Montag, 19. April 2010

Magnetisches Zentrum

Ich hatte ganz vergessen, wie unverschämt dicht und expressiv dieser Golem doch ist. Welche Fülle von Details, welche mäandernde Anekdotenhaftigkeit, was für einleuchtende Metaphern. Meyrink hat diese Interdependenzen weder vorher noch nachher jemals wieder so hinbekommen, zumindest nicht über eine solche Distanz. Phantastik, Okkultismus, Psychoanalyse, Groteske, Expressionismus, ineinander gedreht, verträumt, berauscht, bedrohlich und gruselig. Die Entsicherung von Raum und Zeit in höchster Vollendung. Schweben zwischen den Erklärungsangeboten, radikal individualistisch. In den folgenden Romanen kommt das alles grobschlächtiger daher, obwohl der ähnlich strukturierte Walpurgisnacht phasenweise noch mal auf dieses Niveau gelangt, dabei aber härter, manischer, grotesker und hasserfüllter ausfällt.
Die kongeniale Golem-Lesung von Wolf Euba kommt mit dunklem Timbre, einem leicht süddeutsch rollenden „r“, mit großer Konzentration und noch größerer Hingabe an den Text. Als Leser von Meyrinks Gesamtwerk erkennt man im Roman ständig die magnetischen Zentren seiner Interessen, die alles an Symbol, an Charakter und an Erzählung um sich herum ballen. Man merkt, wie sehr der Text Mittel zum Zweck ist und dass alles Menschenwerk und damit auch alles Erzählen nur Symbol ist und Abbild höherer und innerer Einflüsse. Kabbalistische Symbolräume, aufgeladen mit geheimen Bedeutungen. Die Codesprache des Innersten Ichs.
Mit dem Wissen im Hinterkopf, wie oft Meyrink mit diesem ‚didaktischen mystischen Erzählen’ scheiterte, glimmt der Golem nur umso mysteriöser. Das ist nahe dran an Perfektion. Es haut einem die mühsam erlernte Ratio aus dem Gebälk.