Eine kleine Knipserei im „Kronleuchtersaal“. Teil der Kölner Kanalisation auf der Grenze zwischen Altstadt-Nord und Neustadt-Nord. 1890 fertiggestellt als Meisterwerk der Kanalisationsarchitektur. Es wurden zum Einweihungstag feierlich zwei Kronleuchter angebracht, weil Wilhelm Zwo sich angekündigt hatte. Wilhelm Zwo kam aber nicht, sondern besuchte lieber seine Truppen auf der anderen Rheinseite. Blödmann. Ein Nachbau eines der Kronleuchter ist noch da, statt Kerzen gibt’s heute elektrisches Licht.
Die Lichtverhältnisse sind ein bisschen unberechenbar da unten, und es fehlte die Zeit, etwas mit der Kamera herumspielen zu können, aber für einen Eindruck reicht’s. Bedauerlich auch, dass es keine Geruchsfotografie gibt. Die Damen liefen die ganze Zeit mit Schals vor dem Mund herum, den Herren machte es offenbar nichts aus. Männer sind im Allgemeinen ja auch stolz auf ihre Exkremente.
Wie sympathisch! Da wurde ein neuer, 30sekündiger Ford-Werbespot mit „Master of the Universe“ unterlegt, und die Hawkwind-Fangemeinde steuert auf einen publizistischen Bürgerkrieg zu. Sofern man Facebook-Kommentare der Publizistik zurechnen darf.
Die eine Fraktion meint, es sei gut, dass die Musik ein größeres Publikum findet, und macht sich sogar Hoffnungen, die Jugend dahingehend erziehen zu können. Denn für die Jugend ist es völlig normal, dass sie ihr neues Ohrenfutter über Werbespots identifiziert – und für die Bands bedeutet es einen signifikanten Anstieg der Verkaufszahlen sowohl von MP3-Downloads wie auch ganzer CD-Alben. Solange der Spot der Jugend nur oft genug eingebläut wird.
Die andere Fraktion spuckt Gift und Galle und wirft der letzten echten Underground-Band der Welt vor, Ideale verraten und sich dem System angedient zu haben. Auto-Werbespot? O je. Die Band sei nun nicht mehr „moralisch besser“ als all die anderen Bands oder der Popstar von letzter Woche. Und überhaupt: Die Jugend interessiere das einen Scheiß. Zu beachten ist allerdings, dass die Band über den Werbespot lediglich informiert, nicht aber um Einverständnis gebeten wurde. Die Rechte des Stücks liegen nach wie vor bei der EMI. Geld gibt’s auch keines, und Titel und Interpret des Stücks werden im Spot nicht eingeblendet.
Ich selbst stehe der Sache indifferent gegenüber. Einerseits werden dreißig Sekunden eines monumentalen Psycho-Rock-Meisterwerks kontextlos zum Beliebigkeitsgedudel degradiert, andererseits berührt es, wenn diese vertrauten Klänge einen so unvermutet anspringen. Sympathisch finde ich aber auf jeden Fall den aus der Zeit gefallenen Disput zwischen Sozialpädagogen und Antikapitalisten, der uns an ideologisch verbindlichere Zeiten erinnert.
Die kubanische Heizung pluckert wie verrückt und ist jetzt regelrecht zu warm. Muss sie runterstellen.
Jawohl, sie funktioniert wieder. Und wie! Der Vermieter hat irgendwo einen schnauzbärtigen Typen namens Miguel aufgetrieben. Der klingelte bei mir, radebrechte ein bisschen auf Hispano-Deutsch, und ich schickte ihn in den Keller. Dort schuf er für die Heizung ein Wohlfühlklima und gab sich richtig Mühe. Er sang einer Vollversammlung der Relais die „Internationale“ auf Spanisch vor und reinigte Welle und Lager des Brenners zärtlich mit einem originalen Che-T-Shirt aus den Siebzigern. Danach spülte er irgendwelche Leitungen mit Cuba Libre durch und installierte kurz hinterm Brenner das Triebwerk einer alten SS-5-Mittelstreckenrakete, die noch aus der Kuba-Krise übrig geblieben war. Von Letzterem, so sagte er verschwörerisch grinsend, dürfen die Amerikaner natürlich nichts wissen, also: Pssst!
Der Trick bei kubanischen Heizungen ist, ihnen den Eindruck zu vermitteln, sie seien noch in Havanna und stünden im Dienst der befreiten Arbeiterklasse. Eine Handynummer hat Miguel leider keine hinterlassen, weil er den ganzen Winter über durch den ehemaligen Ostblock zieht, um versagende kubanische Heizungsanlagen zu kurieren. Er empfahl uns die Aufstellung eines Tischaltars mit Linkskitsch im Heizungskeller. Ich teilte ihm mit, dass ich oben im Schreibtisch noch gewisse Fotografien von Sahra Wagenknecht und Gesine Lötzsch in Unterwäsche habe, aber er lachte nur mit bebendem Schnauzbart, sagte, es müsste schon mindestens eine Trotzki-Büste sein, und zog von dannen.
Ich befand mich in der Progressive-Rock-Phase, erste Hälfte Achtziger, und war gerne bereit, diese Musik zu verteidigen gegenüber jenen, die den ProgRock als unerträglich kunstsinniges Salbadern charakterisierten und seine Adepten als Bildungsbürgernachwuchs, der sich für was Besseres hielt, weil er ELP analysieren konnte, aber von ordentlich schwitzendem Rock, rebellionsverheißendem Punk, dunkelmanischer New Wave und generationsprägendem Pop notorisch keine Ahnung hatte. Sie hatten natürlich recht, diese Kritiker, aber das war mir damals egal. Ich wollte auch ein bisschen kunstsinnig sein. Ein bisschen nur. Außerdem glaubte ich sowieso entdeckt zu haben, dass mir der etwas härtere Anschlag zusagte, der Moment, wenn ProgRock in Richtung prolligen Hardrock umkippt statt in Richtung Hochkultur.
Ich überprüfte damals auch die Kanadier hinsichtlich ihrer Relevanz. Unter Bürgersöhnchen war gerade das Trio Rush angesagt: Seine kunstvoll organisierte, virtuos eingespielte, aber auch ziemlich ruppige Musik hatte eine Konsensband zur Folge, die den Eindruck vermittelte, etwas Besseres zu sein, aber auch headbangerische Gelüste befriedigen zu können. Heute gilt Rush als die Nerd-Band schlechthin. Das begann damals, als kulturell ambitionierte und zugleich technologieverliebte Bürgersöhnchen, die sich zu Weihnachten ein Keyboard wünschten, die Band anzuhimmeln begannen.
Egal jetzt. Im Zuge meiner Kanada-Studien traf ich jedenfalls auf die Band FM und ihr Debütalbum Black Noise von 1977. Auch diese Band war ein Trio und bevorzugte eine etwas abweichende, elegische, sehr bewegliche Fusion aus symphonischem Melodic Rock, Spacerock und Jazzrock. Der erste Song, den FM auf Vinyl bannten, heißt „Phasors on Stun“ („Phaser auf Betäubung“), und er ist das schönste Musikstück der Welt. Einfach deshalb, weil er die lästige Erdenschwere aufhebt und einen sofort und unmittelbar in einen Zustand katatonischer Glücksseligkeit katapultiert, der nie aufhören sollte, es aber nach knapp vier Minuten bedauerlicherweise doch tut. Man ist erstmal erstaunt über diese Phase unbedingter Lebensfreude, die gar nichts anderes mehr zu kennen scheint als Lebensfreude, ehe man runterkommt, eine gewisse Traurigkeit ob des Verlusts verspürt und sich auf der LP auf die Suche nach weiteren solcher Momente begibt. Man findet sie, z.B. in dem instrumentalen Fusion-Irrsinn „Slaughter in Robot Village“ oder dem monumentalen Titelstück am Ende des Albums mit seiner perkussiven Grandeur, aber wie ein Junkie kehrt man zurück zum Opener „Phasors on Stun“, um dieses ästhetische, gravitationsverneinende Taumeln, auf das man in dieser Form völlig unvorbereitet war, noch mal zu erleben.
FM benutzen keine E-Gitarre. Die wird ersetzt durch Mandoline und Geige, an denen sich eine mysteriöse Kunstfigur namens Nash the Slash abarbeitet. Nash tritt bis zum heutigen Tag als Solist auf, bandagiert und mit Sonnenbrille wie „der Unsichtbare“ und mit Zylinder und Frack. Er ist eine kanadische Electro-Rock-Ikone. Als Mitglied von FM arbeitete er Mandoline und Geige als Trägermedien in die Rockmusik ein und benutzte sie nicht bloß als exotische Solo- und Nebendarsteller. Und zusammen mit Cameron Hawkins als Sänger, Bassist und Keyboarder sowie Martin Deller als Gottes eigenem Drummer destillierte Nash pure Schönheit.
„Phasors on Stun“: Nach dem flirrenden Mandolinen-Intro, untermalt von esoterischem Keyboardschweben und Drum-Akzenten, steigt ein steiler, weltabgewandter, nach oben zischender Melodic-Rock-Bogen auf, der einer Sehnsucht nach Weite und Schönheit Ausdruck verleiht, wie man sie selten gehört hat. Dabei scheint die Mandoline diesen technologischen Keyboard-Spacerock, diese Raketenantriebsmusik, aber im Folkloristischen zu erden. Ungewöhnlicher Sound. Auf Youtube hat jemand Videos von Jetflügen mit diesen Klängen untermalt. Und der Mann HAT RECHT.
Aber es kam natürlich, wie es kommen musste. Irgendwann hatte der Jungmann sich daran satt gehört, die Jahre schritten voran, Kleinbürgersöhnchen ging studieren, wollte jetzt selbst ein bisschen hip werden und hörte mit Vorliebe das, was die „Spex“ ihm und seiner Generation empfahl. Musste ja mitreden können. Kurzum: Ich habe „Phasors on Stun“ seit wohl mehr als 25 Jahren nicht mehr gehört. Dann lese ich vor kurzem, dass Cherry Red Records aus UK im Herbst den gesamten Katalog der Band FM neu und remastered auflegt. Und denke bei mir: „Muss ich auch mal wieder anwerfen.“ Natürlich erwarte ich eine Enttäuschung, vielleicht sogar einen Anfall von Schüttelfrost, wie so oft. Tatsächlich aber hauen mich die ersten Klänge des Mandolinen-Intros fast von der Sitzgelegenheit, und im Innern des gealterten Kleinbürgersöhnchens baut sich eine Spirale von regelrechter Kunstsinnigkeit auf, die sich immer schneller dreht, eine spiralige Sehnsucht nach – ja, was wohl? – nach Weite natürlich, nach stahlblauem Himmel und einem ordentlichen Triebwerksstrahl unterm Arsch, nach Mandoline! Fliege hoch, kleines Raumschiff!
Wie mir der Vermieter mitteilte, stammt unsere Heizungsanlage aus Kuba. Er bekam sie annodazumal durch Vermittlung des polnischen „Hausmeisters“ recht günstig. Nun ist Kuba sicher toll und eine Reise wert und so, aber die Kubaner sind keine ausgewiesene Heizungsbauernation, weil ihnen einfach die Heiztradition fehlt. Zudem ist die Anlage schon recht alt. Deswegen läuft sie zwar an, wenn sie eingeschaltet wird, ackert aber nur circa vier Stunden, ehe sie auf „Störung“ geht. „Die Relais, die Relais!“ Sie sind solch lange Arbeitsperioden, wie wir sie hier benötigen, nicht gewohnt, treten in den Ausstand und rufen „Gewerkschaft!“.
Monteure, die sich mit postrevolutionären kubanischen Heizungsanlagen aus den 1960ern auskennen, sind hierzulande schwer zu finden. Selbst in der Geschäftsstelle der Linken zwei Straßen weiter fand sich niemand. Die Praktikantin (rotgefärbte Haare, Stacheldraht im Gesicht) meinte, der Ludger könnte vielleicht helfen, aber der sei als Wahlbeobachter in Weißrussland gewesen und hätte noch ein Selbsterfahrungsseminar in Albanien drangehängt. Keiner wisse, wann er wiederkommt, und es würde niemanden verwundern, wenn er plötzlich in der Presse als albanischer Energieminister wiederauftaucht.
Nun ja, wir sind also momentan noch am Überlegen, wie es weitergeht. Jeden Tag kommen die ziemlich ratlosen Monteure und tauschen irgendwelche Relais aus. Aber die neuen deutschen Relais werden von den kubanischen Restrelais in einer (schein-)demokratischen Abstimmung mit angeblich 156% Wahlbeteiligung überstimmt, und nach vier Stunden Laufzeit ist wieder „Störung“. Unter anderen Umständen wäre das durchaus sympathisch (ich selbst arbeite auch selten mehr als vier Stunden am Tag), aber es wird doch langsam etwas schattig in den Wohnungen.
Der Vermieter verspricht für nächstes Jahr eine komplett neue Anlage. Er hat da ein Angebot aus Haiti an der Hand.
Ha! Der Vermieter hat unten im Keller den „Ein“-Schalter der Heizung gefunden. Er irrte schon seit Wochen da herum, murmelte vor sich hin, spuckte gelegentlich lautstark aus und drückte auf alles drauf. Lichtschalter, Waschmaschinenbedienknöpfe, Überlaufpumpe, Fernseh- und Telefonanschlussbuchsen, Stromsicherungen. Er betätigte sogar die Klingeln abgestellter Fahrräder, weswegen es zwei Tage lang aus dem Keller unaufhörlich klingelte. Zwischenzeitlich fasste er im Dunkeln in eine blanke Steckdose, erhielt einen Schlag und lag für drei Wochen nebenan im Krankenhaus der Barmherzigen Bettpfannen. Kaum genesen und wieder im Keller, rüttelte er an den Bretterverschlägen der einzelnen Kellerräume, sperrte sich versehentlich für drei Tage in einem davon ein und entdeckte beim Versuch, sich herauszugraben, einen 50-Tonnen-Blindgänger mit Säurezünder aus dem Zweiten Weltkrieg, weswegen für drei Tage das Viertel geräumt werden musste. Danach fand er den seit 1972 vermissten Mieter aus der Wohnung OG-2-rechts im Keller von OG-1-links, was wiederum allerhand polizeiliche Ermittlungen und Verzögerungen nach sich zog. Die Polizei fand weiter hinten, in der alten, versifften Sauna, ein Waffendepot der RAF von circa 1977 sowie genaue Pläne des Buback-Attentats mitsamt Nennung der Täter. Nachdem die Beamten mit der Beweissicherung fertig waren, stieg der Vermieter wieder runter und fing erneut an mit den Fahrradklingeln. Die Mieter schlugen sich derweil an die Stirn und verdrehten die Augen gen Himmel. Denn eins fand der Vermieter nicht: den Schalter für die Heizung.
Jetzt aber hat er ihn entdeckt, und es bleibt zu hoffen, dass er ihn auch als Heizungsschalter erkennt und nicht noch mal draufdrückt. Wenn er in drei Wochen nicht zurück ist aus dem Keller, gehe ich mal mit der Taschenlampe runter, ihn suchen.
In dem Buch, das ich gerade bearbeite, ist zwischenzeitlich die Rede von dem Luxemburger Henri Tudor, dem Erfinder des Akkus (luxemburgisches Patent: 1886). Ich hatte vage davon gehört, aber so richtig tiefgreifend bewusst war es mir bislang nicht: Der Erfinder des Akkus wurde im Südeifeldorf Ferschweiler geboren und verbrachte sein ganzes Leben im luxemburgischen Grenzdorf Rosport. Das liegt fünf Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt und ist heutzutage, eigentlich schon seit Generationen, ein Hauptanlaufpunkt fürs Betanken der Grenzländer-Autos.
Weiter oben im Dorf befindet sich das sog. „Tudor-Schlösschen“, das ich als Kind und Jugendlicher immer für irgendeinen skurrilen Sitz einer englisch-luxemburgischen Adelsverbindung hielt. Tatsächlich aber ist es die Villa des Unternehmers Henri Tudor, die inzwischen zu einem kleinen Museum umgebaut wurde. Die Tudor-Villa war eines der ersten Gebäude in Europa, das durchgehend mit elektrischem Strom versorgt wurde. In unserem Rosport! Man glaubt es kaum. Den Strom lieferte eine alte Mühle am Fluss Sauer, die zuvor tausend Jahre lang dem Trierer Irminenkloster gehört hatte, genau wie übrigens auch mein Heimatdörfchen und seine Bewohner, also ziemlich wahrscheinlich auch meine eigenen Vorfahren. Schon 1886 beleuchtete Tudor auch die einige Kilometer flussaufwärts gelegene Kleinstadt Echternach mittels zentraler Stromerzeugung. Was Echternach zu einem der ersten dauerilluminierten Orte Europas machte. Ich finde, die Luxemburger und die Grenzländer wuchern viel zu wenig mit diesem Pfund. Gerade angesichts der IT-Gesellschaft, die ohne Akkus noch auf Trommeln und Rauchzeichen zurückgreifen müsste.
Tudor unterhielt eine kleine Fabrik in Rosport, expandierte nach Belgien, Frankreich und Deutschland und vergab genau definierte Lizenzen zu Bau und Vertrieb seiner Blei-Akkus an andere Unternehmen. Die 1887 so entstandene deutsche „Afa“ (Accumulatorenfabrik Aktiengesellschaft) wurde zum Weltmarktführer für Batterien, auch wegen des kriegswichtigen Baus von Auto- und U-Boot-Batterien. Ab 1922 gehörte sie zum Firmenimperium des Günther Quandt, war heftig umstritten wegen der Ausbeutung von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg (Stichwort: Hannover-Stöcken) und wurde viel später zur VARTA.
Ich finde es durchweg erstaunlich, dass der Herr, der es mir ermöglicht, diesen kleinen Eintrag gemütlich und kabellos auf der Couch herunterzuschreiben, gleich von nebenan kam. Ich werde ihm beim nächsten Mal die Ehre erweisen und endlich mal seine dolle Villa besuchen.
Neues Programm von Wilfried Schmickler. Premiere. Richard Rogler und Volker Pispers sind auch anwesend. Entweder aus Solidarität oder aus Argwohn.
Schmickler weiß es zwar auch nicht, das aber immerhin sehr eloquent, und gegen Ende bietet er Lebenshilfe an und schlägt eine ganze Reihe kleiner anarchischer Akte vor, die zwar nichts beantworten, aber immerhin auf die Fragen hinweisen („Das kann doch nicht sein!“). Er ist der dunkel grollende, in Salven sprechende Mittelsmann zwischen der Kölner Südstadt, Johnny Cash und der großen und kleinen Politik. Und es ist immer wieder eine Freude, dem weichen Kern des raubeinig wirkenden Bühnenaktivisten auf die Spur zu kommen. Diesmal ist es vor allem eine kleine Variation von „Wandr’rers Nachtlied“, gewidmet verstorbenen Freunden, welche die Stille preist, aber dauernd von einem grellen Klingelton-Rap durchschnitten wird. Da ist echte Trauer im Spiel, und Wut. Überhaupt ist an Schmickler alles echt. Er ist der vielleicht authentischste Kabarettist der Nation, der auch im Privaten sehr engagiert ist, ohne drüber zu reden. Mit zunehmendem Alter bestätigt sich auch an ihm eine althergebrachte Lebensweisheit: Er wird weiser. Nachdenklicher sicher auch, aber keinesfalls milder. Die FDP hat er gefressen, sowieso, das ist bekannt. Die Piraten auch („da kann ja nichts schiefgehen“), das Führungspersonal der Linken watscht er in metaphernreichen Wortkaskaden ab, dass man den Kopf einziehen möchte („Eigenheim-Sozialist“, „Rosa-Luxemburg-Kleindarstellerin“, „grinsender Kugelblitz“). Er ergeht sich aber auch über die Allgegenwart des TV-Talks, über verhasste Popmusik auf jedem Pissoir der Republik oder die ständige Eventkultur, die unter anderem in der Flutung von Lüdenscheid mündet. Dazwischen das groteske Verlesen von Nachrichten mittels Assoziationsketten, die mythische Schlacht zwischen Prognostikern und Antignostikern und die Vorstellung seines neuen Buchs „Deutschland – ein Abwasch“, das nur aus leeren Seiten besteht, auf die jeder seine eigene Agenda schreiben kann, um dann beim Lesen auszurufen: „Endlich sagt mal jemand, was gesagt werden muss!“ Und er ist – so wie ich auch übrigens – froh, dass Pussy Riot kein Deutsch-Pop ist, denn dann hieße es in den Nachrichten: „Mösenaufstand im Arbeitslager“.
Schmickler ist immer eine Reise wert. Nun gut, bei uns dauert sie nur zwei Fußminuten, aber viele Leute nehmen weitaus längere Wege zum „Parkplatzparadies Neustadt-Süd“ (Schmickler) in Kauf, um ihn zu erleben. Zwei weitere Termine diese Woche, aber – klar – ausverkauft.
Eines der erklärten Lieblingsalben. Ein rumpelndes Ding, robust und „tight as an asshole“, wie der Lateiner sagt. Mitschnitte der Belfaster Abschiedskonzerte von 1980. Ursprünglich eine einzelne LP, auf späteren CD-Reissues gibt es noch den krachigen Bonustrack „Sword of Light“. Zu meiner Zeit, Anfang/Mitte der Achtziger, war schwer ranzukommen, denn die Platte war bereits gestrichen. Außerhalb Irlands kannte die Band kaum noch jemand, und die Zeit, als sie mit „Dearg Doom“ in Deutschland einen Chart-Hit hatte, lag mehr als eine Dekade zurück.
Nun, gegen Ende hatten sich in der Band zwei Fraktionen gebildet, die Traditionalisten („mehr Folkrock!“) und die Progressiven („nee, mehr Wave-Rock!“). Der unüberbrückbare Graben führte 1980 zur einvernehmlichen Trennung nach zehn Jahren. Zuvor ging man noch auf eine obligatorische Irland/Nordirland-Tour und bot den Leuten ein „Best of“.
Um ihre älteren, melodischen Folkrocker spielen zu können, musste die Band den wave-rockigen Charakter ihrer vorherigen Studiobemühungen zurückfahren und Horslips-Standardmaß anlegen. Und die etwas glatten, gefälligen Mainstream-Produktionen der letzten Studioalben spielten live ohnehin keine Rolle. Damals mag es anachronistisch gewesen sein, aber mit mehr als dreißig Jahren Abstand interessiert das keinen mehr. Tatsächlich ist The Belfast Gigs vollkommen zeitlos.
Die Plattegerät bedingungslos elektrifiziert und huldigt dem ruppigen Hardrock, der dem Sound stets innewohnte, wie nie zuvor. Da werden die Verstärker schon mal bis 11 aufgedreht. Ein Geschrubbe, das ohne weiteres die Phonstärken von Verwandten wie Thin Lizzy erreicht, aber noch keltischer, noch wirbelnder rüberkommt. Und die Verbindung von mythisch-pathetischem Gezwirbel, diesem Quasi-Fantasy-Sound direkt aus dem Feenkreis, mit jaulendem Rock ist enthusiastisch. Wenn Johnny Fean das Traditional „King of the Fairies“ mit einer vollkommen mitleidlosen Schweinerock-Gitarre ausstattet, über der sich Charles O’Connor einen wegfiedelt, bis die Finger bluten, dann darf man als Konsument getrost seine gesamte Mittelalter-Gothic-Metal-Gekröse-MP3-Sammlung löschen und durch diesen einzigen Track ersetzen. Und von den Live-Versionen von „Sword of Light“, „Blindman“ und „Dearg Doom“ haben wir da noch gar nicht gesprochen, bei „The Power and the Glory“ fehlen mir ohnehin die Worte.
Das fällt so heavy und rustikal aus, dass ich mich an die neuen Horslips noch nicht herantraue: Auf Live at the O2 von 2010 traten wiedervereinigte, etwas füllig gewordene Herren in der Dubliner Hochglanz-Arena an, um die nostalgischen Gefühle ihrer irischen Landsleute zu bedienen. Wurde allgemein gut aufgenommen, aber ich hege Zweifel, ob sie noch das Feuer von The Belfast Gigs unterm Keltenarsch haben.
Da der Verlag nun auf Facebook Werbung dafür macht, darf ich es sicher auch an dieser Stelle verraten: Im Oktober erscheint bei dotbooks ein kostenloses Promotions-eBook mit dem Titel Musik, die uns bewegt, in dem zahlreiche Autoren und Mitarbeiter des Hauses kurz und knackig ihren jeweiligen Lieblingssong umreißen und die Bedeutung, die er in ihrem Leben hat. Als Trüffelschwein und Kampfredakteur in dotbooks Diensten wurde ich hinzugebeten und aufgefordert, dem doch recht hohen Pop-Anteil der bisherigen Texte etwas Schwereres entgegenzusetzen. Und selbstverständlich dreht sich mein bescheidener Beitrag um Master of the Universe von Hawkwind und das Thema „Freuden des Eskapismus in Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses unter besonderer Berücksichtigung sinistrer Weltherrschaftspläne der Sozialpädagogen und des besten Gitarrenriffs aller Zeiten“. Näheres dann im Oktober.
Ich weiß noch, wie das war, als man damals den Vierzigsten nahen spürte, sich auf Friedhöfen beobachtet fühlte und es einem in die Knochen kroch: Du müsstest jetzt erwachsen sein. Oder um mit dem Dichter zu sprechen: „Every day is a long climb up to midnight, and from there a roll and tumble into sleep.“ Pessimisten sagten, von da aus hätte man eigentlich nur noch die Fünfzig fest im Blick. Und jetzt häufen sich die Fünfzigsten um einen herum. Gestern wieder. Es tröstet immerhin, dass man der Jubilarin diesmal guten Gewissens eine Karte mit einer „30“ vorne drauf hätte überreichen können und sie es generell locker nahm. Und dass eine Tante zur eigenen Gattin sagte, sie werde „jedes Mal jünger und hübscher“.
Es ist zwar noch ein Weilchen hin, ändert aber prinzipiell nichts an der Tatsache, dass man auf Friedhöfen öfter über die Schulter blickt und einem die Erkenntnis in die Knochen rieselt: Irgendwann, nicht mehr lange hin, dann bist du auch dran. Irgendwann wirst auch du fünfzig sein.