Dienstag, 24. Juni 2008

Bus

Nachdem die Bahnlinie, die unser Tal mit dem Rest der Welt verband, stillgelegt worden war (so um 1969), unterhielt die Bundesbahn eine Buslinie. Einheitlich dunkelrote Busse übernahmen mit mehreren Fahrten am Tag die ÖPNV-Verbindung. Mittags fuhren sie gehäuft, wegen der Schulkinder. Die Fahrt von der Stadt bis aufs Dorf dauerte beinahe eine Stunde. Tag für Tag, insgesamt neun Jahre lang in meinem Fall. Nicht unbeträchtliche Teile der Pubertät spielten sich im Bus ab, hauptsächlich in dem 13-Uhr-20er, den man nach der fünften oder sechsten Stunde nehmen musste, um nach Hause zu gelangen.
Es war die Zeit nach der Kindheit, in der man nicht mehr zwangsläufig die Nachmittage miteinander verbrachte und unberührt von hormonellen Einflüssen dem fröhlichen Räuberbandendasein huldigte. Es gab eine Menge Hausaufgaben zu erledigen, es gab Nachmittagsunterricht, der einen von gemeinsamen Aktivitäten fernhielt, es gab vor allem neue Interessen und Cliquenbildungen und ein generelles Ausfasern der ehemals engen Kinderbeziehungen. Die Wege trennten sich so langsam.
Außer im Bus. Dort trafen sich alle wieder, zumindest die Realschüler und Gymnasiasten, die in der großen Stadt zur Schule gingen. Inzwischen hatten sich auch zart die Hormone gemeldet, und dem Jungen war aufgefallen, dass manches Mädchen, das er früher nie als solches wahrgenommen hatte, nun wahrgenommen werden wollte und sollte. Als viel reizvoller erwiesen sich jedoch diejenigen, mit denen man nicht aufgewachsen war und die einem im Bus überhaupt zum ersten Mal begegneten und dann immer wieder, weil eben stets dieselben Gesichter mit eben diesem Bus auf eben dieser Route zu eben dieser Zeit fuhren. Die anderen, die in Nachbardörfern oder sonstwo an der Busroute wohnten und vor oder nach einem selbst ausstiegen und an die man sich automatisch gewöhnte. Es war eine eigene Mikro-Gesellschaft, die sich da entwickelte. Sie wurde einem schnell vertraut, blieb aber doch dynamisch, weil es immer Neuzugänge und Abgänge gab.
Ich erinnere mich an die stille junge Dame, die ein wenig älter wirkte als wir, niemanden kannte im Bus, völlig ohne Anschluss blieb und diesen offenbar auch nicht wirklich wollte. Sie las exzessiv und kaute Lakritz. Jahr um Jahr. Einmal saß ich zufällig neben ihr, und sie bot mir vom Lakritz an. Ich weiß nicht mehr, ob ich eins nahm, sehr wohl weiß ich aber, dass ich damals, eventuell mit vierzehn oder fünfzehn, zu schüchtern war, um aus dieser kleinen Geste etwas zu machen. Nein, mit vierzehn dachte der Dorfknabe noch nicht an das eine, aber man hätte sich ja mal kennenlernen können. Aus der Retrospektive war die junge Dame womöglich die interessanteste unter der Bus-Stammkundschaft. Lange, braune Haare, geschmackvoll ökig, an die Titel der Bücher, die sie las, erinnere ich mich nicht mehr, aber ich bilde mir ein, dass es keine Cora-Hefte waren, sondern mehr so Hesse oder Salinger. Vielleicht las sie sie sogar freiwillig und nicht bloß als Schullektüre.
Die alten Bindungen zu den Dorffreunden waren aber noch da und wurden ein bisschen zum Problem, wenn es um das Knüpfen neuer Kontakte ging. Man hing ständig in drei, vier Sitzreihen auf einem Knubbel, quatschte sich dumm und dämlich und schloss dabei andere aus, deren Bekanntschaft vielleicht reizvoller gewesen wäre, neu und aufregend. Frisches Blut, neue Freunde, mit denen man in die postpubertäre Ära hätte hinüberdriften können, die ein bisschen außenseiterisch veranlagt waren wie man selbst und immer an der Peripherie der Sinneswahrnehmungen existierten, zwei, drei Sitzreihen weiter hinten oder vorne, wie die Lakritz-Kauerin. Aber der Gruppenzwang verhinderte diese Annäherungen, lediglich der Zufall konnte das bewerkstelligen, wenn zum Beispiel mal kein Platz mehr frei war neben den Kindheitskumpels. Ich hatte damals einen Freund, mit dem ich so gut wie immer zusammensaß. Während der Fahrt referierten wir uns ständig gegenseitig Filme, die wir gerade gesehen hatten, oder Bücher, die wir gelesen hatten. Wir waren, glaube ich, im Bus ziemlich berüchtigt wegen unseres Dampfplauderns. Dorf-Intellektuelle im Werden, ein furchtbares Paar. Es war nicht ganz einfach, sich aus dieser Bindung zu lösen, um sich beispielsweise einfach mal neben eine(n) andere(n) zu setzen. Es war Routine, und ein Durchbrechen derselben hätte für einige Irritation gesorgt in der Mikro-Gesellschaft des Busses. Der sitzt doch immer neben dem, warum sitzt er jetzt neben dem Mädchen da und redet mit der? Gab es Streit? Ist da was im Busch? So etwas wollte und konnte man damals einfach nicht zugeben, denn es war nicht cool.
Ich geriet später an diese wirklich sehr nette junge Dame aus dem Nachbardorf. Nach acht Jahren coolen gegenseitigen Ignorierens hatte ich plötzlich eine neue Buspartnerin. Eine hübsche, dunkelhaarige Gymnasiastin mit literarischen Interessen und einem schönen Lachen. Wer hätte das gedacht? Schließlich setzten wir uns wie selbstverständlich jeden Mittag zusammen und kündeten davon, wie es uns in der Schule ergangen war: „Schatz, wie war dein Tag?“
Dieser Kontakt entstand allerdings zu spät, die Wege trennten sich wieder und führten an unterschiedliche Gestade. Irgendwann, ziemlich bald sogar, war nämlich alles vorbei. Das Abitur war absolviert, der Bus fuhr nicht mehr für uns. Wir waren ihm entwachsen. Eine Zeitlang habe ich ihn echt vermisst.
Viele Jahre später sah ich meine Kurzzeit-Buspartnerin mal auf dem Supermarkt-Parkplatz, wie sie ihre Einkäufe und ihre zwei Kinder ins Auto hob. Ich sprach sie nicht an, das hätte sie womöglich irritiert.