Dienstag, 11. Oktober 2011

Retrospektive

Wenn der Wind durch die Schluchten pfeift, einem auf dem Balkon die Kastanien auf die Birne knallen, es zwischendurch sogar einen Quasi-Wintereinbruch gibt und man(n) sich vorsorglich auf die Suche nach der langen Unterhose begibt, ja, dann sollte der Mensch sich heimelig zusammenrollen und sich mit Behaglichkeit umgeben.
Aus diesem Grund habe ich bei der deutschen und der britischen Filiale eines bekannten Internethändlers schüttenweise kostengünstige DVDs bestellt. Allesamt knuddeliges, antiquiertes Gruselzeug, das nun schrittweise auf dem Filmblog nebenan einer Retrospektive unterzogen wird. Die Abfolge gehorcht keiner bestimmten Ordnung, sondern erfolgt nach Lust und Laune und in (bisher) hoher Frequenz. Bald sind alle aufgeguckt, und die nächste Fuhre muss her. Damals war man Beschränkungen unterworfen und lernte Demut und Bescheidenheit. Aber heute, im Zeitalter der Fülle, darf man ruhig mal auf die Kacke hauen. Sattfressen statt Brosamen sammeln.
Die alten Filme der britischen Produktionsgesellschaften Hammer und Amicus sowie einiger Italiener erinnern Burschen meiner Generation an den schwer zu definierenden Punkt, an dem Kindheit in Jugend umschlägt. Wo man sich noch angemessen änstigt, aber zugleich anfängt, das Gesehene zu interpretieren und zu analysieren – und auch, die Filme zu komplettieren, soweit das damals möglich war. Es gab eben nur Kino und Fernsehen, sonst nichts. Und im Kino bekam man in dem Alter nur Disney oder Bud Spencer zu sehen. Irgendwann wurde man deswegen ein bisschen rebellisch und setzte durch, bis spät in die Nacht hinein Fernsehen gucken zu dürfen.
Das alles ist untrennbar verbunden mit der alten ZDF-Reihe „Der phantastische Film“ und ihren Fernsehpremieren klassischen Gruselguts. Der genialische Vorspann von Heinz Edelmann sollte eigentlich jeder DVD vorangestellt werden, um dieses Gefühl zu rekonstruieren, das mit „banger Erwartung“ nur unzureichend umschrieben ist.



Freitagabends nach der Probe des Musikvereins, spät, allein im elterlichen Wohnzimmer, alles dunkel. Es läuft noch die Kultursendung aspekte – laaangweilig, aber man kriegt es kaum mit, weil ja gleich … ja, gleich kommen die Vampire. Schwarzweißfernseher, schlechter Empfang, besonders im Zweiten. Mutter und kleiner Bruder schon in den Betten, Vater noch beim Kegeln. Und dann endlich der Vorspann, man kriegt kurzzeitig das Bibbern und erstarrt dann in Ehrfurcht. So geht das jede Woche, bedauerlicherweise macht die Reihe jedoch längere Pausen, um neue Filme heranschaffen zu können. Über den Bildschirm flackern Dracula und anderes Gelichter, es gibt Reißzähne in Großaufnahme, glimmende Vampiraugen, unzüchtige Dekolletées, in Flammen stehende Burgen, finsteren Tann, künstlichen Nebel, Hintergrund-Paintings und kreischende Soundtracks. Und unerhörte Grausamkeiten von ausgewiesener Eleganz. Morbid und faszinierend, den Grundfragen des Lebens nachforschend: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Warum verwesen wir so schauerlich? Hat Caroline Munro eigentlich einen Freund? Warum haben die Mädchen aus meiner Klasse nicht solche Dekolletées?