Samstag, 3. Oktober 2009

Leistungsmarsch

Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach all den Jahren das Leistungsmarsch-Tempo noch draufhabe.
Gestern ließ sich Kamerad H., wohnhaft in der Eifel, in einem innerstädtischen Kölner Gefäßzentrum ambulant und unter Vollnarkose ein Gefäß im Bein veröden und erhielt nach dem Aufwachen vom Arzt die Order, für ein paar Stunden möglichst wenig zu sitzen oder zu stehen. Als Einheimischer erklärte ich mich bereit zur postoperativen Betreuung des Patienten. Ich fuhr mit der Straßenbahn hin zum Gefäßzentrum, zurück ging’s zu Fuß. Kamerad H. durfte ja nicht sitzen oder stehen. Kamerad H. ist Sportler und Gesundheitsfanatiker. Marathonläufer, Speed-Inliner, Tennis-Crack, Karottenfetischist und Vegetarier, Kaffeeverächter, militanter Nichtraucher und Power-Wanderer. Er war morgens schon den Weg vom Bahnhof zur Praxis gewandert und noch ein bisschen herumgestrolcht, weil er viel zu früh da war. Ungefähr drei Stunden zu früh.
Nach einem Päuschen in der Wohnung, während dem er nun unaufhörlich von Raum zu Raum wanderte und seine narkosebedingte Beduseltheit sich legte, brachen wir auf zum Hauptbahnhof, damit er zurück in die Eifel tuckern konnte. Kamerad H. durfte bekanntlich nicht sitzen oder stehen, also wiederum zu Fuß. Wir fingen früh genug los, denn er war ja „gehandicapt“. Kamerad H. befleißigt sich jedoch selbst im frisch operierten Zustand eines Tempos, als müsste er vor einer heranrollenden pyroklastischen Welle fliehen oder so was. Dabei reißt er auch noch munter Witze, während ich mit dem Schnaufen kaum hinterherkomme und beim Lachen Atemaussetzer habe. Unter anderem meint er, beim Bund wäre er heute sicher „Stillgestanden-befreit“. Und wenn nicht, dann hätte er den Begriff eben spontan erfunden und den Stabsarzt auf seine Seite gebracht. Ich halte tempomäßig bewundernswert mit, wie ich finde. Fast alle Ampeln auf der Strecke sind grün, weswegen es kaum eine Marschpause gibt. Zwei Mädchen flüchten sich vom schmalen Bürgersteig in einen Hauseingang, um uns vorbei zu lassen, so eingeschüchtert sind sie von dem Tempo, mit dem wir uns nähern.
Besonders heiter wird es in der Hohen Straße, die wie üblich komplett voll mit Menschen ist, angesichts derer Kamerad H. aber nicht die geringsten Absichten zeigt, die Geschwindigkeit zu verringern. Der bislang geradlinige Marsch verwandelt sich nun in ein rasantes Schlenkern, ein Hineinstoßen in Lücken, in Ausbremsen und Touchieren, in Beinahe-Kollisionen und in mehrmaliges entsetztes Quieken meinerseits. Langsamer machen kann ich jedoch nicht, sonst verliere ich Kamerad H. da vorne in der Menschenmenge. Dann erweist sich Kamerad H. als Mann von Ehre, als vor ihm ein älteres Ehepaar kreuzt – der Mann schiebt seine Frau im Rollstuhl – und er abbremst, statt über die sitzende Frau zu hechten, wie ich es erwartet hätte. Ich schieße an ihm vorbei, bin angesichts dieser Verzögerung irritiert und blicke zu ihm zurück, wobei ich fast in einen mobilen Pizza-Stand hineinrenne. Mir kommt das alles vor wie „Star Wars“ und der Flug durchs Asteroidenfeld, an meiner Seite ein Eifelaner, der auch noch jeden Großstadt-Freak, den er im Vorbeiflitzen erspäht, ausgiebig kommentiert und Witze reißt.
Im Bahnhof wird es nicht besser, denn auch der ist proppevoll, und wir müssen natürlich ganz durch bis Gleis 8, und selbstverständlich bewegen wir uns mit halber Lichtgeschwindigkeit gegen die Menschenmasse statt mit ihr. Ich versuche verzweifelt, an den Rand auszuweichen, aber Kamerad H. hält sich den geschlossenen Schirm wie eine Barriere vor den Leib und bleibt stur mittig.
Als wir, mehr als eine halbe Stunde zu früh, auf dem Bahnsteig anlangen, läuft Kamerad H. noch ein wenig auf und ab zwischen den Abschnitten A-E, während ich verzweifelt nach einer freien Sitzgelegenheit Ausschau halte, die es nicht gibt. Nachdem ich ihn heil in seinen Zug bugsiert habe („Ich laufe während der Fahrt noch ein bisschen auf dem Gang herum“), genieße ich es, mit einer langsamen, stockenden U-Bahn-Linie 16 zurückzufahren und die Tunnelwände anzustarren.
Abends ruft Kamerad H. noch an, während ich mit zitternden Muskeln, ziehenden Sehnen und jämmerlich klagend flach auf dem Rücken liege, und bestätigt, dass er gut heimgekommen ist. Er meint, er sei jetzt doch etwas müde und ginge ins Bett, damit er morgen fit sei zum Sport.