Freitag, 21. Oktober 2011

Unverstellt

Eine der meistgeschätzten Personen im Dorf ist für mich heutzutage mein alter Kindheitsfreund M. Terminlich sehr nahe beieinander geboren, lokal sowieso. Gemeinsame Grundschule, gemeinsame Kindheit. Ich treffe ihn einmal im Jahr zufällig zum Plausch vorm Haus, wenn er die Tür zum alten Stall offen stehen hat und drinnen in der Werkstatt herumwurschtelt. Es wird dann so lange geplaudert, bis seine alte Mutter, seine Frau oder seine Kinder etwas wollen und das konspirative Treffen sprengen. Mitunter lassen sie sich stundenlang nicht blicken. 
M. ist ein großer, breiter Mann mit roten Wangen. Einer, der von seiner Hände Arbeit lebt und seine Familie ernährt. Ein Schrauber mit dreckigen Fingern. Er räumt gerade irgendwas auf. Das Händeschütteln will er erst verweigern, weil er mich damit ja auch dreckig macht. „Na und?“, sage ich und halte ihm und seiner Maschinenölpranke meine blassen Redakteursfingerchen hin. Das muss so. 
Es beginnt mit dem Thema Autoreparatur und TÜV, geht irgendwie über zu Handys, dann zum Thema Alter, wobei des Öfteren herzlich gelacht wird. Er meint, seine Frau hätte ihn neulich „altes Männlein“ genannt. Ich schlage ihm vor, mit „du altes Pony“ zu kontern. Dann wird noch über „Wer wird Millionär?“ geredet, und schließlich mäandert es in alle Richtungen. Zwischenzeitlich wird den Fahrern langsam vorbeirollender Autos oder Passanten zugenickt oder -gewunken. Sobald sie außer Hörweite sind, erfahre ich die neuesten Geschichten über sie. 
Und jetzt kommt Ms größte Stärke zum Tragen: das Desinteresse daran, sich zu verstellen, und seine daraus resultierende Grundehrlichkeit. Was er verbreitet, ist kein dahergeflüsterter Klatsch, sondern ausschließlich durch eigene Erfahrung abgesicherte Erkenntnis, die er dennoch in seiner natürlichen Bescheidenheit ständig als subjektiv bewertet. Es ist also alles mit Vorsicht zu genießen, sagt er, aber ich glaube ihm jedes Wort. Denn er hat wirklich kein Interesse an Übertreibungen und Skandalisierungen. Was als subjektiv gekennzeichnet wird, ist in Wirklichkeit so nahe an Objektivität, wie es nur sein kann. Das geht bei niemand anderem außer bei M. 
Es gibt bei ihm auch nicht die leiseste Note des auf dem Land recht beliebten Aushorchens, das als höfliches Nachfragen getarnt wird und doch gern ein bisschen weiter und indiskreter geht als nötig. „Wie geht es dir? Wie geht es deinem Vater? Wie dem Bruder? Bist du verheiratet? Hast du denn inzwischen Kinder? Was arbeitest du denn? Kann man davon leben? Wieso bist du gerade auf dem Dorf? Wie oft hast du Sex?“ Man muss solche Höflichkeit natürlich erwidern und Antwort geben („fünf- bis sechsmal am Tag“), aber flunkern sollte man schon dabei. 
Bei M. ist das nicht nötig, denn er führt ein Gespräch und kein getarntes Verhör. Er heuchelt auch keine Anteilnahme, die eigentlich nur verkappte Neugier oder Aushorchen ist. Nein, angesichts tragischer Geschichten ist er ernsthaft betroffen. Antipathien sind bei ihm wohlbegründet. Dabei hat er ein Gedächtnis wie ein Elefant. „Mit diesen eingebildeten Spacken könnte ich nie und nimmer einfach so herumstehen wie mit dir und quatschen. Obwohl sie meine Nachbarn sind.“ Er arrangiert sich mit den Spacken, weil er seit Jahr und Tag im Dorf mitten unter ihnen wohnt, er nickt ihnen beim Vorbeifahren zu. Viel mehr aber auch nicht. Sympathien hingegen sind von totaler Selbstverständlichkeit, Großherzigkeit und uralten Bindungen geprägt. Vollkommen unverstellt und unironisch. „Der P., der kann doch nicht mal mehr lachen. Musst du mal drauf achten, der kann einfach nicht mehr lachen. Wir beide, wir können doch wenigstens ab und zu noch lachen, oder nicht?“ Da fährt gerade meine Cousine vorbei und winkt uns heiter strahlend zu. „Ja, die kann auch noch lachen“, sagt er. 
Dann drängelt sein Sohn, den er zur Musikprobe fahren muss. Ohne das hochheilige Versprechen, am Sonntag beim Dorffest ein Bierchen mit ihm zu trinken, komme ich nicht weg. 
Eine Stunde im Jahr mit M. reicht aus, um zu erkennen, dass die Dinge des Lebens eigentlich ganz einfach und unneurotisch sind.