zog ihn raus, den elenden Wicht. Inzwischen kriegt man in der Apotheke einige Mittelchen, die das Aufweichen übernehmen sollen. Diesmal will ich so ein Mittelchen probieren, zu dem es im Internet widersprüchliche Reaktionen zu lesen gibt.
Apothekerin sagt: „Bringt nix, das Zeug!“ Und wenn die das schon sagt, schließlich will sie ja meine Kohle …
Sag ich: „Ich nehm’s trotzdem mal mit, gute Frau.“
Überreicht wird mir ein Fläschchen mit Tropfen, die zehn Minuten im Ohr bleiben sollen, um den Pfropf aufzuweichen. Überreicht wird mir ebenfalls das lustige Gummiobjekt, eine Ohrenspritze, die man mittels Unterdruck mit lauwarmem Wasser füllt, um nach Ablauf der Wirkzeit mit einem beherzten Quetschen des Balgs den Gehörgang zu fluten. Gesagt, getan. Kopf schräg übers Waschbecken gehalten und FLUUUUUTTEEN. Schönes Gefühl, aber es tut sich nichts! Wasser spritzt raus. Nach wie vor taub wie ein Pfahl, jetzt sogar noch tauber, weil zusätzlich ein Hektoliter Wasser im Gehör verblieben ist und schwapptschwapptschwappt. Noch ein Versuch. Nichts. Seufzend das Internet aufblättern wegen Suchanfrage „HNO+köln+südstadt“, vorher aber noch schnell einen letzten Versuch mit der lustigen Spritze. Kabautz. Schwemm. Saus. Un-fass-bar! Freiheit, dein süßer Klang! Welt, bist du das, die da so lieblich zwitschert? Der Gehörgang ist auf einen Schlag so frei wie seit Jahren nicht mehr. Woran lag’s? Blöder Fehler: Man darf beim Fluten den Kopf nicht 90 Grad übers Waschbecken hängen, sondern muss ihn gerade halten. Andernfalls saust das Wasser nach oben, plätschert aus der Gummispritze wirkungslos gegen den Pfropf und läuft einfach ab. Bei gerader Kopfhaltung hingegen brettert der Strahl mit gehörig Druck durchs Gehör und sprengt es förmlich frei. Gepriesen sei die Ohrspritze. Vielleicht kann man sie auch mal verwenden, um die Katze durch die Bude zu jagen, oder sie dem Nachbarn ausleihen, wenn er nach Sex-Spielzeug fragt. Ich will sie aber wiederhaben, gewaschen.

Audiobook

1986, zwei Jahre vor seinem Tod, hat Robert Calvert seinen Gedichtband Centigrade 232 von 1977 auf Tapes gelesen, verhältnismäßig ruhig und sensibel, wenig exaltiert. HW-Kopf Dave Brock hat ab etwa 2004 einige dieser Aufnahmen mit Soundscapes unterlegt. Zwei der Tracks waren als Pröbchen auf dem HW-Mini-Album Take Me To Your Future enthalten. Das komplette Album The Brock/Calvert Project erschien 2007, skandalöserweise jedoch nur als limitierte Edition mit 500 oder 1000 Exemplaren, die Angaben variieren. Es ist offenbar ausverkauft, obwohl immer noch die Promotion-Seite im Netz steht. Zu beziehen war es lediglich über die Plattenfirma Voiceprint, nie über den Handel. Es ist lobenswert, Calverts phänomenale Lyrik der Vergessenheit zu entreißen, aber warum nur so halbherzig?
Das etwas andere Audiobook. Die Stimme eines Toten fabriziert Lyrik, die surrt und knattert und wummert und tanzt. Gut gelungen.

Freitag, 20. Juni 2008

Meg

Noch so ein Mädel, in das man sich als Heranwachsender in den frühen 80ern vergucken konnte. Allerdings nur kurz, weil Meg Tilly erst recht spät im Kino auftauchte und zu dieser Zeit die „echten“ Mädchen ihr den Rang abliefen. Erstmals fiel sie mir auf in Psycho II.
Meg ist die Schwester der weitaus exaltierteren Jennifer Tilly, und was mich an ihr anzog, war ihre Mädchen-von-nebenan-Attraktivität, die ruhige, schüchterne Art, der melancholische Blick aus leicht geschlitzten Mandelaugen, der völlige Unschuld signalisiert und dann unerwartet ins erotisch Interessierte hinüberflackert. Irgendwie wollte man sie beschützen, um dann - später - dafür eventuell von ihr belohnt zu werden. Eventuell, weil sie oft so unterschwellig neurotisch wirkte, dass man nicht sicher sein konnte, ob das überhaupt länger als zwei Wochen gutging. Eine reizvolle Tiefe, in der man jedoch ebenso gut jämmerlich absaufen konnte. Die Gefahren der Sensibilität.
In einem kruden Film wie Psycho II ist sie noch eine Funktionsfigur, die ihren Dienst ableistet, zudem reichlich burschikos. Richtig ausdrucksstark wird sie in Der große Frust, Das Mädchen auf der Schaukel, Masquerade (heute im TV, deswegen denke ich gerade dran), Valmont und Body Snatchers. Für den Nonnenfilm Agnes – Engel im Feuer erhielt sie eine Oscar-Nominierung, aber den Streifen habe ich mir bis heute nicht angeschaut, wahrscheinlich, weil ich Meg nicht ausgerechnet als Nonne sehen wollte.
Mitte der Neunziger hat Meg Tilly die Schauspielerei an den Nagel gehängt, um sich den Kids und dem Schreiben zu widmen. Keine Ahnung, ob ihre Bücher etwas taugen. Offenbar fabriziert sie ernste Jugendliteratur über traumatische Erfahrungen. Irgendwie hätte ich auch nichts anderes erwartet. Hier ihre Website nebst angeschlossenem Blog. Von Schauspielerei ist darin keine Rede mehr.

Montag, 16. Juni 2008

Brille

Hurra, nach acht Jahren endlich mal dazu gekommen, eine neue Brille zu ordern. Ein Wechsel von den ovalen Gläsern zu den abgerundet rechteckigen, die heute verbreitet sind. Ansonsten kein großer Unterschied beim Gestell, außer dass es 80 € billiger ist als das alte, und das bei der Inflation.
Ich gehöre offenbar zu der verhältnismäßig seltenen Sorte Mensch, deren schiefe Augen im Alter langsam besser werden, weswegen nach einigen Jahren die Werte nicht mehr stimmen. Der Optiker war etwas verwirrt, als er beim Sehtest bemerkte, dass die Werte der aktuellen Brille deutlich zu stark waren, vor allem die des rechten Auges. Im Jahr 2000 und bei der Anfertigung der (noch) aktuellen Brille war das auch schon so: Stirnrunzeln bei der Optikerin, eine Art ungläubiges Quieken, Gefummel am Sehtestgerät sowie die Feststellung: „O je, Ihre Augen sind besser geworden.“ Nun sind sie also noch besser geworden, so dass ich mir Hoffnungen machen kann, auf dem Totenbett wieder klar zu sehen.
Ich erinnere mich noch an die Optikerin von 2000. Sie zog eine breite Schleimspur. Ich hatte den Eindruck, sie wollte mich vom Fleck weg heiraten. „Mein Gott, sie haben so wunderschöne Augen! So viele Farben!“ Ich verzichtete darauf, sie auf Gaynor hinzuweisen, eine Figur aus Michael Moorcocks Zyklus vom Ewigen Helden, der auch aus vielen Farben besteht und trotzdem eine bösartige Kreatur des Chaos ist. Ich bot ihr lediglich an, ihr meine Augen dazulassen, damit sie sich in einem Glas Wasser auf den Nachtisch stellen konnte, um beim Aufwachen als Erstes etwas wirklich Tolles zu erblicken. Vielleicht war sie es auch, die mein Unterbewusstsein seither vom nächsten Optikerbesuch abhielt. Der Optiker diesmal war jedoch wunderbar: ein älterer Herr, der einsam in seinem Laden saß und ernsthaft verblüfft war, dass jemand reinkam. Meinen Wunsch „Will ne Brille“ verstand er sofort und machte kein Geschiss. Der Ablauf war dröge-professionell, aussuchen durfte ich ganz allein ohne vertiefende Stil-Beratung und ohne „Ach, die steht ihnen aber toll!“ oder „Meine Güte, die wertet Ihre wunderschönen Augen ja noch mal auf! Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist!“ oder „Diese blaue Applikation am Gestell korrespondiert auf kosmischer Ebene mit dem Seerosenteichgrün Ihres starken männlichen Blicks!“

Sonntag, 15. Juni 2008

Früher und heute

Manchmal wundert man sich als alter Mensch über die Beschleunigung der Kommunikation und kriegt ganz große Augen. Zu meiner Zeit war der Höhepunkt der Kommunikationsgesellschaft die Ankunft der wöchentlichen Postkutsche derer von Thurn und Taxis. Man erhielt siebenseitige Briefe von der Angebeteten, hineingesteckt in von eigener Hand gefertigte Umschläge, die nach der Liebsten rochen – und nach dem Staub der Straße.
Zum Telefonieren musste man fünf Kilometer zum Postamt wandern, über Stock und Stein, und der Beamte drehte für einen die Wählscheibe. Es dauerte dann sechs Stunden, bis man die Liebste dran hatte, weil die erst gerufen werden und ihrerseits fünf Kilometer bis zum nächsten Fernsprecher eilen musste. Diese Mühsal, diese Vorfreude!
Heute gibt es social networks, in denen Leute, die sich ohnehin jeden Tag treffen, in SMS-Style kommunizieren und sich hübsche Buchstabenbilder in die Gästebücher malen. Wie redundant, wie inflationär! Aber im Grunde geht es immer noch um das alte Rein-Raus-Spiel. Ein, zwei meiner Bekannten auf einer dieser Plattformen sind weiblich und attraktiv. Oder sie haben es zumindest verstanden, die attraktivstmöglichen Fotos von sich in ihr Profil zu stellen. So sicher wie das Amen in der Kirche quellen ihre Gästebücher bald über vor den Zuneigungsäußerungen völlig fremder, süßholzraspelnder männlicher Herzen, die ihre Einsamkeit bekämpfen mit der Suche nach attraktiven Profil-Fotos und dem Anfertigen von Buchstabenbildern für Gästebücher. Ein siebenseitiger Brief ist da durchaus schneller geschrieben. Aber wenigstens riechen Gästebucheinträge nicht nach dem Verfasser. Brrr.

Donnerstag, 12. Juni 2008

Rechtfertigungsnotstand

Bei der EM-Berichterstattung beschleicht einen immer nachhaltiger das Gefühl, dass Sportjournalismus im Grunde nur dazu dient, seine eigene Existenz zu rechtfertigen.

Mittwoch, 11. Juni 2008

Nicht eingeladen worden

Man hat mich wieder mal nicht eingeladen. Alle hassen mich. Vermutlich, weil ich bei Partys immer in der Ecke sitze, die Zehennägel schneide, furze und mit Rotwein Fingerbilder an die Wand male.
Über diesen Betriebsausflug hat mich auch wieder keiner informiert, den nämlich, bei dem alle deutschsprachigen Freiberufler-Gutachter und –Redakteure mit dem Bus in den Europapark Rust fuhren und sich einen schönen Tag machten. Na ja, ist vielleicht auch ganz gut so, denn auf der Rückfahrt schlief der Fahrer ein, weil hinter ihm die Passagiere Fantasy-Romane, Religionsthriller und skandinavische Krimis rezitierten, und der Bus stürzte einen 800 Meter tiefen Abhang hinab und explodierte stilecht. Ich bin der Einzige des Berufsstands, der noch lebt, weil er nicht eingeladen war.
Anders jedenfalls kann ich mir nicht erklären, was momentan los ist. Der Stapel an zu gutachtendem Material reicht mir inzwischen vom Boden bis zur Nasenwurzel und fällt dauernd polternd um, weil er so schwankt. Der polnische DHL-Mann hat mir an der Haustür etappenweise seine ganze Lebensgeschichte erzählt – und die seiner achtundsiebzigköpfigen Familie aus der Gegend von Krakau auch. Und zusätzlich zu den stapelweise Redaktionsaufträgen und dem einen, bei dem ich mal wieder jeden einzelnen Satz umschreiben muss, kam jetzt noch ein Sechs-Romane-Auftrag reingerauscht. Ich lese inzwischen sogar, während die EM-Spiele im Fernsehen laufen, ich aus dem Keller die Wäsche hoch hole oder draußen auf dem Balkon eine quarze. Ich muss mal Doktor Suchanka von nebenan fragen, ob sein Institut eine Maschine entwickeln könnte, die einem das Lesen im Schlaf ermöglicht. Oder ich sterbe einfach an Entkräftung. Aber ich schätze, die werden mich selbst nach meinem Ableben noch zuschütten mit dem Kram und dann erwarten, dass ich aus dem Jenseits Gutachten durch spiritistische Klopfzeichen übermittle.

Montag, 9. Juni 2008

EM

Dieser ganze EM-Quark ging ja im Vorfeld völlig an mir vorbei. Lediglich die Lebensgefährtin brachte von irgendwoher so ein albernes Autofähnchen mit, das jetzt bei uns hier in der aufrecht stehenden Küchenpapierrolle steckt. Und ein Spielplan wurde mir soeben auch neben den Fernseher gelegt, damit ich alle Ergebnisse eintragen kann. Ab sofort kommt man natürlich nicht mehr an dem Kram vorbei, und mir fiel gerade eben auf: Was haben die da eigentlich für furchterregende Maskottchen? Mann, wenn die vor so'nem Spiel über den Platz wackeln und ganz groß im Bild sind, kriege ich echt Angst! Warum nicht gleich Pennywise den Clown da hinstellen?

Sonntag, 8. Juni 2008

Unfall

Ich fuhr morgens immer mit meinem Vater zur Schule. Es passte zeitlich und lag auf dem Weg. Die anderen Kinder aus dem Dorf, die in die Stadt auf Gymnasium oder Realschule gingen, mussten mehr als eine Stunde früher aufstehen, um mit dem einzigen Bus zu fahren.
Ich hingegen saß gemütlich auf dem Beifahrersitz, lauschte der morgendlichen Radiosendung, rieb mir die Augen und betrachtete den heraufziehenden Morgen, der an uns vorbeiflog.
Diese jahrelange Routine wurde im Jahr 1981, ich war vierzehn, jäh unterbrochen, als an einer engen Stelle vier Kilometer außerhalb des Dorfs ein entgegenkommender Wagen ins Schleudern geriet und in uns reinbretterte. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater irgendwas rief, heftig gegensteuerte und eine Leitplanke touchierte, an sonst nichts. Erst später lernte ich im Biologieunterricht das mit dem Ultrakurzzeitgedächtnis, das bei traumatischen Einwirkungen ausgelöscht wird, ein paar Sekunden nur, mehr nicht.
Eventuell war ich eine kurze Zeit ohnmächtig, sehr gut erinnere ich mich allerdings an das Gefühl, das danach kam. Als würde innerhalb von circa fünf Sekunden ein tonnenschweres Gewicht von einem genommen, als würde man im Zeitraffertempo, aber doch in einer Art Prozess und nicht mit einem schnellen schnipp aus einer Lähmung befreit. Als würde man von irgendwoher auftauchen, wo großer Druck herrschte. Es waren vermutlich die Kräfte des Aufpralls, die das verursacht hatten. Ich öffnete die Augen und sah weiter vorne den nackten Motor, aus dem es qualmte. Die Haube war weggeflogen. Auf der Straße lagen weitere Trümmer verstreut. Plastik, Blech, Kühlergrill, Scheinwerfer, Unidentifizierbares. Irgendwo qualmte noch etwas, aufsteigender Wasserdampf aus einem Kühler. Ich bemerkte auch, dass ich in Millionen Scherben von Sicherheitsglas saß, die alles überzogen hatten und in der frühen Morgensonne hübsch glitzerten. Meine ganzen Haare waren voll davon, ich hatte das Zeug sogar im Mund. Alles war still, die Vöglein zwitscherten, das Grün an der Straße sah idyllisch aus. Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Neben mir erkundigte sich mein Vater nach mir. Mir ging es gut, alles okay. Ein bisschen seltsam, aber okay. Das Lenkrad war im unteren Bereich völlig verzogen, mein Vater war mit dem Arm dagegen geprallt und hatte es dabei verformt. Seine Seite des Fahrzeugs war eingedrückt und hatte irgendwie einen Winkel, wo vorher keiner gewesen war. Er blutete heftig an der Stirn. Später im Krankenhaus entfernte man ihm den Schleimbeutel aus dem Ellenbogen. Ansonsten war ihm nichts geschehen. An mir selbst bemerkte man später einen großen blauen Fleck auf der Brust, der vom Sicherheitsgurt herrührte. Außerdem hatte ich einen Schock. Bei einem Schock wird man käseweiß, weil einem das Blut in die Beine sackt. Kann sein, dass man zu zittern anfängt, weiß ich nicht mehr. Außerdem fühlt man sich drei Tage lang, als sei einem Blei in die Beine gegossen worden. Wir wurden vom Krankenwagen abgeholt, ich nur ambulant gecheckt, von einem fiesen Arzt im Übrigen, der sehr ruppig mit Unfallopfern umging. Meinen Vater behielten sie da, ich durfte wieder gehen, und Opa und Mutter holten mich ab. Meine Mutter hatte einige Ängste ausgestanden, denn andere Pendler aus dem Dorf fuhren dieselbe Strecke, die nun gesperrt war, sahen von weitem den Unfall, erkannten die Wracks und kehrten zurück ins Dorf, um meine Mutter zu informieren. Es war jedoch eine Cousine meines Vaters, die anhielt, bis zur Unfallstelle lief und sich ein kompletteres Bild machte. Sie berichtete meiner Mutter dann, dass zwar das Auto völlig hinüber sei und es da draußen ziemlich übel aussähe, ihre beiden Männer jedoch offenbar halbwegs in Ordnung seien.
Im anderen Wagen saß eine Mutter mit kleinem Sohn, kleiner Tochter und Hund. Sie stammte auch aus dem Dorf und war von irgendwoher auf dem Heimweg. Dabei fummelte sie offenbar am Autoradio herum und verlor die Kontrolle über das Lenkrad. Der Hund war tot, der Sohn starb kurz darauf im Krankenhaus, die Tochter war schwer verletzt. Beide Kinder wurden mit dem Hubschrauber abgeholt. Ihre Mutter kam ohne jede Schramme davon, so wie ich.
Das Foto oben ist ein Original. Der Wagen war mal ein Alfasud.

Samstag, 7. Juni 2008

Park

Irgendwo in der Region gab es mal einen Vergnügungspark, eigentlich einen Wildpark mit angeschlossenem Vergnügungsaspekt. In der Hochsaison suchte man dort nach Aushilfen. Ich meldete mich für sechs Wochen. Es war demütigend, aber wir machten das Beste draus. Die Fahrt dorthin war weit, die Strecke lebensgefährlich, eigentlich war ich als fortgeschrittener Student schon viel zu alt, denn die Aushilfskollegen waren meistens Schüler aus benachbarten Dörfern. Es gab keinen einzigen Tag frei, auch keine Wochenenden, man arbeitete elf Stunden am Tag, und die Entlohnung lag deutlich unter dem, was heute als Mindestlohn im Gespräch ist.
Uns Studenten, drei an der Zahl, steckte man zusammen und übertrug uns die wirklich heiklen Aufgaben. Kollegin Heidi stellte man an den Hot-Dog-Stand, wo sie labbrige Würstchen aufwärmte. Die junge Frau war immerhin hochspezialisierte Theologie/Latein-Studentin. Kollege Manfred bekam den „Pilz“, ein Kettenkarussell in Gestalt besagten Gewächses, ich betreute die Achterbahn. Später bekamen wir Unterstützung durch einen festangestellten Azubi, einen 19jährigen Elektriker vom Umfang eines Walrossbullen und mit ebensolchem Teint. Außerdem hatte er seine Sozialisation und seinen Spracherwerb offenbar anhand von Tom-Gerhardt-Filmen und MAD-Heften erlangt. Auf seine ganz eigene Weise war er lustig.
Es handelte sich bei meinem Schnuckel um eine Familienachterbahn, auf der auch kleine Kinder mitfahren durften, und sie verfügte bloß über einen einzelnen heftigen Wirbel. In dem quietschten die Kiddies jedoch regelmäßig, je nach Charakter verängstigt oder vergnügt. Eine Fahrt bestand aus drei Runden, die Benutzung war im Eintrittspreis inbegriffen, und die Gäste konnten so oft fahren, wie sie wollten. Meine Aufgabe bestand darin, sechs Wochen lang auf einem Gartenstuhl in einem Plexiglaskabuff zu sitzen und Knöpfe zu drücken. Immer dieselben Knöpfe. Türen auf, Türen zu, Bügel arretieren, Fahrt starten. In diesem Zeitraum habe ich eine multinationale Heerschar von Kindern und ihren Eltern über die Strecke gejagt und sie quieken hören. Zwischenzeitlich bremste die Bahn nach der dritten Runde arg hart, und ich erntete manch finsteren Blick von den Aussteigenden, denn die dachten selbstverständlich, ich würde manuell bremsen und sie alle hassen. Das tat das Gerät jedoch ganz von allein, das mit dem Bremsen, und die Bremsklötze, die vorsprangen und das Schwert unterhalb der Wagen festhielten, waren zu hart eingestellt. Ich machte vor jeder Fahrt korpulente Amerikaner, Deutsche oder Holländer darauf aufmerksam, wenn ich folgendes sah: Die Eltern setzten sich links und rechts in den Sitz und nahmen ihr Kind in die Mitte. Dann zogen sie den Sicherheitsbügel zurück, der jedoch nur bis zur ihren Bäuchen reichte und dort einrastete. Der Kopf eines kleinen Kindes befand sich auf Höhe des Bügels, aber mehrere Dutzend Zentimeter entfernt. Beim Bremsen konnte es passieren, dass der Kinderkopf vorschnellte und gegen den Bügel knallte. „Fat parents, please hold your kids after round three. The machinery brakes too hard. I'll call the technician tomorrow.“
Immerhin kassierte ich dafür ein Lob vom Chef, was offenbar in dem Park noch nie vorgekommen war, weil der Chef eins besonders hasste: seine eigenen Mitarbeiter. Er fuhr immer in seinem Golfwagen herum und überwachte uns. Nachmittags kam er allerdings in besonderer Charme-Mission und verteilte Fähnchen mit dem Park-Logo und anderen Nippes an Kinder. Von der schmalen Ladefläche des Wagens winkte und grinste das Maskottchen des Parks, in Anspielung auf das Bärengehege war es ein niedlicher, lebensgroßer Teddy. In dem Teddy steckte irgendein Schüler oder Student und winkte sich einen ab, während er zugleich schwitzte wie ein Stahlarbeiter. Es war Hochsommer. Mindestens einer stellte mal abrupt das Winken ein, fiel vom Golfwagen und stand nicht wieder auf, während der Bär immer weiter grinste. „Mami, ist der Bär jetzt tooot?“ Kollege Manfred musste das auch mal machen, danach war er zwei Stunden nicht ansprechbar.
Bei Regen wurde der Fahrbetrieb eingestellt. Bremsklötze und Schwert der Achterbahn wurden nass, und beim Bremsvorgang flutschten die Wagen einfach durch. Da das System so eingestellt war, dass die Elektromotoren an der Anfangssteigung nicht mehr ansprangen, rasten die Wagen also durch den Ausstiegsbereich, bretterten mit Schwung in die Steigung, wurden jedoch nicht mehr hochgezogen, weil die Motoren sich nicht rührten, und blieben dort kläglich hängen. Die Gäste mussten aus ihrer 70-Grad-Schräglage gerettet und über eine Nottreppe evakuiert werden, sofern irgendein Techniker es schaffte, die Sicherheitsbügel zu deaktivieren, denn die saßen nach wie vor bombenfest. So etwas brachte zudem das ganze System durcheinander, und wir benötigten mehrere Leerfahrten, um es wieder auf Anfang zurückzustellen. Also besser nicht bei Nässe fahren.
In den sechs Wochen bekam ich den ganzen Park ein einziges Mal zu sehen, während eines Regentages, an dem die Achterbahn stillgelegt war. Ich griff mir einen Picker und machte mich im strömenden Regen daran, das weitläufige Areal zu erkunden und nebenher alibimäßig zu säubern. All die wilden Tiere, Luchse, Murmeltiere, Bären, hatten sich in ihren Freigehegen versteckt. Danach war ich so derart durchnässt, dass der technische Obermotz, ein Ex-Fremdenlegionär, unverhofft Gnade zeigte und mich nach Hause schickte. Der Mann ist übrigens zwei Monate, nachdem er den Park verlassen hatte, verstorben. Das nenne ich mal corporate identity.
Bei der nächsten Geburtstagsparty im Herbst, zu der ich die Ex-Kollegen Heidi und Manfred einlud, schenkten diese Bekloppten mir eine Souvenir-Cassette mit jenen Liedern, die im Park ständig aus den Lautsprechern geplärrt hatten. Billige holländische Amateursänger sangen in einem holländischen Heimstudio in gebrochenem Deutsch albernen Trash-Kinderbelustigungskack ein. Sogar das Bär-Maskottchen sang und klang dabei wie ein holländischer Bariton im Liegen, auf dessen Bauch gerade drei sehr dicke Frauen saßen. In Wirklichkeit war es natürlich ein scheußlich falsch eingestellter Voide Vocoder aus dem Jahr 1967. Im Park selbst hatte ich diese Gesänge der geistigen Gesundheit wegen stets ignoriert, aber die Cassette hörte ich mir doch mal an, genau einmal.

Freitag, 6. Juni 2008

Fabrik

Das Rauchen habe ich mir angewöhnt, so richtig angewöhnt, beim ersten Studentenjob in den ersten Semesterferien. Es war in der deutschen Fabrik eines bekannten französischen Reifenherstellers, wobei es in diesem Werk nicht um Gummi ging, sondern um Draht für LKW-Reifen. Am einen Ende kamen gewaltige Spulen mit daumendickem Draht an, am anderen Ende verließen kleine Spulen mit dünnem Draht die Halle. Der wurde dann weitertransportiert und irgendwo in Frankreich von proletarischen Kollegen in LKW-Reifen eingeschweißt. Wenn am Rand der Autobahn mal wieder Fetzen von Lastwagenreifen herumliegen, denke ich an den Job zurück und spekuliere darüber, inwieweit hier eventuell eine studentische Aushilfe geschlampt hat.
Es war eine laute, stinkende Fabrikhalle, die man ohne Gehörschutz, Handschuhe und Sicherheitsbrille und -schuhe nicht betreten durfte. Außerdem war alles fettig und klebrig, denn der Draht lief etappenweise durch chemische Bäder, deren Hauptbestandteil irgendein Fett war, das alle Oberflächen bedeckte. Die dunkelgrünen Zieh- und Spulmaschinen waren in einem engen Oval gruppiert, über das eine Kette verlief, deren hydraulische Arme nach unten in die Maschinen griffen und die vollen Spulen abräumten, um sie am Ende des Ovals in einen Transportwagen zu laden. Unsere Aufgabe war es, den Betrieb zu optimieren, denn die Kettenführer waren mit den ihnen zugewiesenen drei Ketten (circa 60 einzelne Maschinen) durchaus überfordert. Es lief nämlich dauernd etwas schief, hauptsächlich weil den Maschinen der Draht ausging und kein Nachschub aus der vorherigen Abteilung kam, oder weil der feine Draht im chemischen Bad riss. Der Draht musste wieder angebunden werden, ich träume heute noch von diesem speziellen Knoten und knüpfe ihn im Schlaf. Oder es mussten schwere Spulen aus der vorherigen Abteilung herangerollt und in den Maschinen arretiert werden, eine Arbeit für Herkules den Bodygebildeten. Außerdem war der Transportwagen am Ende schnell voll (austauschen), der automatisierte Klebebandabroller hatte sich verheddert (entwirren), ein hydraulischer Arm war verhakt (Chef rufen). Bei den meisten dieser Aktionen war es aus Sicherheitsgründen nötig, die Kette zu stoppen (Lebensgefahr! Unbedingt durch die Lichtschranke treten!), weswegen alles ruckzuck gehen musste, um den Betrieb nicht aufzuhalten.
Es war ganz aufschlussreich, sich eine Zeitlang mal unter der arbeitenden Bevölkerung zu verdingen. Die verdiente ganz gut, fand ich, und auf dem Werksparkplatz standen auffällig dicke Autos mit sehr breiten Reifen, nur war ich der Auffassung, dass die Jungs irgendwie zu wenig Zeit hatten, die Kohle auch vernünftig auszugeben. Und der Schichtrhythmus war auch nicht ganz ohne. Morgen/Mittag, Nachmittag/Abend, Nacht. Kein Wunder, dass die alle Kettenraucher waren und einige echt fahrig wirkten. Einer zwinkerte dauernd, ein anderer redete unablässig mit sich selbst, aber man verstand ihn in dem Krach nicht. Der Boden war von Drahtresten, zerrissenen Handschuhen, Kaffeebechern und Kippen übersat. Einer, mit dem ich mich anfreundete, fragte mich nach meiner Freundin. Ich gestand, dass ich keine hatte, und er meinte: „Da kriegste ja nen dicken Sack!“ Das war so in etwa der Tonfall in der Halle. Ich lief in einem nerdigen Heavy-Metal-T-Shirt herum, es erschien mir irgendwie passend und angemessen proletarisch. Einer der Meister, die der jeweiligen Schicht vorstanden, leitete später auf einem einsamen Feldweg per Schlauch Kohlenmonoxid ins Innere seines Autos. Das war der nette Meister. Der andere war ein Giftwicht.
Die studentischen Aushilfen rentierten sich, wie ich aus belauschten Gesprächen der Arbeiter erfuhr. Einer zeigte dem anderen seine Produktionsaufzeichnungen der letzten Schicht und stellte fest, dass er ein Drittel (!) mehr geleistet hatte als ohne Student. Was sich wiederum in seiner Entlohnung niederschlug. Somit waren wir also nicht unbeliebt, und ich zog aus dieser einen belauschten Statistik ein gewisses Selbstbewusstsein und kam mir echt proletarisch vor. Man bot sich gegenseitig Zigaretten an und hockte paffend für fünf Minuten gemeinsam auf irgendwelchen Geländern und meditierte zum Maschinenlärm und den rhythmischen Bewegungen hydraulischer Arme oder mechanischer Abrollbügel. Die adrett gekleideten Herren aus dem Verwaltungsgebäude, die sich verständlicherweise selten in die Halle verirrten, verachteten wir allesamt. Während meiner Zeit kam ein „neuer Chef“, inspizierte erstmals die Halle und machte sich bei den Arbeitern lieb Kind, um im nächsten Moment Optimierungsvorschläge abzugeben. Schreiend, wegen des Krachs. Als er wieder weg war, zeigten einige der Kettenführer der Ausgangstür einen Vogel.
Ich verbrachte zwei Sommer in der Halle. Im ersten Sommer arbeitete neben mir als Aushilfe ein heute nicht ganz unbekannter Vertreter der „Atheisten“ und „Humanisten“, der unlängst mal wieder für einigen publizistischen Trubel gesorgt hat. Er war so ein ruhiger, ein bisschen vergeistigter Typ, der nicht viel sprach, sich ungeschickt anstellte und den vor allem die Arbeiter für eine arme Wurst hielten. Ich schätze mal, heute ist er noch seltsamer drauf.
Der Kaffee aus dem Automaten kostete drei Groschen, die Cola (0,5) fünf Groschen. Den schwersten Arbeitsunfall hatte ich, als ich abgestellt war, die Getränkeautomaten aufzufüllen und eine verkeilte Fanta-Flasche, die das Gerät blockierte, herausfummeln wollte. Dabei schnappte die Ausgabemechanik unten zurück und haute mir böse in den Finger. Ab und zu verkroch ich mich aufs Klo und hielt ein Nickerchen. Auf dem Klo gab es außerdem tolle Sprüche zu lesen, die von Zeit zu Zeit entfernt wurden, so dass man sie studieren musste, ehe der Reinigungstrupp kam. Der Toilettenpapierspender, so ein rundes Ding mit einer Riesenrolle im Inneren und einem Ausgabeschlitz unten, aus dem das Papier ragte, trug den Modellnamen „Katrin“. Ich schrieb daneben: „Katrin, du hast da unten was raushängen.“ Eine derartige Originalität habe ich seitdem nie wieder erreicht, ich schiebe es auf die eigentümlichen Toilettenvisionen um halb vier Uhr morgens, während nebenan die Fabrikhalle tobt und rattert.
Die definitive Hass-Tätigkeit war das Auffüllen der chemischen Bäder in den einzelnen Maschinen. Dazu musste man ein Riesenfass an einer Zapfstelle füllen, das Fass auf einen Elektro-Muli setzen und das Ding durch die ganze Halle ziehen, um mit dem Zapfhahn eine genau bemessene Menge an chemischem Fettzeug in die Bäder zu füllen. Das war unangenehm, nicht wegen des Fetts, sondern weil die Gänge so eng waren, dass man mit dem Scheißfass kaum darin rangieren konnte. Und die Kurven zwischen den Ovalen bekam ich auch oft nicht hin und lädierte Maschinen und eine Menge Blechverkleidungen. Einmal teilte man mir einen defekten Muli zu, was dazu führte, dass das Fass auf der einen Seite herunterhing und der massive Eisenfuß seines Gestells während der ganzen Route über den Stahlplattenboden schrammte und ihn mit hübschen Kerben versah. Der Hallenboden sah danach von oben aus wie ein kryptisches Diagramm. So hinterließ ich immerhin unauslöschliche Spuren, an denen die Archäologen in fünftausend Jahren zu rätseln haben.

Mittwoch, 4. Juni 2008

Nicht betreten!

Puha. Großauftrag angekommen. Oberste Priorität, sagt der Chef. Mitten reingeplatzt in eine Auftragslage, die einem ohnehin schon über den Kopf zu wachsen drohte. Mit Hilfe von Dr. Suchanka, dem polnischen Teilchenphysiker aus dem benachbarten Institut, habe ich nun einen supergekühlten Hochenergie-Wartewirbel ums Haus gelegt, der hübsch glitzert, während er rotiert. Alle niederprasselnden Manuskripte fallen gleich dort hinein, DHL-Boten werden mitleidlos aufgesogen.
Niemand sonst sollte versuchen, zu klingeln oder anderweitig das Haus zu betreten. Dr. Suchanka sagt zwar, der Wirbel sei nur auf Manuskripte und DHL-Boten programmiert und ungefährlich für andere Menschen, aber wer vertraut schon Teilchenphysikern? Wenn aus Versehen jemand dort hineingerät, könnte die Wartezeit sich ziemlich ziehen, so an die dreißig Millionen Jahre. Und die möchte man sicher nicht mit einem rotierenden, dauerkotzenden DHL-Boten verbringen.
Werft bitte einfach nur Versorgungsbomben über dem Haus ab, hauptsächlich Katzenfutter, ich selbst benötige nicht viel. Oder schickt Pakete an das Institut von Suchanka, der dann versucht, durch einen unterirdischen Gang zwischen den Kellern beider Häuser die Verpflegung zu mir rüberzuschaffen. Sofern er an Nyarlathotep vorbeikommt, der in der Waschküche Kreuzworträtsel löst und mit seinen Tentakeln nach allem greift, was vorbeischlurft.

Sonntag, 1. Juni 2008

Presse-Karriere

Als freier Mitarbeiter bei der Tageszeitung hetzte man von Höhepunkt zu Höhepunkt. Meine persönlichen Highlights waren das Abfotografieren eines Ackers, ein Hochwasser kurz vor Weihnachten, ein Pressefrühstück mit John Watts, die Einsegnung einer Feuerwehrspritze sowie die Einweihung eines Jugendraums im Gemeindehaus. Ach ja, und die Vorstellung einer Dorfchronik. Ja, und natürlich das Feature über den Star-Trek-Fanclub.
Auf dem Acker sollte ein Steinbruch entstehen. Die Zeitung benötigte ein Foto. Ich fuhr zum Ortsvorsteher, ließ mir von ihm den fraglichen Acker zeigen und fotografierte ihn. Beim Wenden blieb ich mit dem Auto in einer Schlammkuhle stecken. Am nächsten Tag war es in der Zeitung: das Foto eines Ackers. Eine Autoreinigung kostete damals circa fünf Mark, da war ein Viertel meines Honorars also schon wieder weg.
Während des Hochwassers fuhr ich ein bisschen herum, befragte den Bürgermeister, machte Fotos und musste den Film dann gleich ins Verlagshaus bringen. Leider war nicht nur unser Nebenflüsschen angeschwollen, sondern auch alle anderen Flüsse, so dass mitten im Vorweihnachtstrubel einige Einfallstraßen in die Stadt gesperrt waren. Deswegen gab es einen Riesenstau, in dem sich nichts mehr bewegte. Ich ließ den Karren am Stadtrand stehen, marschierte zu Fuß im dichten Regen zur Zeitung und gab den Film ab. Eines meiner Fotos schaffte es in die Katastrophen-Sonderberichterstattung, ich erhielt 20 Mark Honorar und verbrachte Weihnachten mit Grippe im Bett.
Zum Pressefrühstück mit John Watts (Fischer Z) waren alle Presseorgane der Region geladen. Ich war der offizielle Vertreter des Presse-Obermotzes. Die anderen Wichte von den Wichtel-Blättchen und vom qualitätsbewussten Privatradio tauchten mit hochprofessionellem Equipment auf - Diktaphon, gewaltige Kamerataschen, Spiegelreflex mit tausend phallischen Objektiven - ich hatte einen Ringblock und eine Pocket dabei. Die anderen laberten viel herum mit John Watts, stellten ziemlich blöde Fragen in ziemlich schlechtem Englisch, fraßen und soffen den Pressefrühstückstisch ratzekahl leer und vernaschten die alternden Groupies, ich schrieb bloß mit, schoss draußen ein Foto des verblassenden Stars und klopfte einen halbwegs akzeptablen Text in die Tasten. Zu seinem Konzert ging ich später auch noch, weil ich Freikarten hatte. Hm, ja, Freikarten, die bekam man nachgeschmissen als „Presse“.
Die Einsegnung der Feuerwehrspritze, auf die ich mich echt gefreut hatte, fiel aus, was ich aber erst erfuhr, nachdem ich anderthalb Stunden dumm in dem Kaff herumgelungert hatte. Der Pastor hatte Durchfall oder die Spritze stand im Stau, möglicherweise auch umgekehrt. Bei der Einweihung des Jugendraums passte ich mit der Pocket den perfekten Moment der symbolischen Schlüsselübergabe ab, es wurde das schönste Foto meiner journalistischen Karriere.
Bei der Vorstellung der Dorfchronik hingegen hatte ich den Film falsch eingelegt, und die Fotos wurden nix. Dafür fand die Veranstaltung in unserer Nachbargemeinde statt, der Bürgermeister identifizierte mich sofort als a) Presse und b) Einheimischen, was ihn in seiner Rede zu irgendwelchen Peinlichkeiten trieb, als er sich bei der Presse für die Anwesenheit bedankte und zugleich darauf hinwies, dass ein „Kind unserer Gemeinde“ inzwischen bei der Presse arbeite und heute Abend hier sei, um „den feierlichen Moment zu verewigen“ und als Mitglied der schreibenden Zunft in die Fußstapfen des Autors der Chronik trete, womit für die nächste Generation hochintellektuell fabulierender Gemeindemitglieder gesorgt sei. Es hätte nur noch gefehlt, dass er gefordert hätte: „Mach meiner hässlichen Tochter ein Kind.“ Der Saal war gerammelt voll, alle starrten mich an, ich wurde eventuell rot, die Kollegin vom Gratis-Wochenblättchen lachte mich professionell aus. Und das obwohl sie hier die graue Maus war.
Streng genommen wollte ich ja gar nicht bei der Presse arbeiten, streng genommen war ich nur anwesend, weil ich zu dieser fatalen Phase meines Daseins nicht wusste, was ich sonst mit mir anfangen sollte. Es war eine Art Selbstläufer, Determinismus geradezu, ich geriet schon in eine Journalistenrolle, noch bevor ich das Wort überhaupt buchstabieren konnte. Hauptsächlich deswegen, weil mein Vater „bei der Zeitung“ arbeitete, allerdings bei den Anzeigen, und der Sohn natürlich ganz eindeutig auch in diese Richtung tendierte. Das meinte schon meine Oma.
Ziemlicher Kack. Dauernd rumrennen und –fahren für Groschenhonorare, biedere Texte fürs Publikum schreiben, die Redakteure einem dann noch flacher umschreiben oder auf Format kürzen oder irgendwelche Trolle in der Herstellung einem durch Korrekturen verhunzen. Einer machte aus den Rasta-Locken des Bassisten der Levellers mal „Raster-Locken“. Na ja, Provinz eben.
Mit dem Star-Trek-Fanclub habe in der zweiten offiziellen Club-Sitzung eine Foto-Session gemacht und einen Artikel über ihn geschrieben, der dann auch wieder zurechtgestutzt wurde. Bestenfalls die Hälfte war noch von mir. Der Quatsch mit den Trekkie-Uniformen war damals in, und diese Freaks galten in bürgerlichen Kreisen eine Zeitlang als exotisch. Es war mein letzter Artikel für die Lokalredaktion. Den Auftrag, den ersten offiziellen Guildo-Horn-Fanclub zu porträtieren, ließ ich so lange liegen, bis sie jemand anders dorthin schickten, jemand, der zuverlässig war und mit Leib und Seele Journalist werden wollte.

Echte Leidenschaft hingegen herrschte in dem festen freien Job bei der Zeitung: Sportaufnahme. Ich habe zu einem früheren Zeitpunkt schon mal kurz darauf hingewiesen. Siebzehn Jahre lang, fester Tarif, fester Mitarbeiterstamm und ein unerschöpfliches Reservoir grotesker Begebenheiten. Wir schrieben Sonntagabends Lokalfußballberichte vom Band ab, später wurde es moderner, und wir saßen an Computern und in der Mitte eines hyperschicken Netzwerks, auf das alle mächtig stolz waren, vor allem die Medienyuppies. Zuvor gab es nur: Telefon, Aufnahmegerät, Schreibmaschine. Sowie jede Menge Schreibtische und Zeug zum Herumstöbern, genervte, grummelnde Redakteursleichname, mit denen wir den Raum teilen mussten und die uns schon mal das Aufnahmekabel durchschnitten, weil sie uns und unser Getippe hassten. Scharfe Redakteurinnen, mit denen wir den Raum teilen durften und denen wir schöne Augen machten, wenn sie anwesend waren, und obszöne Gesten, wenn sie den Raum verließen. Ich kenne heute noch jedes einzelne Dorf der Großregion mit Namen sowie seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Spielgemeinschaft. Ich war nie in diesen Orten, aber die SGs kann ich immer noch runterbeten wie ein Mantra. Unter uns befand sich damals ein aufgehender Stern am Journalistenhimmel, wir wussten es nur noch nicht. Aus ihm wurde später genau jener Südamerika-TV-Korrespondent, der vor zwei Jahren für nationale Erheiterung sorgte, als brasilianische Fans nach dem WM-Achtelfinale ihn im Überschwang live aus dem Bild katapultierten und plattzutrampeln schienen. Wenn ich ihn heute auf dem Schirm sehe, nenne ich ihn immer noch den "Mann, der sein Handwerk bei mir gelernt hat."
Was hatten wir noch? Besoffene Mitarbeiter am Telefon, gesungene Sprechchöre im Hintergrund und klirrende Gläser, komplette drei leere Zeitungsseiten, anfangs sogar vier, die wir mit Text zu füllen hatten, komme, was da wolle. Myriaden unidentifizierbarer Torschützennamen, nicht aktualisierte Vereinslokallisten, deren Telefonnummern uns in die Irre führten. Es kam u.a. ständig zu folgendem Dialog, wenn ich das Vereinslokal Igelmund in Unterhempelsbach anrief:
Rappatter-rapatter (Wählgeräusch, zwölf Mal Klingeln)
Circa 98jähriges Mütterchen: „Igelmund?“
Ich: „Guten Abend, Sportaufnahme hier. Ich würde gern die Ergebnisse vom heutigen Spieltag erfragen.“
„Igelmund?“
„Hallo? Ja? Sportaufnahme. Könnten Sie mir die Spielergebnisse von heute geben? D-Liga?“
„Igelmund?“
„Sportaufnahahahme. Fußballergebnisse. Deeee-Liga. Eifelkreis. Von heute.“
„Igelmund?“
„O je.“ (beende Gespräch).
Zudem saßen wir nahe am Getränkeautomaten, durften die Bude vollqualmen, uns scheußliche Frisuren wachsen lassen und Finger- und Zehennägel schneiden, in fremder Leute Schreibtische kramen, Pressematerial mitgehen lassen, Büroklammern in Laufwerkschächte stecken, hatten Blick in eine gegenüberliegende Frauenarztpraxis, in der aber Sonntagabends natürlich nie jemand war außer der Putzfrau, die an gynäkologischen Gerätschaften herumwienerte. Wenn die Putzfrau fertig war und gegenüber das Licht ausschaltete, zerrissen wir vor Gram Manuskriptpapier in kleine Stücke, schrieben erotische Fortsetzungsromane oder klauten scharfe Pressefotos von Sheryl Crow. Nebenan schiss irgendein cholerischer Redaktionsleiter gerade einen Volontär zusammen und ließ das Großraumbüro erzittern. Na, da waren wir doch verdammt froh, dass wir hier ohnehin keine Zukunft hatten, weil wir nur als Aushilfstrottel gebucht waren, als Tippvieh.
Presse? Meiner Meinung nach wird die gewaltig überschätzt.