Donnerstag, 29. Dezember 2011

Pralinen

So langsam erreicht man das Alter, in dem man zu Weihnachten beunruhigend viele Pralinen geschenkt bekommt. Das hat mutmaßlich auch zu tun mit der obligatorischen Antwort auf die obligatorische Frage nach Geschenkwünschen: „Ich hab alles. Frau, Katze, Dach überm Kopf, Universitätsabschluss, Breitbildfernseher und Blu-ray-Player. Ich brauch nix.“ 
Dann also Pralinen. Meistens welche mit „hochgeistiger“ Füllung. Die Schenker könnten sich theoretisch auch zusammentun und zwei Flaschen Cointreau mit Schokoladenüberzug schenken. Wäre platzsparender. Die Schachteln türmen sich zu einem beachtlichen Stapel, und ich werde mindestens ein halbes Jahr lang lallen, taumeln, gegen die deutsche Schrankwand knallen und Heinz-Erhardt-Filme gucken müssen, bis ich sie alle gewürdigt und ordnungsgemäß entsorgt habe. Erschwert wird die Sache dadurch, dass auch die Gattin von diversen Kunden usw. Pralinen geschenkt bekam, die sie aber nicht isst, weswegen die Schachteln natürlich auf meinem Stapel landen. Prosit.

Sonntag, 25. Dezember 2011

Christmette im Stehen

Nach dem Umzug in die Südstadt wurde ein Langzeitprojekt in Angriff genommen. Jeweils eine Christmette in einer der zwölf romanischen Kirchen Kölns. Jedes Jahr eine andere.
Das erste Jahr galt noch der nicht-romanischen (aber immerhin neogotischen) Kirche St. Paul in unmittelbarer Nachbarschaft, die sozusagen unsere „Gemeinde“ darstellt und deren Pfarrbrief wir regelmäßig im Briefkasten vorfinden. Aber danach ging’s dann richtig los. 
Erst war St. Severin dran, kurzer Fußmarsch nur. Das Jahr darauf ging es zu St. Georg, direkt am Stadtarchiv-Loch. Volles Haus, ganz hinten gesessen und gefröstelt. Ich erinnere mich an eine progressive, fast ein bisschen aggressive Predigt, die mir gefallen hat. Im Schneeidyll des letzten Jahres wanderten wir zu St. Pantaleon und zum Theophanu-Grab. War der allerschönste Anblick bei dem Schnee und im Dunkeln, das reinste Postkartenmotiv, aber die konventionellste und schlechtbesuchteste Mette. Nicht mehr als fünfzig Leute in dem Riesending. 
Dieses Jahr besuchten wir die vierte romanische Kirche und machten ein Drittel des Langzeitprojekts voll. Es ging zu St. Maria in Lyskirchen (1210/20). Diese kleine, dafür umso schönere Kirche ist für Christmetten während Wirtschafts- und Währungskrisen eindeutig nicht ausgelegt. Wir kommen 25 Minuten vor Beginn, und sogar die Stehplätze sind schon knapp. Also irgendwo an den Rand hinter einen Pfeiler verkrümelt, still die Leute begutachtet und im Stehen der Weihnachtsandacht gefrönt. Müssen dann etwas nach vorne tippeln, denn ich stehe direkt auf der Heizung, und nach einer halben Stunde hätte man mich als Flüssigkeit in einem Wischmopp nach Hause tragen können, um mich über dem Waschbecken auszuwringen. Immerhin stehen wir jetzt direkt an der berühmten, wirklich tollen Kölschen Milieukrippe und können sie während der etwas zäheren Passagen im Gottesdienst ausgiebig bewundern. 
Ich liebe den Geruch von Weihrauch am Abend. Von dem gibt es reichlich, lecker, aber sonst ist nur wenig Brimborium. Nicht mal Messdiener. Sympathisch, wie leidenschaftlich der Priester die Weihnachtsbotschaft paraphrasiert. Er stampft sogar mit den Füßen auf, gestikuliert feingeistig und umschreibt das verderbliche Schreiten von Soldatenstiefeln (abgeleitet aus der obligatorischen Lesung aus dem Buch Jesaja) mit „Knirsch, knirsch, knirsch“. Die Frau neben mir kickelt. Ein Tenor singt. Der Organist ist gut drauf. Die Gabenbereitung findet auf dem Gang mitten unter den Leuten statt. „Wir tragen jetzt mal gerade einen Tisch rein.“ Ich betrachte derweil die Krippe und die 120 Kerzen über meinem Kopf. 
Nach insgesamt eindreiviertel Stunden im Stehen sind die Füßlein etwas platt und der Rücken zieht spürbar an der rechten Seite. Standbein, Spielbein. Der Rückmarsch zu Fuß ist Pflicht, um den Kadaver wieder zu wecken. Georg- und Severinstraße sind hell erleuchtet, kaum jemand ist unterwegs, nur ein paar Leute rennen mit Tüten oder Flechtkörben herum, aus denen die Geschenke lugen. Offensichtlich warten irgendwo noch Kinder auf ihre Bescherung. Vor dem Seniorenstift und dem Krankenhaus holen Autos die alten Mütter ab. Zu Hause angekommen, lebt der Kadaver wieder, und aus dem Fenster des wohlhabenden Nachbarhauses schallen schiefe Blockflötenklänge. „Sti-hi-lle (pieps) Na-acht. Hei-hi-lige (kreisch) Na-acht. A-ha-lles (flöt) schlä-äft, ei-hei-nsam wa-acht (schrill) …“ So muss das sein.

Samstag, 24. Dezember 2011

Dienstag, 20. Dezember 2011

Der Zeit weit voraus

Gestern Abend erstmals Die Päpstin gesehen. TV-Langfassung. Kannte bisher weder das Buch noch den Kinofilm. War begeistert. Die Hauptfigur vertritt um das Jahr 840 n. Chr. herum jede nur erdenkliche progressive Idee. Bevor sie jedoch die AKW-Bewegung gründen, „Das Kapital“ schreiben, 95 Thesen an die Kirchentür nageln und die 35-Stunden-Woche ausrufen kann, stirbt sie. Was ich persönlich schade fand.

Montag, 19. Dezember 2011

Advent in echt

Traditionelles Adventskonzert auf dem Dorfe. Alle Musikvereine in der Kirche. Seit meiner Zeit damals haben sie sich gemausert, sind moderner und schmissiger geworden. Bin durchweg beeindruckt. Die Blasmusik hat sogar eine junge Luxemburger Musikstudentin als Dirigentin. Die Mandolinisten und -innen versuchen sich derweil an John Miles’ „Music“, und es gerät zu einem Triumph. Eine Seventies-Miniatur-Rock-Suite, arrangiert für ein Mandolinenorchester – nichts weniger als überraschend. Super Rhythmusgruppe unter Schlagzeuger Pinky, aber der war damals schon gut. Eigentlich ein Rock’n’ Roller. Der Kirchenchor gibt Roy Black: „Weihnachten bin ich zu Haus“. Man könnte heulen vor Rührung, aber man ist ja ein Kerl. Und: Dieses Jahr ist die Kirche sogar beheizt. 
Mittendrin gibt es eine Störung. Nach dem Ende eines Stücks und in andächtiger Stimmung erklingt vom Eingang her eine ungünstig hohe Männerstimme, die frappant an die aus dem Loriot-Cartoon mit den Comedian Harmonists erinnert: „Halt, halt, halt!“ Alle zucken kollektiv zusammen und wenden sich um. Ich könnte mich wegschmeißen vor Lachen, denn es ist nahezu original Loriot. Als wollte der Meister sich aus dem Jenseits ins Geschehen einbringen. Dann die profane Auflösung: „Da draußen blockiert das Auto mit der Nummer TR-XY 123 die GESAMTE Straße! Da stauen sich schon zwanzig Fahrzeuge!“ Der Besitzer des Autos spurtet raus – jemand vom Kirchenchor –, Problem wird behoben, Verkehr fließt, Stimmung wieder andächtig. 
Zu dieser Veranstaltung kommt echt jeder, denn a) jeder ist einem der Musikvereine, b) jeder, der nicht in einem der Musikvereine ist, kommt zuhören, c) jeder, der nicht in einem der Musikvereine ist und nicht zuhören kommt, findet sich danach zum Stubbi-Kippen im Gemeindehaus ein. Ich stelle allerdings fest, dass ich nur noch jeden Fünften kenne und mich erstmal akklimatisieren muss. Ein Stubbi hilft dabei. Werde trotzdem nicht sehr alt, muss noch arbeiten. 
War alles für einen guten Zweck. Im Sommer verunglückte ein Bursche aus dem Dorf schwer mit dem Auto und weilt seitdem in derselben Reha-Klinik wie der „Wetten, dass …?“-Kandidat. Ihm und der Familie sollen die Spenden und der Erlös des Abends zufließen. Gut. Der Zusammenhalt ist beeindruckend, vor allem die Selbstverständlichkeit desselben. Advent in echt. Gibt’s tatsächlich noch.

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Test-Tube Conceived

Musste auch dringend mal wieder durchgehört werden. Macht mich ganz sentimental. Das letzte Studioalbum von Herrn Calvert. 1986 erschienen. Zwei Jahre später war der Mann leider mausetot.
Ich halte Robert Calvert bekanntlich für einen der aufgewecktesten Rockmusik-Dichter des Atomzeitalters und des Kalten Krieges und für einen, der aus persönlichen Ambivalenzen große poetische Spannung generierte. Sein Interesse an Technologie und ihren Möglichkeiten befeuert auch die Kessel von Test-Tube Conceived, zugleich werden (Natur-) Wissenschaft und Weißkittel böse angegangen. Retortenwesen, Gen-Technologie, Tierversuche, Computerkriminalität, Psi-Experimente, Allmachtsphantasien – alles wird verhandelt. Mal treibt der Drang zur Ironie Calvert an, mal die Lust am L’art pour l’art, mal ist er engagiert und völlig frei von Humor. Beim Thema Tierversuche sind Spott oder Humor auch nicht unbedingt angesagt („Save Them“).
Ich mochte das Album damals nicht so sehr. War mehr so ein Pflichtkauf. Ich stand Mitte der Achtziger eher auf fetttriefenden Power-Rock, Metal sogar, also war mir Calverts Soundsoße zu dünn. Bis auf etwas schartigen Radau war die Platte quälend minimalistisch, skelettiert, steril, wavig, technoid, zu hingehaucht.
Heute erscheint gerade diese Zurückgenommenheit natürlich völlig konsequent. Man kommt sich vor wie in einem weißgekachelten, neonbeleuchteten Vivisektionsraum, während man einem hochkonzentrierten Pathologen beim Rumschnippeln zuschaut. Die asketischen, hallenden Synthie-Sounds, die aufgerauhte Stimme, die Langsamkeit und der gezielte Einsatz von Effekten machen aus Test-Tube Conceived ein gespenstisches Album mit sehr klaren, sehr poetischen Botschaften. Eine etwas aufwendigere Produktion, die aus Budgetgründen gestrichen werden musste, hätte der Platte dennoch gut getan.
Später im selben Jahr interpretierte Calvert zusammen mit der Begleitband Maximum Effect einige der Stücke live, und die Mitschnitte zeigen die fülligere, aggressive Seite dieser Technologiekritik. Eine neue Solo-Platte, die von Brian Eno produziert werden sollte, war in Planung, knackige Demo-Aufnahmen lagen vor. Und mit Hawkwind stand Calvert auch wieder in Verhandlungen. Mittendrin in diesem hoffnungsvollen Treiben haute es ihn 1988 um. Verdammt schade, denn das hätte spannend werden können.



Montag, 12. Dezember 2011

Thüringer Bratwurst

Ich bin ja bekanntermaßen nicht so der Weihnachtsmarkt-Enthusiast. Bin nicht mit denen sozialisiert worden, denn zu meiner Zeit gab es sie schlicht noch nicht. Der erste Weihnachtsmarkt im heimischen Trier dürfte so Mitte der Achtziger stattgefunden haben. Da war ich schon fast zwanzig und nicht mehr ganz so kulleräugig. Über die Jahre hat sich der W-Markt vom Trierer Hauptmarkt bis auf den Domfreihof ausgedehnt. Irgendwann hatte dann jedes Kaff in der Region seinen W-Markt. 
Das Hauptmotiv für die Existenz von Weihnachtsmärkten, Glühwein, ist mir auch stets ein Rätsel geblieben. Kriege ich die Scheißerei von, außerdem klingt der vielbeschworene Aufwärmeffekt schnell ab und verwandelt sich in einen Kälteeffekt. Dem kann nur entgegengewirkt werden durch noch mehr Glühwein. Eine sehr durchsichtige Strategie der Profitmaximierung. 
Als eminent brauchbar hingegen erwies sich auf den ersten Trierer Weihnachtsmärkten die Thüringer Bratwurst. Der Stand befand sich stets am Rand, man musste gar nicht tief rein ins Gewühl. Der Standort wie auch der Preis blieben bis heute stabil, was man so hört. Seit diesem – ich nenne es beim Namen – kulinarischen Hochgenuss, nach dieser Initiation in die Freuden der Zum-Mitnehmen-Gourmetbraterei wurde auf anderen Weihnachtsmärkten, hauptsächlich im Rheinland, stets zuerst Ausschau gehalten nach den Bratwurstständen und nach dieser speziellen Thüringer Bratwurst. Sie ist lang und dünn und wird in der Mitte geknickt, um ins Brötchen zu passen. Viele Bratwurststände kokettieren mit „Thüringer Bratwurst“, aber ein Blick aufs Rost zeigt, dass es meist nur gewöhnliche Bratwürste sind, die in keinster Weise mit der Gewürzexplosion der echten konkurrieren können. 
Wichtig dabei ist: Diese Wurst gehört ausschließlich auf den Weihnachtsmarkt. Sie zu anderen Jahreszeiten irgendwo ausfindig zu machen und dann inflationär in sich reinzuschaufeln, würde die Atmo zerstören und den Moment des Genusses sabotieren. Nein, nur einmal im Jahr und für begrenzte Zeit. Insofern ist der Weihnachtsmarktbesuch doch zur Pflicht geworden. 
Die Gattin bevorzugte dieses Jahr den kleinen Markt im puppigen Brühl, wo sie palettenweise Lebkuchen in hübschen Dosen abgriff. Echten Nürnberger Lebkuchen, nicht so ein Pseudo-Zeug. Ich schaute mich derweil etwas um, roch mich durch die Gastronomie-Buden und darf die frohe Botschaft verkünden: In Brühl gibt es sie, die echte Thüringer. Es ist, wenn man von der Innenstadt her kommt, die zweite Wurstbude des Marktes, die auf der linken Seite, gleich gegenüber dem Kinderkarussell. Was für eine Wiederschmeckensfreude! Ich aß gleich zwei davon, denn diese Saison komme ich hier nicht mehr vorbei. Eine dritte hätte eventuell noch gepasst. Ich bin ganz reuig. 
Brühl ist überhaupt recht lieblich. Man verzichtet dort auf Musikberieselung vom Band und verfügt stattdessen über eine zappelige, freudig erregte Live-Combo, die Weihnachtslieder im authentischen Swing-Modus abdudelt, sowie über einen einsamen, falsch, aber wacker spielenden Trompetenjungen. Er steht ein paar Schritte abseits der Lebenden Krippe, wo die Darsteller tapfer dauerlächeln. Vermutlich haben sie dreizehn Schichten Fleece unter den pseudo-antiken Gewändern. Sie wirken jedenfalls alle ziemlich rundlich. Könnten natürlich auch Thüringer Bratwürste oder Dampfnudeln dran schuld sein. Die vorbeiflanierenden Kinder bleiben stehen und zuppeln manisch an Esel, Schaf und Lämmchen herum. Den Viechern ist es egal; sie haben dickes Fell. Ausgerechnet die Hauptfigur, das Kind in der Krippe, ist jedoch eine Puppe. Meiner Meinung nach eine falsche Rücksichtnahme. 
Auf dem Weg zum Bahnhof, während die Bratwurst heimelig im Magen quellt, kann man dann noch das illuminierte Schloss von Clemens August bewundern, als sei es eine fette Vision vor dem Sternenzelt. Nett.

Montag, 5. Dezember 2011

Plünderer

Mit das Schlimmste auf der Welt: Berufsschüler. 
Vor allem dann, wenn der Endverbraucher (= ego) gerade kontemplativ den Einkaufswagen durch den völlig leeren Supermarkt schiebt, die Regale studiert und auf Inspiration und Vision hofft. Dann fallen sie ein, die Berufsschüler aus der fragwürdigen Erziehungsanstalt nebenan. Immer zwischen 9.30 und 10.00 Uhr. Hundertfünfzig Stück auf einmal. Sie schreien, sie plündern, sie brandschatzen, hauen alles kaputt und vergewaltigen. Sie labern, sie kreischen, erzählen dumme Witze, sie rempeln, sie stehen grüppchenweise dumm herum und telefonieren mit ihren Handys. Sie kaufen nur sehr wenig – Kaffeekaltgetränke, Sandwiches, Croissants, Teilchen, Brötchen, Kaugummis –, verstopfen dabei erst die Gänge, dann die Backwaren-Ausgabe („Bitte benutzen Sie die Griffzange. Berühren verpflichtet zum Kauf“) und schließlich die Kassen („Sagen Sie unseren Mitarbeitern Bescheid, wenn mehr als fünf Kunden vor Ihnen stehen“). Die Schlange geht fast durch den ganzen Laden, und während sie warten, spielen sie Browser-Games auf ihren Handys (Jungmänner) oder zupfen sich gegenseitig an ihren Strähnchen (Jungmädels). Sie quieken, lassen Münzgeld fallen, dann ist auch noch der Zigarettenautomat an der Kasse leer. 
Der Endverbraucher schiebt seinen Einkaufswagen derweil ganz nach hinten in die äußerste Ecke des Markts (Dosengemüse und H-Milch), verharrt regungslos, verhält sich still, starrt teilnahmslos auf die Erbsen und Möhrchen und wartet, bis der Tumult sich legt. Es dauert danach eine Weile, bis er den zum Einkaufen nötigen Grad an Kontemplation wiedererlangt hat und sich nach vorne in Marsch setzen kann, um an der Backwaren-Ausgabe nachzuschauen, was die Plünderer ihm übrig gelassen haben.