Montag, 31. Oktober 2011

Einkaufshilfe

Zusammen mit mir verlässt eine reifere Dame, geschätzt siebzig, den Supermarkt und tänzelt beschwingt und mobiltelefonierend an mir vorbei mit ihrem Trolley in apartem Rentnerinnen-Karo-Muster. Ich hingegen habe die ganzen Einkäufe in meine Stoffbeutel gestopft und sie irgendwie so auf Schultern und Hände verteilt, dass ich keuchend herumhumple wie der Glöckner von Köln-Süd und grantig mit mir selbst spreche. 
Ich habe es bisher aus Gründen der Eitelkeit nie ins Auge gefasst, aber ich brauche auch so einen Trolley in apartem Rentnerinnen-Karo-Muster. Ich möchte auch wieder tänzeln können.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Zoo im Herbst

Es sind nicht so viele Leute da, die Viecher trauen sich öfter mal raus ohne den Lärmpegel. Vielleicht liegt’s auch am schwachen Licht. Einige 'Premieren' erlebt. Kreaturen, die sich sonst eher verstecken oder „Leckt mich am Arsch“ denken. Erstmals den Leoparden gesehen. Er ist zu gut getarnt, als dass man ihn erkennen könnte, wenn er irgendwo flachliegt. Diesmal flitzte er allerdings herum. Und den Geparden von ganz nah bestaunt. Später sogar in blitzschneller Aktion. Brüllende Löwen. Ein latschendes Krokodil. Sonst liegen diese Dinger immer flach. Nilpferde bei der Fütterung. Fledermäuse in ihrer Höhle. Waschbären in Aktion. Grizzlys beim Erjagen einer Möhre. Die Elefantenherde drinnen wie draußen. Ein gegen das Gatter donnerndes Nashorn. Und, ach, endlich: Wasserschweine von nahem! Ich will auch eins! Tapire. Otter-Nachwuchs. Höhepunkt zum Schluss: Der Tiger erhebt sich, tigert herum und nimmt ein ausgiebiges Bad vorn im Wassergraben. Was für ein Brocken! 
Im Tropenhaus den Vogel wiedergetroffen, den wir letztes Mal „Hartmut“ getauft hatten. Vielleicht war’s aber auch Hartmuts Bruder Rüdiger. Man weiß es nicht. 
Hier die entsprechende Knips-Strecke. Vieles wurde durch Scheiben aufgenommen, was der Schärfe nicht unbedingt förderlich ist. Und das Licht war generell nicht so doll für eine Hosentaschenkamera.

Sonntag, 23. Oktober 2011

Meine zweite Scheidung, meine Knie-OP, meine Bonusmeilen

Anfangs kommt man sich schon etwas verloren vor zwischen so vielen Leuten, die man eigentlich kennen sollte. Manche schauen einen seltsam an. „Ist der auf der richtigen Feier?“, mögen sie heimlich denken. „Oder ist das einer dieser Event-Schnorrer?“ Ein 25jähriges Abi-Jubiläum ist eine hervorragende Gelegenheit für Schnorrer. Ich hingegen muss konstatieren, dass ich die Gesichter sofort erkenne und nur in wenigen Fällen die Namen nicht mehr parat habe. 
Nach dem Aufwärmsektchen geht es dann so langsam in medias res im historischen Frankenturm zu Trier. Über das obligatorische „Mein Haus, mein Auto, meine Jacht“ sind wir in dem Alter hinaus. Es geht eher um „Meine zweite Scheidung, meine Knie-OP, meine Bonusmeilen“. In der Begrüßungsrede des Organisators erfährt man, dass der eine verstorbene Mitschüler nicht, wie vermeldet, überfahren wurde, sondern schwer krank war. Das ist noch bedenklicher. Und ein pensionierter Lehrer ging vor vier Wochen in die Mosel. Auch wegen Krankheit. Für einen im Prinzip unsportlichen Typen wie mich ist es nicht ganz einfach, mit einem Sportlehrer angenehme Erinnerungen zu verbinden, aber an den äußerst fairen Unterricht dieses Mannes erinnere ich mich gern. Zwei andere Lehrer sind da, der eine, fast achtzig, gebärdet sich so jovial, dass er phasenweise alles an sich zu reißen droht. Der andere ist so frisch, dass ich zuerst denke, er gehört zum Jahrgang – bis ich in ihm allen Ernstes meinen Mathematiklehrer erkenne, nur ohne Bart. Mit dem jovialen alten Mann gehe ich natürlich höflich um, aber ich habe ihn damals schon nicht gemocht, und das prägt fürs Leben. Nun sitzt er aber an unserem Tisch. 
Ja, auf der oberen Ebene des Turms sind Tische eingedeckt wie bei den besseren Leuten. Das Buffet ist fein, aber nicht überfein. Ich spreche den Kartoffeln in Pfeffersauce und dem Lachs zu. Für das Gesöff stehen 700 € Spenden zur Verfügung. Als die aufgebraucht sind, geht der Organisator herum und sammelt. Es wechseln Hände voller beeindruckender Fuffziger den Besitzer, ich habe aber nur noch einen Hunderter, und das ist mir zu viel der nachträglichen Spende. Zumal ich mich ohnehin nicht zuschütten kann. Muss ja nachher noch aufs Dorf raus. Ich komme mir schäbig vor. Aber nur ganz kurz. Also doch Schnorrer. 
Für einige der alten Kumpels sind sofort die alten Sympathien wieder da. Es mögen noch so viele Jahre dazwischen liegen, immer ist es so, als sei keine Zeit vergangen. Sie verändern sich nicht. Okay, sie werden fülliger, aber innen drin alles wie gehabt. Es sind, wie mir auffällt, meistens die No-Bullshit-Typen, die stabilen. Die Jungs, zu deren Kindergeburtstagen man damals schon eingeladen war und die man selbst einlud, sind eben auch heute noch die erste Wahl. Es zeigt sich auch eine gewisse Grundschwingung zwischen den wenigen Teilnehmern des Deutsch-Leistungskurses. Es ist keine Freundschaft, auch nicht direkt Sympathie, sondern jene Art stiller Wertschätzung, die Überlebende einer Frontkompanie untereinander teilen. Man nickt sich zu und weiß
Eines der wenigen anwesenden Mädels macht ein gestelltes Foto von mir mit einem anderen Mädel im Arm. Ich habe mit dieser Dame im Arm in neun Jahren Gymnasialzeit nie auch nur ein Wort gewechselt. Während der spontanen Foto-Session übrigens auch nicht. Und die etwas füllige Metzgerstochter von damals ist jetzt so schlank und zierlich, dass ihr Kopf zu groß zu sein scheint. Sie war Karnevalsprinzessin irgendwo an der Mosel. Parallelgesellschaft. Etwas verspätet kommt der Bursche, der denselben Vornamen trägt wie ich und am selben Tag Geburtstag hat, aber ansonsten ein vollkommen konträrer Typ ist. In einigen Tagen ist es wieder so weit mit dem Geburtstag. Großes Hallo, vorausgreifende Glückwünsche. „Fühlst du dich so alt, wie du bist? – „Ja, so fühle ich mich“, sagt er. – „Also, ich bin immer wieder aufs Neue überrascht“, meine ich. 
Als erstaunlich erweist sich das zufällige Zusammenstehen mit dem langen Kerl, der damals immer ein bisschen abgedriftet wirkte und mit dem ich nie engeren Kontakt hatte. Er ist immer noch abgedriftet, und er ist Psychiater in Köln. Er hat eine ironische Ader, die die Ausmaße des Nildeltas erreicht, und einen tiefschwarzen Humor, ist dabei aber völlig unaffektiert und verzieht meist keine Miene. Wir verbünden uns, wie wir da in der Ecke stehen, und tuscheln in mysteriösen, ad hoc verschlüsselten Volten über die Hackfressen. Er erfindet den Begriff „Semi-Hackfresse“, und sein Lieblingswort lautet „regressiv“. Den übermäßig jovialen Ex-Lehrer hält er „für ein Hologramm“. Wir tauschen E-Mail-Adressen aus, denn er ist oft in der Südstadt. Da gibt es die größte Therapeutendichte in Köln. 
Als dann, nach etwa sechs Stunden, der Moment kommt, in dem der angeheiterte Organisator von Tisch zu Tisch schwankt und jedes harmlose Bonmot schlüpfrig grinsend zu einem Herrenwitz uminterpretiert, merke ich, dass es Zeit ist zu gehen. So viel darf ich ja gar nicht saufen, wie ich jetzt eigentlich müsste.

Freitag, 21. Oktober 2011

Unverstellt

Eine der meistgeschätzten Personen im Dorf ist für mich heutzutage mein alter Kindheitsfreund M. Terminlich sehr nahe beieinander geboren, lokal sowieso. Gemeinsame Grundschule, gemeinsame Kindheit. Ich treffe ihn einmal im Jahr zufällig zum Plausch vorm Haus, wenn er die Tür zum alten Stall offen stehen hat und drinnen in der Werkstatt herumwurschtelt. Es wird dann so lange geplaudert, bis seine alte Mutter, seine Frau oder seine Kinder etwas wollen und das konspirative Treffen sprengen. Mitunter lassen sie sich stundenlang nicht blicken. 
M. ist ein großer, breiter Mann mit roten Wangen. Einer, der von seiner Hände Arbeit lebt und seine Familie ernährt. Ein Schrauber mit dreckigen Fingern. Er räumt gerade irgendwas auf. Das Händeschütteln will er erst verweigern, weil er mich damit ja auch dreckig macht. „Na und?“, sage ich und halte ihm und seiner Maschinenölpranke meine blassen Redakteursfingerchen hin. Das muss so. 
Es beginnt mit dem Thema Autoreparatur und TÜV, geht irgendwie über zu Handys, dann zum Thema Alter, wobei des Öfteren herzlich gelacht wird. Er meint, seine Frau hätte ihn neulich „altes Männlein“ genannt. Ich schlage ihm vor, mit „du altes Pony“ zu kontern. Dann wird noch über „Wer wird Millionär?“ geredet, und schließlich mäandert es in alle Richtungen. Zwischenzeitlich wird den Fahrern langsam vorbeirollender Autos oder Passanten zugenickt oder -gewunken. Sobald sie außer Hörweite sind, erfahre ich die neuesten Geschichten über sie. 
Und jetzt kommt Ms größte Stärke zum Tragen: das Desinteresse daran, sich zu verstellen, und seine daraus resultierende Grundehrlichkeit. Was er verbreitet, ist kein dahergeflüsterter Klatsch, sondern ausschließlich durch eigene Erfahrung abgesicherte Erkenntnis, die er dennoch in seiner natürlichen Bescheidenheit ständig als subjektiv bewertet. Es ist also alles mit Vorsicht zu genießen, sagt er, aber ich glaube ihm jedes Wort. Denn er hat wirklich kein Interesse an Übertreibungen und Skandalisierungen. Was als subjektiv gekennzeichnet wird, ist in Wirklichkeit so nahe an Objektivität, wie es nur sein kann. Das geht bei niemand anderem außer bei M. 
Es gibt bei ihm auch nicht die leiseste Note des auf dem Land recht beliebten Aushorchens, das als höfliches Nachfragen getarnt wird und doch gern ein bisschen weiter und indiskreter geht als nötig. „Wie geht es dir? Wie geht es deinem Vater? Wie dem Bruder? Bist du verheiratet? Hast du denn inzwischen Kinder? Was arbeitest du denn? Kann man davon leben? Wieso bist du gerade auf dem Dorf? Wie oft hast du Sex?“ Man muss solche Höflichkeit natürlich erwidern und Antwort geben („fünf- bis sechsmal am Tag“), aber flunkern sollte man schon dabei. 
Bei M. ist das nicht nötig, denn er führt ein Gespräch und kein getarntes Verhör. Er heuchelt auch keine Anteilnahme, die eigentlich nur verkappte Neugier oder Aushorchen ist. Nein, angesichts tragischer Geschichten ist er ernsthaft betroffen. Antipathien sind bei ihm wohlbegründet. Dabei hat er ein Gedächtnis wie ein Elefant. „Mit diesen eingebildeten Spacken könnte ich nie und nimmer einfach so herumstehen wie mit dir und quatschen. Obwohl sie meine Nachbarn sind.“ Er arrangiert sich mit den Spacken, weil er seit Jahr und Tag im Dorf mitten unter ihnen wohnt, er nickt ihnen beim Vorbeifahren zu. Viel mehr aber auch nicht. Sympathien hingegen sind von totaler Selbstverständlichkeit, Großherzigkeit und uralten Bindungen geprägt. Vollkommen unverstellt und unironisch. „Der P., der kann doch nicht mal mehr lachen. Musst du mal drauf achten, der kann einfach nicht mehr lachen. Wir beide, wir können doch wenigstens ab und zu noch lachen, oder nicht?“ Da fährt gerade meine Cousine vorbei und winkt uns heiter strahlend zu. „Ja, die kann auch noch lachen“, sagt er. 
Dann drängelt sein Sohn, den er zur Musikprobe fahren muss. Ohne das hochheilige Versprechen, am Sonntag beim Dorffest ein Bierchen mit ihm zu trinken, komme ich nicht weg. 
Eine Stunde im Jahr mit M. reicht aus, um zu erkennen, dass die Dinge des Lebens eigentlich ganz einfach und unneurotisch sind.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Viez süß-sauer

Gestern Abend wurde zusammen mit Herrn J. beim Klimmes mal die Qualität des diesjährigen Viez getestet. Sowohl die des süßen, nichtalkoholischen, wie die des sauren, alkoholischen. Eine schöne Kombination. Vom sauren Viez wird man besoffen, vom süßen kriegt man die Scheißerei. Ich bewundere Leute wie Herrn J., die danach noch Autofahren. Aber ich hatte einen sauren Viez mehr und darf deswegen behaupten, besoffener gewesen zu sein. Natürlich war das nichts im Vergleich zu früher, als man noch wusste, wie das Wort „Ekstseß“ buchstabiert wird. Heute geht unsereiner um 22 oder 23 Uhr in die Heia und ist froh drum. 
Natürlich war die Sitzung nicht nur geprägt von Lallen und Blähungen, sondern es wurden desillusionierende Analysen angefertigt, in denen sich der süß-saure Charakter des Viez letztlich widerspiegelte. Über unsere neurotische Epoche des Gruppenkuschelns und des Pubertär-Romantischen, über die sich verengenden Fahrbahnbegrenzungen, das aufgeblasene Nerdtum allüberall, die notorisch beleidigten Kreativen und die Zeilenhonorare (18,47 € für einen Dreispalter). Mit zunehmendem Alter, zunehmender Professionalisierung und zunehmender Ignoranz entwickelt man einen wunderbar pointierten Welthass, der die olle Pumpe am Leben erhält. Ich habe mich entschieden, Herrn Js jüngsten Werbeklopper fortan stärker in Betracht zu ziehen: „Männer müssen nach draußen.“

Samstag, 15. Oktober 2011

Retrospektive, Zwischenstand

Ich konnte mich nicht beherrschen und habe mir aus der Halloween-Schütte Plastik-Vampirzähne gekauft. 0,49 €. 
Die kleine Hammer-Productions-Retrospektive läuft weiter. Bisher ist von den Klassikern der Kindheit Dracula: Prince of Darkness der straffste und überzeugendste. Von den damals nicht gesehenen, weil nicht gesendeten Filmen ist vor allem der popkulturell bedeutsame Captain Kronos – Vampire Hunter zum Niederknien hip. Plüschig-sensibel gerät der homoerotische The Vampire Lovers. Tough und progressiv sind die beiden ersten Quatermass-Filme aus den 50ern. Der dritte Teil, ein Endsechziger-Produkt, ist noch auf dem Weg von Britannien hierher, und ich kann es kaum erwarten, Andrew Keir, den robusten Abt aus Dracula: Prince of Darkness, in der Rolle des Action-Wissenschaftlers Quatermass zu sehen.

Dienstag, 11. Oktober 2011

Retrospektive

Wenn der Wind durch die Schluchten pfeift, einem auf dem Balkon die Kastanien auf die Birne knallen, es zwischendurch sogar einen Quasi-Wintereinbruch gibt und man(n) sich vorsorglich auf die Suche nach der langen Unterhose begibt, ja, dann sollte der Mensch sich heimelig zusammenrollen und sich mit Behaglichkeit umgeben.
Aus diesem Grund habe ich bei der deutschen und der britischen Filiale eines bekannten Internethändlers schüttenweise kostengünstige DVDs bestellt. Allesamt knuddeliges, antiquiertes Gruselzeug, das nun schrittweise auf dem Filmblog nebenan einer Retrospektive unterzogen wird. Die Abfolge gehorcht keiner bestimmten Ordnung, sondern erfolgt nach Lust und Laune und in (bisher) hoher Frequenz. Bald sind alle aufgeguckt, und die nächste Fuhre muss her. Damals war man Beschränkungen unterworfen und lernte Demut und Bescheidenheit. Aber heute, im Zeitalter der Fülle, darf man ruhig mal auf die Kacke hauen. Sattfressen statt Brosamen sammeln.
Die alten Filme der britischen Produktionsgesellschaften Hammer und Amicus sowie einiger Italiener erinnern Burschen meiner Generation an den schwer zu definierenden Punkt, an dem Kindheit in Jugend umschlägt. Wo man sich noch angemessen änstigt, aber zugleich anfängt, das Gesehene zu interpretieren und zu analysieren – und auch, die Filme zu komplettieren, soweit das damals möglich war. Es gab eben nur Kino und Fernsehen, sonst nichts. Und im Kino bekam man in dem Alter nur Disney oder Bud Spencer zu sehen. Irgendwann wurde man deswegen ein bisschen rebellisch und setzte durch, bis spät in die Nacht hinein Fernsehen gucken zu dürfen.
Das alles ist untrennbar verbunden mit der alten ZDF-Reihe „Der phantastische Film“ und ihren Fernsehpremieren klassischen Gruselguts. Der genialische Vorspann von Heinz Edelmann sollte eigentlich jeder DVD vorangestellt werden, um dieses Gefühl zu rekonstruieren, das mit „banger Erwartung“ nur unzureichend umschrieben ist.



Freitagabends nach der Probe des Musikvereins, spät, allein im elterlichen Wohnzimmer, alles dunkel. Es läuft noch die Kultursendung aspekte – laaangweilig, aber man kriegt es kaum mit, weil ja gleich … ja, gleich kommen die Vampire. Schwarzweißfernseher, schlechter Empfang, besonders im Zweiten. Mutter und kleiner Bruder schon in den Betten, Vater noch beim Kegeln. Und dann endlich der Vorspann, man kriegt kurzzeitig das Bibbern und erstarrt dann in Ehrfurcht. So geht das jede Woche, bedauerlicherweise macht die Reihe jedoch längere Pausen, um neue Filme heranschaffen zu können. Über den Bildschirm flackern Dracula und anderes Gelichter, es gibt Reißzähne in Großaufnahme, glimmende Vampiraugen, unzüchtige Dekolletées, in Flammen stehende Burgen, finsteren Tann, künstlichen Nebel, Hintergrund-Paintings und kreischende Soundtracks. Und unerhörte Grausamkeiten von ausgewiesener Eleganz. Morbid und faszinierend, den Grundfragen des Lebens nachforschend: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Warum verwesen wir so schauerlich? Hat Caroline Munro eigentlich einen Freund? Warum haben die Mädchen aus meiner Klasse nicht solche Dekolletées?

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Wildwest

Eine meiner Cousinen heiratete und zog das Fest unter dem Motto „Wildwest“ auf. Auf dem Platz vor dem Pfarrhaus wurde ein Zelt errichtet, die Inneneinrichtung gemahnte an einen Saloon, weiter hinten war es mehr so Pferdestall mit Stroh und Heu. Mein Bruder machte den DJ, fand aber keinen Gefallen an Country-Musik und sattelte mittendrin um auf Soul, dann auf irgendein urbanes Techno-Zeug. Sein Kumpel Holger trat dazu als Poledance-Tanzmaus auf, in knallrotem Ganzkörper-Latex. Er hatte sich im Motto geirrt. 
Die Mädels an der Theke waren als Pioniersfrauen gekleidet, aber nicht recht auf Zack. Ich bestellte ein Bier und bekam Tee in einer Blechtasse, in der noch der aufgeplatzte Teebeutel schwamm. Auf meine Reklamation hin bekam ich Moselwein mit einem Schuss Tabasco. An der Bretterwand hinter der Theke hingen Covergirls der „Neuen Revue“ mit blanken Hupen. 
Draußen gab es Hufeisen-Werfen, Klapperschlangenfangen und Blechbüchsen-Schießen mit echten 45ern und Winchesters. Die Fassade des Pfarrhauses sah danach aus wie Berlin im April 45. Ein Kind wurde von einer Schlange gebissen, und der Ortsbürgermeister, verkleidet als Doc Holliday und hauptberuflich tätig bei der Bundespolizei, saugte die Wunde aus und rettete ein junges Leben. 
Einige der Gäste waren hochinteressant. Da kam dieser ausgesprochen authentisch aussehende Cowboy rein ins Zelt, wettergegerbt, Riesenschnurrbart, ständig Kautabak spuckend und unverständlich murmelnd und fluchend. Er grabschte sturzbesoffen die Pioniersfrauen an und versuchte ständig, ihnen seine Zunge ins Ohr zu stecken. Es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass unter der Maske der Herr Pfarrer steckte. Großes Hallo! Als er mit seinem Colt auf die Äpfel im Pfarrgarten zielte, traf er aus Versehen eine Kuh. Vielleicht auch nicht aus Versehen. Jedenfalls wurde die Kuh gleich aufgespießt und zum Garen übers Feuer gehängt.
Eingeladen war auch Burt Reynolds, was ein bisschen verwunderte, weil er ja nicht unbedingt als Westernheld berühmt geworden war. Yul Brynner hätte ich besser gefunden. Burt kam schon völlig besoffen aus dem Hubschrauber (landete auf dem Sportplatz) getorkelt und war offenbar nur wegen des Geldes hier. Irgendwann machte er sich sogar nackig und schubste Holger von der Stange. Mein Bruder stellte derweil um auf Gilbert Becaud, während die Pioniersfrauen Burt ankreischten und sich gegenseitig ihre Korsagen lockerten. 
Später am Tag gab es einen Angriff von Indianern auf Fort Laramie. Sie wurden gespielt von den diesjährigen Kommunionkindern, der Kirchenchor verkörperte die US-Kavallerie. Nicht ganz authentisch, weil 80% des Kirchenchors weiblich sind und 60% über siebzig. Burt Reynolds versaute es, als er besoffen eine Petroleum-Lampe aus dem Baumarkt gegen die Palisaden von Fort Laramie warf und die ganze Bude abfackelte. Die Freiwillige Feuerwehr kam zu spät, weil sie erst aus ihren Galeerensklaven-Kostümen in ihre Einsatzkleidung schlüpfen musste. Auch sie hatten sich offenbar im Motto geirrt. 
Als ausgerechnet ich dann den Brautstrauß fing und Pioniersfrau Irmgard mir lüstern zublinzelte, wachte ich mit einem Schrei auf.

Dienstag, 4. Oktober 2011

Alle tot


Gestern auf Arte die restaurierten Nibelungen gesehen. Viereinhalb Stunden, und am Ende sind alle tot. So muss das sein. Ziemlich zu Anfang, als Siegfried sich dem (eher niedlich geratenen) Drachen nähert, ruft neben mir die Gemahlin der Bestie zu: „Lauf weg!“ 
Ausschnitte und Passagen waren mir bekannt, aber nicht das ganze Ding, nicht der Rhythmus. Es ist ein ziemlicher Schlauch, aber es zieht einem die Schuhe aus. Die halbe Nacht davon geträumt. Man muss nach den endlosen Schnittgewittern der Gegenwart und der CGI-Inflation das Sehen neu erlernen. Die Netzhaut abspülen. Dazu eignet sich dieser Blockbuster der Zwanziger vorzüglich. Art-Deco-Mittelalter von massiver Strenge trifft auf wuselndes Hunnen-Chaos. Frühe Comic-Ästhetik, wie später auch bei Metropolis, und die Hunnen als Ahnen der Orks, nur noch hässlicher, aber irgendwie auch sympathischer. Künstlichkeit trifft auf Natur. Es wurden seither vermutlich zahllose filmwissenschaftliche Seminare darüber abgehalten. In den Zwischentexten werden den Figuren signalhaft Wappentiere zugeordnet. War mir zum Beispiel neu. Jede Einstellung ist ein in Bewegung geratenes S/W-Gemälde mit orangebrauner Einfärbung. Was für ein Aufwand, was für eine Geometrie, was für eine dräuende tiefdeutsche Schwere, was für eine Unbedingtheit. Der Endkampf setzt immer noch Maßstäbe, und Kriemhild ist die unbedingteste Rächerin der Filmgeschichte. Eine kleine menschliche Regung gönnt sie sich beim Tod Giselhers, ansonsten nur elfenbeinerne Rächermaske. Brrr.