Sonntag, 29. Juni 2008

Hochwasser


Eines der aufregendsten Ereignisse war das Hochwasser. Schneeschmelze in Ardennen und Eifel, dazu ein paar ergiebige Regenfälle, fertig war die Flutwelle. Nun ja, nicht von Roland Emmerich inszeniert, sondern langsam und behäbig, aber auf dem Höhepunkt ganz schön drastisch. Die Häuser im unteren Dorf soffen ab. Wir wohnten weiter oben, und als Kind waren mir die Flutopfer eigentlich ziemlich schnurz, denn ich musste dringend die Gummistiefel anziehen und eigene Bekanntschaft mit dem Ungeheuer schließen.
Der Fluss war bald fünfmal so breit wie sonst, ergoss seine braunen Massen über Auen, Äcker und Wiesen und schuf Seenplatten, in denen Strömungen und Strudel herrschten und die den Fluss sogar aufs Zehn- oder Fünfzehnfache seiner Größe anschwellen ließen. Von den steinernen Staumauern und Fischtreppen war bald nichts mehr zu sehen außer einem Gekräusel an der Oberfläche, aber auch das verschwand, je höher das Wasser stieg. In unmittelbarer Nähe war der Fluss sehr laut, besonders im unteren Dorf, wo der Schall vom gegenüberliegenden Luxemburger Waldhang zurückgeworfen wurde. Das idyllische Tal wurde zum Ungeheuer. Die Landschaft hatte sich drastisch verändert, Land war Wasser, die Relationen stimmten nicht mehr. Die begehbare Welt war kleiner geworden, unsicherer, zugleich hatte sich jedoch etwas faszinierend Großes über sie gelegt. Man kannte dieses Wasser ja eigentlich, es war einem normalerweise freundlich gesonnen, aber dass es sich plötzlich so aufplustern und brüllen konnte und sich dabei so schnell bewegte … irritierend. Alles war durcheinander, ordnungslos.
Weiter draußen, wo die Strömung herrschte, sah es richtig gefährlich aus, tödlich sogar. Eine Menge großer Dinge schwammen da in der Entfernung vorbei. Es hätten Ungeheuer sein können oder Tierkadaver oder ertrunkene Menschen. Häusertrümmer, Autos, Wohnwagen von den Campingplätzen flussaufwärts. Ich nahm das Fernglas mit, identifizierte aber immer nur Baumstämme oder große Plastikteile. Bäume in Ufernähe ächzten unter den Wellen, Enten und Schwäne schwammen stoisch an Stellen, an denen sonst Menschen spazieren gingen und das Idyll genossen. Dutzende von Habichten saßen auf den Bäumen in Wassernähe und inspizierten aufmerksam die Gegend, denn Heerscharen von Mäusen und Ratten taumelten gerade aus ihren überfluteten Gängen – das Tosen des Flusses war die Essensglocke für Raubvögel.
Wirklich faszinierend wurde es jedoch dann, wenn das Wasser zurückging. Ich weiß nicht, wie viele Stunden der Kindheit ich damit verbracht habe, einsam am Ufer entlangzuwandern, den Blick immer auf den Boden gerichtet. Der Fluss hatte die Angewohnheit, eigenartige Dinge mitzubringen und dazulassen. Mit quatschenden Gummistiefeln ging es durch vom Wasser gesättigtes Erdreich, ein bisschen wie Wattwandern, nur dass alle paar Meter spannende Dinge glitzerten. Einmal fand ich einen Dolch, einen Hirschfänger komplett mit Lederscheide. Nicht so ein Kinderding vom Rummel, sondern ein echtes Jagdmesser mit brisanter Sägezahnung am oberen Klingenrand. Dann waren da diese total seltsamen WÜRFEL. Viele, viele gleichförmige Würfel mit knapp zehn Zentimetern Kantenlänge, von brauner Farbe und aus einem geheimnisvollen Material, das irgendwie ein Mittelding aus Steckschaum und bröseligem Holz zu sein schien, jedenfalls schwimmfähig. Die Dinger lagen überall herum und gaben mir Rätsel auf. Wo kamen die her? Es gab damals noch kein Star Trek – The Next Generation, sonst hätte ich den Einfluss von Borgs vermutet. Miniatur-Borg-Schiffe haben weiter oben am Fluss eine Invasion versucht und sind kläglich ertrunken, mit all den kleinen Cyborgs drin. Erst groß herumtönen von „Widerstand ist zwecklos“ und dann in einem Provinzfluss ersaufen.Idioten. Später klärte mich ein Erwachsener darüber auf, dass die Würfel wahrscheinlich aus dem Monsanto-Werk bei Echternach kamen. Welchem Zweck sie bei Monsanto dienten, blieb allerdings verborgen. Vermutlich waren sie das Ergebnis von frühen Gen-Experimenten an holländischen Tomaten.
Zwischen dem Konkreten und dem Wunderlichen ging die Phantasie auf Reisen, und als ich mal neben einem zertrümmertem Klohäuschen stand, wurde daraus die Fluchtkapsel eines Raumschiffs und daraus wiederum eine siebenseitige Geschichte über einen Jungen, der beim Stöbern in Hochwasser-Überbleibseln einen gleichaltrigen Jungen vom Planeten Tunguska oder so findet, der ein Prinz ist und vor Oppositionellen auf der Flucht. Dann ist er zur Erde gesaust (versehentlich), in den Fluss geplumpst (versehentlich) und wird von unserem irdischen Helden entdeckt, der mit ihm zusammen gegen die Oppositionellen Putschisten antritt, die ihm an den Pelz wollen. Diese Geschichte war die direkte Folge des Genusses zu vieler Bücher aus dem Schneider Verlag. (Kann irgendwer mein Glück fassen, als ein, zwei Jahre später ausgerechnet bei uns dieser Film mit dem Titel Jan vom goldenen Stern gedreht wurde, in dem es darum geht, dass ein außerirdischer Prinzenknabe aus Versehen bei uns aufschlägt und viele Abenteuer erlebt? Mannomann!)
Ich tat bei den Strandräuber-Ausflügen auch etwas für die Natur. Nachdem das Wasser sich zurückgezogen hatte, entstanden isolierte Teiche und Pfützen auf den Äckern, und darin schwammen immer mal wieder Fische, die keine Chance hatten zu überleben. Ich sammelte sie auf, was nicht einfach war bei den zappelnden Viechern, trug sie zum Fluss und warf sie hinein. Manche schwammen jedoch auch schon mit dem Bauch nach oben – vermutlich zu wenig Sauerstoff in ihrer Pfütze oder zu viele geheime Zusatzstoffe von Monsanto. Einen, der tot war, habe ich spaßeshalber mit meinem neuen Hirschfänger seziert.
Natur und Unnatur gleich nebeneinander oder miteinander verknäult. Abgerissene Äste und Plastikplanen, Schuhe, tote Kleintiere, Schüsseln, Kisten, Matratzen, Schlitten, Muscheln, Ruderboote, Reifen, Radios, Feuerzeuge, einmal ein Wählscheiben-Telefon ohne Hörer, Rinderschädel, Schweineschädel, Markisen – eine Menge Zeug eben.
Als der Fluss wieder normal war, reinigten die Bauern ihr Land, manchmal lag das Zeug aber auch noch Äonen herum, trocknete im Sommer und verrottete oder zerbröselte. Ich wünsche es den betroffenen Menschen gewiss nicht, aber wenn heute so ein richtig fettes Hochwasser käme, würde ich glatt extra deswegen hinfahren, um das noch mal zu erleben. Vielleicht würde ich dann endlich die erste Campingurlauberleiche finden. Den außerirdischen Prinzen würde ich heute jedoch eher der Polizei übergeben, damit sie erst mal seine Personalien ermittelt.