Donnerstag, 26. Juni 2008

Speiseplan


Mir liegen dauernd Gerichte auf der Zunge, die ich, wie mir immer wieder auffällt, nach dem Tod meiner Mutter nie wieder essen werde, weil niemand mehr da ist, der sie einem zubereitet. Natürlich gibt es Myriaden von Dingen, die vermisst werden, nachdem ein vertrauter Mensch „heimgegangen“ ist, aber die sind zumeist persönlicher Natur und haben auf einem Weblog und im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Aber übers Essen vergangener Tage darf man reden und es verherrlichen. Es wäre im Sinne meiner Mutter.
Man könnte sich selbst an den Speisen versuchen, aber natürlich kriegt man sie nie so hin. Es gab in Kindheit und Jugend eine Art lockeren Speiseplan mit Standardgerichten, die zum Teil zurückgingen auf alte katholische Bauern-Zeitpläne und sich natürlich auf eigene Schlachtung stützten. Ganz früher kam das Fleisch schon mal direkt vom Bauernhof und von Mutters Vater und Bruder, später dann immerhin vom lokalen Metzger, für den man die Hand ins Feuer legte. Er bevorzugte einfache Wurstsorten, jenseits von „Kräutern der Provence“ oder toskanischem Pipifax. Bei Schlachtungen schauten wir zu, denn sie fanden mitten im Dorf statt, nicht im sicht- und schallgeschützten Kämmerlein und durchgeführt von anonymen polnischen Schlachtgesellen. Das Krachen des Bolzenschussgeräts hallt mir manchmal noch in den Ohren. Bis zuletzt schlachtete der Cousin meiner Mutter vor Weihnachten seine Kaninchen mittels Genickbruch und brachte sie in einer Plastikschüssel vorbei. Immerhin war der Kopf schon ab.
Freitags gab’s Fisch, klar, in früheren Jahren von Nachbarn oder Verwandten noch selbst im Fluss gefangen. Die Erbsen und das meiste andere Gemüse kamen aus dem eigenen Garten. Die Erbsen waren die besten der Welt. Wir Kinder haben beim Pellen geholfen und sie mengenweise roh aus den Schalen gegessen. Salat wurde zum Teil von der Wiese aufgelesen. „Mausohren“ heißen draußen in der Welt „Rapunzeln“ und kosten da allen Ernstes Geld, genauso wie all das Obst, das bei uns einfach so an den Bäumen und Sträuchern hing. Augustäpfel von der Pfarrwiese, Kirschen aus Nachbars Garten. Und natürlich die Unmengen von Brombeeren, die die Dorffrauen zur Herstellung von Marmelade und mit Unterstützung der Kinder eimerweise selbst pflückten und sich dazu tief ins Gebüsch wagten, um sich die Bauernfrauenhände zu zerstechen. Wir Kinder sahen danach noch lädierter aus.
Samstags gab es traditionelles Arme-Leute-Essen, weil der Bauer an und für sich ja sonntags zum Lob des Herrn richtig zulangte. Es gab an Samstagen oft etwas, das man bei uns „Kniedeln“ nennt, eine Dialektform von Knödel, jedoch sind es keine Knödel, sondern eine aus Mehl und Eiern gefertigte Pampe, die löffelweise ins heiße Wasserbad kommt und sich zu Klumpen verfestigt. Ähnlich wie Spätzle, aber in Klumpenform und fester in der Konsistenz. Dann noch zerlassene Butter, angebratenen Speck und Maggi drüber, und die sättigende Armenspeisung ist fertig. Meine Oma väterlicherseits hat diese Dinger auf eine Art hinbekommen, die unübertrefflich war. Irgendetwas hat sie reingemischt, von dem niemand sonst was wusste. Das Geheimnis hat sie ihrerseits mit ins Grab genommen.
Das zweite Samstagessen war „Rauchfleisch“. Draußen in der Welt nennt man es geräucherten Bauchspeck. Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Sauerkraut hieß „Kappes“, Rotkohl hieß „roter Kappes“. Oder es gab simpelste und schmackhafteste Pellkartoffeln: Salz, Butter, Maggi drauf. Irre. Ich würde deren Konsistenz nie so hinbekommen. Sonntags gab es Braten, an hohen Festtagen wie Weihnachten und Ostern und Erstkommunion ein Vier-Gänge-Menü mit Suppe, Vorspeise, Hauptgang und Dessert. Es war immer das Gleiche, und genau so sollte es auch bitteschön sein. Die Vorspeise hieß bei uns „gekochtes Rindfleisch“. Ich bekam erst später heraus, dass man es draußen in der Welt als Tafelspitz bezeichnet. Es sind weitere schmackhafte Standardessen wie Rouladen und Koteletts zu nennen. Werde ich alles so nie wieder essen. Windbeutel. Hmm. Der zu Weihnachten selbst geräucherte riesige Schinken, der beste der Welt, den man im freien Handel gar nicht bekommt, und wenn doch, dann kostet er ein Vermögen.
Bin als Dorfchauvi eben immer bekocht worden. Heute gibt’s zwischen den ganzen Buchstabenvernichtungsaufträgen Tiefkühlschiss aus dem Plus. Wir sind nun mal hier keine großartigen Köche, nicht mal Hobby-Brutzler, und müssen uns dieser Tatsache schon seit langen Jahren stellen. Zudem gibt es natürlich gewisse naturgegebene Geschmacksunterschiede. Die Lebensgefährtin würde eher vom Balkon springen, als „Rauchfleisch“ zu essen.