Sonntag, 9. Dezember 2007

In memoriam again

Neulich ist übrigens Herr Stock gestorben.
Als mein jüngerer Bruder auf der Bildfläche erschienen war, verließen meine Eltern die Mietwohnung (50 Mark Monatsmiete) und bauten ihr Eigenheim im damaligen Neubaugebiet des Dorfs. Einige Zeit darauf setzte eine schon etwas betagtere Kleinfamilie von außerhalb ihr Fertighaus schräg hinter uns. Als viele Jahre später deren Vater starb, ließen Frau und Tochter (und mittlerweile aufgetauchte Enkel, aber diese Geschichte ist jetzt zu kompliziert) Papa/Opa umbetten und zogen zurück in ihre Heimat.
Ihr Haus kaufte Herr Stock und wurde damit unser neuer Nachbar. Auch er stammte irgendwo von außerhalb. Er arbeitete bei einer Bank in Luxemburg, war wohl etwas über Vierzig, alleinstehend, hatte mal Familie gehabt, war aber offensichtlich von der geschieden, und brachte eine Hauskatze mit. Die kleine Miezi, die sich nie draußen blicken ließ. Kurz darauf besaß er zwei weitere aus dem Tierheim, die sich kaum drinnen blicken ließen, und ab 1989 prügelte sich unser Kater mit Herrn Stocks Kater, als ginge es um nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Die Nachbarschaft ertrug das Geschrei und Gefetze mit Würde.
Herr Stock war immer sehr nett und freundlich, eine Seele von Mensch, blieb aber stets der etwas zurückgezogen lebende, fremde Nachbar, der sich in Dorfbelangen nicht sonderlich engagierte, ein vollbärtiger Pfeifenraucher und Hifi-Freak, der dauernd UPS-Pakete mit neuen Technik-Komponenten bekam. Den Dachboden hatte er zum Hifi-Studio umgebaut. Irgendwann kaufte er sich auch ein Oldtimer-Auto, das aber stets nur in einem abgesperrten Carport neben dem Haus stand und nie in Benutzung war. Als im Jahr 2000 unser Kater starb, bekam Herr Stock mit, wie wir ihn im Garten begruben, rannte ins Haus und kam mit einer Rose (und Tränen in den Augen) zurück. Die Rose legten wir nach getaner Arbeit aufs Katergrab und schnieften uns eins.
Herr Stock hat in den 90ern auf dem Weg zur Arbeit mal einen schweren Autounfall gebaut, von dem man nicht jedes Detail erfuhr. Er war offenbar schuld, und es gab Tote, mindestens einen. Herr Stock selbst war auch schwer angeschlagen, weniger körperlich denn psychisch, die Rekonvaleszenz glitt unmerklich in Arbeitsunfähigkeit über. Führerschein hatte er jetzt auch keinen mehr. Es gab manchmal psychische Probleme, die durch zu viele oder zu wenige Medikamente verursacht wurden. Es war alles etwas unklar und entzog sich den üblichen Tratschkanälen, weil Herr Stock eben so alleinstehend war. Mein Vater musste einen stark verwirrten Herrn Stock einmal mehr oder weniger vor sich selbst retten. Lediglich unsere damalige Post-Ausfahrerin, die zugleich bei Herrn Stock putzte, konnte die Außenwelt mit rudimentären Informationen über seinen Haushalt versorgen, aber auch das blieb Episode.
Herr Stock heiratete noch mal, eine jüngere Frau aus dem Bankenwesen, die sich um ihn kümmerte. Als Herr Stock dann Lungenkrebs bekam, begann dieses monströse Auf und Ab, das man niemandem wünscht. Manchmal fuhr er die ganze endlose Strecke mit dem Bus zur Chemotherapie. Er hielt sich ausgesprochen lange, Jahr um Jahr. Zuletzt hatte seine Frau ihn in ihrem eigenen Haus in einem Nachbarort untergebracht, ehe es von dort ins Trierer Hospiz ging.
Ich wäre gerne zu seiner Beerdigung gegangen, aber der Umzug nahm mich zu sehr in Beschlag. Manfred Stock in memoriam. Ich werde wohl im Frühjahr mal ein spontanes Wiesenblümchen auf sein Grab legen.