Freitag, 6. Juni 2008

Fabrik

Das Rauchen habe ich mir angewöhnt, so richtig angewöhnt, beim ersten Studentenjob in den ersten Semesterferien. Es war in der deutschen Fabrik eines bekannten französischen Reifenherstellers, wobei es in diesem Werk nicht um Gummi ging, sondern um Draht für LKW-Reifen. Am einen Ende kamen gewaltige Spulen mit daumendickem Draht an, am anderen Ende verließen kleine Spulen mit dünnem Draht die Halle. Der wurde dann weitertransportiert und irgendwo in Frankreich von proletarischen Kollegen in LKW-Reifen eingeschweißt. Wenn am Rand der Autobahn mal wieder Fetzen von Lastwagenreifen herumliegen, denke ich an den Job zurück und spekuliere darüber, inwieweit hier eventuell eine studentische Aushilfe geschlampt hat.
Es war eine laute, stinkende Fabrikhalle, die man ohne Gehörschutz, Handschuhe und Sicherheitsbrille und -schuhe nicht betreten durfte. Außerdem war alles fettig und klebrig, denn der Draht lief etappenweise durch chemische Bäder, deren Hauptbestandteil irgendein Fett war, das alle Oberflächen bedeckte. Die dunkelgrünen Zieh- und Spulmaschinen waren in einem engen Oval gruppiert, über das eine Kette verlief, deren hydraulische Arme nach unten in die Maschinen griffen und die vollen Spulen abräumten, um sie am Ende des Ovals in einen Transportwagen zu laden. Unsere Aufgabe war es, den Betrieb zu optimieren, denn die Kettenführer waren mit den ihnen zugewiesenen drei Ketten (circa 60 einzelne Maschinen) durchaus überfordert. Es lief nämlich dauernd etwas schief, hauptsächlich weil den Maschinen der Draht ausging und kein Nachschub aus der vorherigen Abteilung kam, oder weil der feine Draht im chemischen Bad riss. Der Draht musste wieder angebunden werden, ich träume heute noch von diesem speziellen Knoten und knüpfe ihn im Schlaf. Oder es mussten schwere Spulen aus der vorherigen Abteilung herangerollt und in den Maschinen arretiert werden, eine Arbeit für Herkules den Bodygebildeten. Außerdem war der Transportwagen am Ende schnell voll (austauschen), der automatisierte Klebebandabroller hatte sich verheddert (entwirren), ein hydraulischer Arm war verhakt (Chef rufen). Bei den meisten dieser Aktionen war es aus Sicherheitsgründen nötig, die Kette zu stoppen (Lebensgefahr! Unbedingt durch die Lichtschranke treten!), weswegen alles ruckzuck gehen musste, um den Betrieb nicht aufzuhalten.
Es war ganz aufschlussreich, sich eine Zeitlang mal unter der arbeitenden Bevölkerung zu verdingen. Die verdiente ganz gut, fand ich, und auf dem Werksparkplatz standen auffällig dicke Autos mit sehr breiten Reifen, nur war ich der Auffassung, dass die Jungs irgendwie zu wenig Zeit hatten, die Kohle auch vernünftig auszugeben. Und der Schichtrhythmus war auch nicht ganz ohne. Morgen/Mittag, Nachmittag/Abend, Nacht. Kein Wunder, dass die alle Kettenraucher waren und einige echt fahrig wirkten. Einer zwinkerte dauernd, ein anderer redete unablässig mit sich selbst, aber man verstand ihn in dem Krach nicht. Der Boden war von Drahtresten, zerrissenen Handschuhen, Kaffeebechern und Kippen übersat. Einer, mit dem ich mich anfreundete, fragte mich nach meiner Freundin. Ich gestand, dass ich keine hatte, und er meinte: „Da kriegste ja nen dicken Sack!“ Das war so in etwa der Tonfall in der Halle. Ich lief in einem nerdigen Heavy-Metal-T-Shirt herum, es erschien mir irgendwie passend und angemessen proletarisch. Einer der Meister, die der jeweiligen Schicht vorstanden, leitete später auf einem einsamen Feldweg per Schlauch Kohlenmonoxid ins Innere seines Autos. Das war der nette Meister. Der andere war ein Giftwicht.
Die studentischen Aushilfen rentierten sich, wie ich aus belauschten Gesprächen der Arbeiter erfuhr. Einer zeigte dem anderen seine Produktionsaufzeichnungen der letzten Schicht und stellte fest, dass er ein Drittel (!) mehr geleistet hatte als ohne Student. Was sich wiederum in seiner Entlohnung niederschlug. Somit waren wir also nicht unbeliebt, und ich zog aus dieser einen belauschten Statistik ein gewisses Selbstbewusstsein und kam mir echt proletarisch vor. Man bot sich gegenseitig Zigaretten an und hockte paffend für fünf Minuten gemeinsam auf irgendwelchen Geländern und meditierte zum Maschinenlärm und den rhythmischen Bewegungen hydraulischer Arme oder mechanischer Abrollbügel. Die adrett gekleideten Herren aus dem Verwaltungsgebäude, die sich verständlicherweise selten in die Halle verirrten, verachteten wir allesamt. Während meiner Zeit kam ein „neuer Chef“, inspizierte erstmals die Halle und machte sich bei den Arbeitern lieb Kind, um im nächsten Moment Optimierungsvorschläge abzugeben. Schreiend, wegen des Krachs. Als er wieder weg war, zeigten einige der Kettenführer der Ausgangstür einen Vogel.
Ich verbrachte zwei Sommer in der Halle. Im ersten Sommer arbeitete neben mir als Aushilfe ein heute nicht ganz unbekannter Vertreter der „Atheisten“ und „Humanisten“, der unlängst mal wieder für einigen publizistischen Trubel gesorgt hat. Er war so ein ruhiger, ein bisschen vergeistigter Typ, der nicht viel sprach, sich ungeschickt anstellte und den vor allem die Arbeiter für eine arme Wurst hielten. Ich schätze mal, heute ist er noch seltsamer drauf.
Der Kaffee aus dem Automaten kostete drei Groschen, die Cola (0,5) fünf Groschen. Den schwersten Arbeitsunfall hatte ich, als ich abgestellt war, die Getränkeautomaten aufzufüllen und eine verkeilte Fanta-Flasche, die das Gerät blockierte, herausfummeln wollte. Dabei schnappte die Ausgabemechanik unten zurück und haute mir böse in den Finger. Ab und zu verkroch ich mich aufs Klo und hielt ein Nickerchen. Auf dem Klo gab es außerdem tolle Sprüche zu lesen, die von Zeit zu Zeit entfernt wurden, so dass man sie studieren musste, ehe der Reinigungstrupp kam. Der Toilettenpapierspender, so ein rundes Ding mit einer Riesenrolle im Inneren und einem Ausgabeschlitz unten, aus dem das Papier ragte, trug den Modellnamen „Katrin“. Ich schrieb daneben: „Katrin, du hast da unten was raushängen.“ Eine derartige Originalität habe ich seitdem nie wieder erreicht, ich schiebe es auf die eigentümlichen Toilettenvisionen um halb vier Uhr morgens, während nebenan die Fabrikhalle tobt und rattert.
Die definitive Hass-Tätigkeit war das Auffüllen der chemischen Bäder in den einzelnen Maschinen. Dazu musste man ein Riesenfass an einer Zapfstelle füllen, das Fass auf einen Elektro-Muli setzen und das Ding durch die ganze Halle ziehen, um mit dem Zapfhahn eine genau bemessene Menge an chemischem Fettzeug in die Bäder zu füllen. Das war unangenehm, nicht wegen des Fetts, sondern weil die Gänge so eng waren, dass man mit dem Scheißfass kaum darin rangieren konnte. Und die Kurven zwischen den Ovalen bekam ich auch oft nicht hin und lädierte Maschinen und eine Menge Blechverkleidungen. Einmal teilte man mir einen defekten Muli zu, was dazu führte, dass das Fass auf der einen Seite herunterhing und der massive Eisenfuß seines Gestells während der ganzen Route über den Stahlplattenboden schrammte und ihn mit hübschen Kerben versah. Der Hallenboden sah danach von oben aus wie ein kryptisches Diagramm. So hinterließ ich immerhin unauslöschliche Spuren, an denen die Archäologen in fünftausend Jahren zu rätseln haben.